Vor 30 Jahren schrieben Männer im Blaumann Tarifgeschichte: Stahlkocher, Automobilbauer und Druckererkämpften 1984 in wochenlangen Streiks den Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Heute, 30 Jahre später, ist die Speerspitze der Arbeiterbewegung überwiegend weiblich und trägt blaue, grüne und weiße Kittel. So sieht es zumindest in Berlin aus, wo sich derzeit 10.000 Krankenschwestern, Laborbeschäftigte und Ärztinnen und Ärzte auf den womöglich härtesten Streik in der Geschichte der Charité vorbereiten. Ihr Ziel: Sie wollen an Europas größter Uniklinik eine ausreichende Personalbesetzung erzwingen.
Ganz Deutschland schaut derzeit auf die Warnstreiks im öffentlichen Dienst. Die Gewerkschaft Verdi fordert, die Gehälter um einen Sockelbetrag von 100 Euro und zusätzlich um 3,5 Prozent zu erhöhen. An der Berliner Charité aber geht es um etwas anderes: um die Zukunft des Arbeitskampfs. Verdi streitet nicht für mehr Geld, sondern für bessere Arbeitsbedingungen. Ein Modell, das auch in anderen Branchen Schule machen könnte.
In Krankenhäusern ist die Situation besonders dramatisch: Die Arbeitsbelastung nimmt seit Jahren zu, das gefährdet nicht nur die Gesundheit des Personals, sondern auch die Sicherheit der Patienten. Verdi will daher eine Mindestbesetzung der Stationen per Tarifvertrag festschreiben. „Wir fordern, dass eine Pflegekraft fünf Patienten betreut, in Intensivstationen zwei und dass nachts niemand allein auf einer Station eingesetzt wird“, sagt Carsten Becker, Vorsitzender der Verdi-Betriebsgruppe. Derzeit versorgt eine Pflegekraft hier im Schnitt zwölf Patienten.
Personalmangel fast überall
Als die Gewerkschaft vor wenigen Tagen zum Warnstreik aufrief, hätte es beinahe geknallt. Diesmal sollte es nicht bei verlängerter Frühstückspause und Trillerpfeifendemo bleiben: Die Beschäftigten von mindestens zehn der achtzig Stationen standen bereit, den Dienst zu quittieren. Die Klinikleitung zog die Notbremse. Bis Ostern haben beide Seiten jetzt Zeit, einen Kompromiss zu finden. Kommt keine Einigung zustande, will Verdi in einer Urabstimmung entscheiden, ob gestreikt wird.
Die Klinik hatte sich zunächst quergestellt. Die Forderung nach einer Mindestbesetzung sei ein „unzulässiger Eingriff die unternehmerische Freiheit“, hieß es. Verdi konterte mit einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, das die Linksfraktion in Auftrag gegeben hatte: „Fragen der Personalbemessung“, heißt es darin, gehörten sehr wohl „zu den tarifvertraglich regelbaren Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen“ im Sinne des Grundgesetzes. Der Klinikvorstand lenkte schließlich ein – unter der Bedingung, dass Verdi ein Schlichtungsabkommen akzeptiert.
Das Problem der Arbeitsüberlastung trifft nicht nur die Charité. Von exklusiven Privatkliniken einmal abgesehen, leiden fast alle deutschen Krankenhäuser an Unterfinanzierung und Personalmangel. Während die Patientenzahlen seit der Jahrtausendwende um sechs Prozent stiegen, wurde das nichtärztliche Personal um fast zehn Prozent reduziert. Jahrelang hatte die Gewerkschaft versucht, das Problem politisch anzugehen. Gemeinsam mit den Klinikbetreibern gründete Verdi im Jahr 2008 das Bündnis „Rettung der Krankenhäuser“. Die Kampagne konnte das Thema zwar in der öffentlichen Debatte platzieren. Das Ziel, ausreichende Personalausstattung und Finanzierung per Gesetz vorzuschreiben, scheiterte jedoch im Bundestag.
Früher hätte Verdi wahrscheinlich weiter auf eine Änderung der politischen Großwetterlage gewartet. Doch mittlerweile sind Leidensdruck der Beschäftigten und die Wut an der Basis zu groß geworden. Im Jahr 2011 entschloss sich die Gewerkschaft deshalb, die Personalfrage zur Tarifforderung zu machen, also notfalls für eine angemessene Besetzung in den Arbeitskampf zu treten. Vorreiter bei dieser „Tarifbewegung neuen Typs“ ist die Charité Berlin.
Wenn das Vorgehen dort Erfolg hat, könnte es woanders kopiert werden, meint Steffen Lehndorff vom Institut Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg. Personalausstattung und Arbeitsüberlastung seien überall im Gesundheitswesen ein brennendes Thema für die Beschäftigten, weil diese Bereiche in den letzten zehn bis zwanzig Jahren unter einem enormen Rationalisierungsdruck gestanden hätten.
Für Jörg Wiedemuth, Tarifexperte beim Verdi-Bundesvorstand, scheint die Zeit jetzt reif. „Bei der Charité haben wir es versucht, weil das Thema Pflegenotstand inzwischen auch in der Öffentlichkeit angekommen ist“, sagt er. Die Charité sei für die Gewerkschaft ein „Pilotprojekt“. Die Probleme seien jedoch fast überall die gleichen – nicht nur im Gesundheitswesen. Fast jeder zweite Beschäftigte muss Abstriche bei der Qualität der Arbeit machen, weil sein Aufgabenpensum zu groß sei, heißt es im aktuellen DGB-Index „Gute Arbeit“. Die Studie wird seit 2007 jährlich erstellt. Arbeitsbedingungen sind wieder ein Politikum.
Völlig neu ist das Phänomen nicht. Schon beim Crimmitschauer Textilarbeiterinnenstreik 1903/04 ging es auch um die Frage der Maschinengeschwindigkeit. 1973 setzte die IG Metall in Baden-Württemberg nach drei Wochen Streik die „Steinkühlerpause“ durch: Akkordarbeitern stehen danach fünf Minuten Erholungszeit plus drei Minuten Pinkelpause pro Stunde zu. Die Regelung gilt bis heute als Meilenstein im Kampf für eine humanere Arbeitswelt.
Thema gewinnt an Bedeutung
Humanisierung der Arbeit hieß für die Gewerkschaften stattdessen vor allem Arbeitszeitverkürzung. Die Arbeitgeber reagierten mit Rationalisierung. Genau deshalb gewinnen bei den Beschäftigten seit einigen Jahren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, Stressprävention und besserer Personalausstattung an Popularität. Von Sommer Mai 2007 bis Juli 2008 beteiligten sich 180.000 Beschäftigte im Einzelhandel an Streiks, bei denen die Forderung nach einem besseren Gesundheitsschutz eine wichtige Rolle spielte. 2009 streikten 150.000 Kitaerzieherinnen mit ihren Gewerkschaften GEW und Verdi über etliche Wochen, um endlich einen „Gesundheitstarifvertrag“ durchzusetzen. Bei der Telekom wird seit Herbst über einen „Tarifvertrag zur Identifikation und Auflösung betrieblicher Überlastungssituationen“ verhandelt.
Auch wenn die übergroße Mehrheit der Arbeitskämpfe nach wie vor für mehr Lohn geführt wird, gewinnen Themen, die die Qualität der Arbeit betreffen, wieder an Gewicht. Es ist auch eine Reaktion auf den zunehmenden Effizienzwahnsinn, der viele Arbeitnehmer an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit gebracht hat. Dass diese Logik zumindest punktuell durchbrochen werden muss, scheint jetzt auch in den Strategieabteilungen der Gewerkschaftszentralen angekommen zu sein. Sollte Verdi an der Charité erfolgreich sein, könnte dies zumindest eine Trendwende einleiten. Denn wenn es an Europas größtem Uniklinikum funktioniert, kann dies eine Signalwirkung entfalten, die weit über Berlin hinausstrahlt.
Jörn Boewe und Johannes Schulten verfolgen seit Jahren die Entwicklungen der Gewerkschaften. Zuletzt porträtierten sie im Freitag den neuen IG Metall-Chef Detlef Wetzel
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