„In der Wahrheit leben“ nannte Václav Havel im verrotteten Sowjetsystem die Verpflichtung von Politikern. In der Wahrheit leben, das heißt heute: die Erkenntnis aussprechen, dass alle Dopingspritzen (weltweit zwölf Billionen Dollar) keine neue Wachstumswelle bringen, dass es ebenso teuer wird, die „Fluchtursachen an ihrem Ursprung“ zu bekämpfen, wie das Mittelmeer militärisch dicht zu machen, dass „grüner Kapitalismus“ ein Widerspruch in sich ist und einschneidende Veränderungen unserer Lebensweise anstehen.
In der Wahrheit leben: Eine Partei, die sich solchermaßen intellektuell ehrlich machte, hätte wohl nicht erst auf mittlere Sicht Erfolg. Denn unsere Gesellschaft ist an ökologischen, sozialen Initiativen, an genossenschaftlichen Experimenten und postkapitalistischen Enklaven ebenso reich wie an innovativen Energie-Ingenieuren, erfolgreichen Ökobauern, Bildungsreformern und konzeptioneller Intelligenz. Aber all diesen Aufbrüchen fehlt eine politische Speerspitze. Genau das wäre die Aufgabe einer wirklich modernen Sozialdemokratie: diese Aufbruchsenergien zu bündeln und politisch zuzuspitzen. Es müsste eine konservative Sozialdemokratie sein – konservativ im Sinne des sizilianischen Schriftstellers Tomasi di Lampedusa: Man muss sehr viele Regeln und Institutionen ändern, wenn das europäische Zivilisationsmodell noch eine Zukunft haben soll.
Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das hieße, neue Institutionen zu entwerfen, die das gesellschaftliche Gewebe verändern – im Interesse der vielen, wenn nicht der meisten Bürger. Studien schätzen, dass in den nächsten Jahrzehnten bis zu 50 Prozent der Arbeitsplätze wegautomatisierbar werden. Eine radikale Verkürzung der Normalarbeitszeit und eine Bildungsrevolution, die für die notwendigen Qualifikationen sorgt, könnte eine der ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung möglich machen: eine Dreizeitgesellschaft, mit guter Arbeit für alle und mehr Zeit für Familie und soziales Engagement.
Die Versorgung einer steigenden Zahl von Pflegebedürftigen, Dementen und Psychotikern kollidiert mit der Menschenwürde, wenn Krankenhäuser und Pflegeheime rentabel sein müssen. Die Pflege muss der Gewinnorientierung entzogen und zur öffentlichen Aufgabe werden. Das Privateigentum am öffentlichen Gut Boden hat zu Spekulation, unbezahlbaren Mieten und sozialen Wüsten in den Städten und zur Zerstörung bäuerlicher Existenzen auf dem Land geführt. Die neofeudale Zuteilung von Chancen wird zunehmend über die Privatisierung der Bildung angebahnt. Die Spaltung in verwahrlosende öffentliche Schulen für die vielen und staatlich subventionierte, privat betriebene Bildungsoasen für die wenigen muss gestoppt werden. Nötig sind Reformen, die den Raum der öffentlichen Güter und der Daseinsfürsorge erweitern und alles, was ein gutes Leben sichert, dem Markt entziehen. Ein aktiver Staat wäre die epochale Antwort auf eine Wirtschaft, deren Dynamik zunehmend als zerstörerisch erfahren wird.
Sozialdemokatie im 21. Jahrhundert: Das hieße natürlich auch mehr Europa. Ohne europäische Steuergesetze werden Google, Amazon, Facebook und Apple weiter von Steuerdumping profitieren. Ohne europäische Beschäftigungsinitiativen wird die Jugendarbeitslosigkeit auf Dauer gestellt. Ohne eine Europäisierung von Arbeitsrecht und Sozialpolitik werden alle nationalen Reformen an Grenzen stoßen.
Den Zukunftsstaat schaffen, so hieß die Parole der Sozialdemokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Parlamentarier wie August Bebel haben diese Vision konkret ausgepinselt. Aber ein Bebel des 21. Jahrhunderts wird gerade noch gesucht. Die SPD hat nur noch wenig mehr als 400.000 eingetragene Mitglieder. Ihr Kern sind nur rund 80.000 ämterorientierte Aktive: Funktionäre von Partei, Gewerkschaften, Verbänden; Kommunalbeamte, Sparkassendirektoren, Landräte, Schulräte, Bauamtsabteilungsleiter, die das Rückgrat des Staates bilden, ohne die nichts läuft.
Grundsätzliche Richtungsänderungen sind hier nicht zu erwarten, solange die Generation Schröder nicht in Rente geht. Das heißt aber auch: 80.000 Bürger, denen es nicht mehr reicht, ab und zu mit ein paar Klicks bei der Online-NGO Campact wirksam zu sein, könnten sehr schnell für eine Erneuerung des Personals sorgen – wie in den 1970ern schon einmal. Irreal? Warum erobern nicht die 18- bis 35-Jährigen den immer noch intakten Apparat? Dafür gibt es alle paar Monate eine neue soziologische Deutung: Der Konsumindividualismus lullt ein; die Singularitätsgesellschaft verhindert Solidarität; die Abstiegsgesellschaft zerreibt die Motivation; Institutionen mit Mitgliedschaft und Verbindlichkeit sind den Kindern der Erlebnisgesellschaft nicht cool genug; die Gier der Mittelschicht ist märchenhaft; die Medien der Aufmerksamkeitsgesellschaft zerstreuen die Wut. Und es geht den meisten immer noch besser als anderswo. Aber das wird vermutlich nicht so bleiben. Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert, das wäre der Versuch, die Erfahrung zu widerlegen, dass Institutionen und Mentalitäten sich nur nach Katastrophen umbauen lassen.
Kommentare 11
Und wieder eine Personadiskussion ! Ich denke nicht, daß August Bebel bei diesem Haufen prinzipienloser Funktionäre und Sesselkleber, der sich heute SPD nennt, seine politische Heimat sehen würde. Auf die Programmatik kommt es an und die konsequente Umsetzung dieser Programmatik !
Solange hier in diesem Lande und in der EU "die Wirtschaft" die Gesetze schreiben kann (zu Bebels Zeiten hieß das: die Diktatur der Bourgeoisie), solange ist kein sozialer Staat zu machen. Will die SPD als sozialdemokratische Partei überleben, so muss sie schleunigst von dem neoliberalen Unfug und den ihn tragenden Funktionären trennen.
Ein paar Lippenbekenntnisse hör ich wohl, und jetzt nach der EU Wahl wollen sie ja alle "grün" sein, aber irgendeine Initiative gegen die von FDPCDSU eingeführte Solarenergiedeckelung haben sie noch nicht zustandegebracht. Wenn man die Ansicht hat, daß 12€ Mindestlohn notwendig sind um wenigstens auf die Mindestrente zu kommen, dann muss man halt den Mindestlohn eben auf diese Große erhöhen (und zwar nicht am StNimmerleinstag).
Vielen Dank für die ausgezeichnete Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit!
Eine wirklich tabulose und in diesem Sinne rigorose Analyse sollte aus meiner Sicht aber noch einen weiteren Schritt zum zusammenfassenden Fazit machen: Auch die kapitalistische Marktwirtschaft (die Soziale Marktwirtschaft ist nur eine Spielart davon) hat auf ganzer Linie versagt. Es braucht jetzt ein neues, ein wesentlich klügeres System! Wie konnte man jemals nur in die Nähe der Idee kommen, dass ein System, das bereits in seiner Wurzel komplett asozial ist, auch nur annähernd für das Wohl möglichst vieler sorgen kann? Welche „ökonomische Esoterik“ hat dann darüber hinaus noch dazu geführt, dass erwachsene Menschen an das segensreiche Wirken einer unsichtbaren Hand glauben? Die Menschheit sollte sich spätestens jetzt endlich ehrlich machen, dass das so niemals funktionieren kann. Der ins Grenzenlose steigende Wohlstand der wenigen Gewinner und die leicht verbesserte Lebenssituation derer, die sich im Windschatten der Superreichen und auf deren reichhaltigeren Müllkippen rumtreiben ist ein Argument gegen und nicht (wie stets behauptet wird) für das System. Aber auch hier sind viele lieber Fans der unzähligen ökonomisch-spiritistischen Nebelkerzen.
Mit ihrer Geschichte hat es die Sozialdemokratie natürlich verdient, zu überleben und wieder zu erstarken. Dafür aber braucht es den grundsätzlichen Mut, obige Erkenntnisse zuzulassen, und wesentlich realistischere Zukunftsvisionen, als dies der diesbezüglich in Wirklichkeit äußerst rückwärtsgewandt wirkende Kevin Kühnert zu bieten hat.
„Kooperation wagen!“, müsste nicht nur auf den Plakaten der Sozialdemokraten stehen, sondern verinnerlicht und in der Praxis umgesetzt werden. Dafür aber bräuchte es Godesberg 21.0 und die diesbezügliche Einsicht und den Mut möglichst vieler. Das sieht aus heutiger Sicht wie ein Schritt in die endgültige Vernichtung aus, ist aber in Wirklichkeit der einzig denkbare Sprung in eine reale Zukunft.
Die Zeiten, in denen sich Politik stets nur kurzfristig an (eingebildeten) Wahlchancen orientiert, muss definitiv ein Ende haben. Von erwachsenen (= mündigen) Politikern kann und muss man erwarten, dass sie ihres Handwerks mächtig eine an der Wirklichkeit orientierte Vision entwickeln, die den Wähler mitzureißen vermag. Ohne die Kraft solcher Visionen in den Reihen der SPD säßen die Deutschen noch heute diesseits und jenseits der Mauer. Es war eben nicht Helmut Kohls Verdienst, der als Pfälzer sehr wohl verstanden hat, eine von anderen gepflanzte und später gereifte Frucht im richtigen Augenblick zu pflücken. Also sollte man auch heute den Sozialdemokraten zuzumuten, neue tragfähige Visionen zu entwickeln und ihnen auch als Wähler dabei helfen!
Da die unglückseligen Zeiten des Entweder-hier-oder-drüben endgültig vorbei sind, darf man sich nicht nur, sondern muss man sich sogar leisten, endlich über ein neues Wirtschaftssystem nachzudenken: zum Beispiel über eine ökologisch fundierte Kooperationswirtschaft, die es viel besser als bisher versteht, Eigen-, Fremd-, Gemein- und Universalwohl unter einen Hut zu bringen.
Ist das einmal geklärt, dann wäre es in der Tat hilfreich führende Sozialdemokraten zu haben, die Menschen diesbezüglich mitzureißen vermögen. Da man als Sozialdemokrat eben nicht an die Wiederauferstehung von August Bebel, Willy Brandt und Egon Bahr (er war der Kluge im Hintergrund) glaubt, braucht es jetzt in der Tat neue Stimmen.
Nunja – zumindest der »Spiegel« hat den neuen Bebel bereits gefunden: Kevin Kühnert, coverfotomäßig in Szene gesetzt als Bad Boy der SPD und fachgerecht untertitelt mit »Sprengkommando Kühnert«.
Was gefehlt hat in diesem Retro-Aufmacher à la 50er-Jahre war noch »Alle Wege führen nach Moskau«. Den neuen »Spiegel«-Titel mag man erheiternd finden. Nicht ganz so heiter ist die sich abzeichnende Fronde aller maßgebenden Leitmedien für den Fall, dass sich ein Linksbündnis mit programmatischer Ausrichtung wie im Artikel beschrieben formieren sollte. Fazit hier: Entweder kennen typische »Spiegel«-Leser keine Existenzsorgen. Oder aber das ehemalige »Sturmgeschütz der Demokratie« ist voll auf den Besitzstandswahrer-Modus seiner Groß-Anzeigenkunden eingeschwenkt und betätigt sich selbst als propagandistisches Sprengkommando an der Demokratie.
Wie auch immer: Der Bezug auf Bebel ist insofern nicht schlecht, als dass er die, nett gesagt, Veränderungsunlust der wirtschaftlichen Eliten auf den Punkt bringt. Sieht man von zwei Weltkriegen, der Niederschlagung der Novemberrevolution und einem gewissen Tausendjährigen Reich ab, hat sich seit den Zeiten Bebels in der Tat wenig geändert. Allerdings dürfte für die Zukunft ein »Format Bebel« kaum ausreichen – zumal auch Bebel zu seiner Zeit wenig Grundlegendes verändert hat und eher der Sparte der Gesinnungsethiker als der der Handlungsethiker zuzurechnen ist. Fazit so: Wirft man einen Blick auf das Beharrungsvermögen der besitzenden Kräfte, wären für die Zukunft Formate wie Fidel Castro und Che Guevara sicher zielführender.
Weitgehend uneingeschränkte Zustimmung zum zweiten Absatz Ihres Kommentars: Die Mär des Wirkens einer unsichtbaren Hand gehört auf den Misthaufen neoliberaler Lügen.
Allerdings greifen Sie m.E. zu kurz: zu bedenken ist, dass sich die SPD Zeit ihres Bestehens genau innerhalb dieser kapitalistisch orientierten Wirtschaftsordnung bewegt hat: Das Projekt SPD war der lange recht erfolgreiche Versuch, die Gier des Kapitals einzuhegen, ihm Aufstiegschancen, Bildung und einen gewissen Wohlstand für breitere Bevölkerungsschichten abzuringen. In Zeiten von geringem, bzw. Nullwachstum, gar zu erwartendem Negativwachstum (dämlicher Begriff, ein besserer fällt mir gerade nicht ein) aufgrund begrenzter Ressourcen (Stichwort ökologischer Fußabdruck) sind Zugeständnisse seitens des Kapitals, ob erzwungen oder angesichts "zufriedenstellender" Profite auch freiwilliger Art mit dem Ziel der Befriedung nicht mehr drin. In dieser Gesellschaftsform, die die o.g. Lüge zum Prinzip erhebt, sitzen nun mal die Eigner von Kapital und Produktionsmitteln am längeren Hebel.
Deshalb: weitgehender Widerspruch zum dritten Absatz: Ich halte Kühnerts Forderungen nach Vergesellschaftung nicht für rückwärtsgewandt, sondern über BMW hinausdenkend für richtungsweisend. Der neoliberale Wahn der vergangenen Jahrzehnte mit Privatisierungen in Bereichen, in denen es um die Sicherung der Lebensgrundlagen geht - öffentlicher Verkehr, Gesundheitswesen, Energieversorgung, Kommunikation etc. - hat uns in diese Sackgasse geführt. Vergesellschaftung heißt hier nicht mehr und nicht weniger als eine demokratisch offene Diskussion und Entscheidung über Sinn und Notwendigkeit von Investitionen unter der Prämisse, das dort investiert werden soll, wo es den Menschen dient und nicht der Kapitalakkumulation.
Zweifel an Ihrer Einschätzung, die SPD habe (allein) mit ihrer Geschichte ein Überleben verdient. Zu dieser Geschichte gehört eben, wie oben beschrieben, im Grunde von Anfang an die Akzeptanz einer von der Großbourgeoisie dominierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und damit zusammenhängend auch ihre unrümliche Rolle bei der Novemberrevolution, als sie sich unter Führung Eberts und seines Bluthundes Noske mit den bürgerlichen Kräften und der obersten Heeresleitung verbündete und den Spartakusaufstand blutig niederschlagen ließ und dabei auch die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts auf ihr Konto nahm. Dieser unrühmliche Teil der Geschichte gehört - auch SPDintern - kritisch aufgearbeitet. Die von der SPD am Ende der Revolution geschützten und danach wiedererstarkten bürgerlichen und kaiserlichen Eliten waren die entscheidenden Kräfte, die der folgenden Nazidiktatur den Weg bereiteten. Dass die SPD dann letztlich gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, war dann zu späte Einsicht.
Uneingeschränkte Zustimmung zum Lob an die SPD bei der Überwindung der deutschen Teilung, was die Ostpolitik Brandts betrifft.
Was dann 1998 folgte war die Aufnahme der bereits durch Schwarz-Gelb eingeleiteten neoliberalen Wende durch Rot-Grün. Um im Bild zu bleiben: Schröder ging mit dem gewendeten Schiff hoch an den Wind, nahm auf Steuerbordbug richtig Fahrt auf und führte das Schiff in einem langen Schlag mit seiner Agenda 2010 in Richtung dieses Sumpflochs Neoliberalismus mit deutlichem Versatz nach Steuerbord. In diesem Sumpfloch stecken wir nun fest und…
…Sie haben wohl Recht ohne die Hilfe der SPD kommen wir da scheinbar auch nicht wieder heraus. Allerdings, wenn überhaupt, dann nur mit einer, die endlich das böse Wort mit K benutzt und als das begreift was es ist: Eine Lüge, die die Menschheit und die Welt bis hierhin, an den Rand des Ruins nämlich, geführt hat und unbedingt auszumerzen ist. Leider kommt das Wort ausmerzen nicht ohne diese 4 Buchstaben aus.
Godesberger Programm 21.0: Das Godesberger Programm war der (endgültige) Friedensschluss der SPD mit dem Kapital. Ein schlechter Name für ein Programm, das den Erfordernissen dieser Zeit entsprechen soll.
"Die Mär des Wirkens einer unsichtbaren Hand gehört auf den Misthaufen neoliberaler Lügen."
Ich nehme das Bild des Misthaufens mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück: Mist kann ja immer noch als Dünger dienen um hochwertige Gewächse hervorzubringen. In diesem Bild gehören die Ideen des Neoliberalismus dann wohl eher auf den Haufen mit dem nicht recyclebaren Sondermüll.
Vielen Dank!
Ihre Detailkenntnisse bringen weiteres Licht in meine Aussagen.
„Weitgehend uneingeschränkte Zustimmung zum zweiten Absatz Ihres Kommentars“
In diesem Abschnitt mache ich unmissverständlich deutlich, dass ich (kompromisslos) für ein neues Wirtschaftssystem plädiere. Alle Absätze in Folge bauen auf dieser minimalen Maximalforderung auf.
Ja, ich sehe die Zukunft der SPD nur dann, wenn sie jetzt (endlich) dazu bereit ist, den vollständigen Schritt aus dem heutigen System hinaus zu machen. Und genau in diesem Sinn springt auch ein Kevin Kühnert viel zu kurz. Mensch und Natur haben nicht mehr die Zeit, dass halbherzig auf Nebenkriegsschauplätzen Zeit und Energie verschwendet wird. Gebraucht wird ein komplett neues System und dieses muss als solches auch gefordert werden. Dieses auf Begriffe aus vergangenen Zeiten zu reduzieren ist aus meiner Sicht wenig zielführend, eher viele Menschen verstörend.
Als gebürtiger Bonner und in der Nachbarschaft von Willy Brandt sozialisierter Mensch erschien mir aus privaten nostalgischen Gründen eine Widerbelebung des Godesberger-Begriffs naheliegend. Aber Sie haben Recht. Es geht eben nicht mehr um die Implementierung der Sozialdemokratie in das vorherrschende System, sondern genau um das Gegenteil: den klaren Ausstieg. Man könnte alternativ den Begriff Petersberger-Programm wählen. Von dort aus hat man einen wunderbaren Ausblick über Bad Godesberg.
Nachtrag:
Ich möchte dem nicht widersprechen, was die Notwendigkeit zur Geschichtsaufarbeitung angeht. Aber dies betrifft die „Linke“ mindestens im gleichen Maße. Ich möchte nicht der Richter sein, der darüber zu urteilen hat, wessen Schuld an der Machtergreifung Hitlers größer war. Die moskauhörige KPD betitelte eine mögliche Koalitionsregierung unter Beteiligung der SPD als „tausendmal schlimmer als eine offen faschistische Diktatur, die einem geeinten, zum Kampf für seine Interessen entschlossenen Proletariat gegenüberstehen würde", so KPD-Führer, Ernst Thälmann. („Das revolutionäre Russland in der Welt“, Abraham Ascher, 22.10.2007, bpb.de)
Welch ein katastrophales Beispiel für besessenen Dogmatismus! Am Ende blieben im Reichstag nur SPD-Abgeordnete als zu wenige Widersacher Hitlers übrig.
Ich denke auch, dass diese Aufarbeitung auf beiden Seiten notwendig ist. Allerdings haben wie gesagt das Vorgehen der SPD unter Ebert und Noske und die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht die Radikalisierung der KPD gefördert und es den Kommunisten in Moskau und eben auch Thälmann leicht gemacht sie später als Sozialfaschisten zu diffamieren, wobei ich auch Thälmanns Rolle nicht beschönigen will: er hat die KPD auf moskautreuen Kurs gebracht. Wie dem auch sei, diese Aufarbeitung können wir hier nicht leisten. Eine Ergänzung jedoch noch der Gerechtigkeit halber: Dass lediglich die Abgeordeneten der SPD, was man ihnen angesichts der Bedrohung durch die Nazis nicht hoch genug anrechnen kann, gegen das Ermächtigungsgesetz stimmten, lag daran, dass die Mandate der Kommunisten annulliert und die Abgeordneten selbst schon größtenteils in Haft oder im ausländischen Exil waren.
Die Zukunft der SPD, da stimme ich zu, ist nur nach einem Ausstieg aus diesem System vorstellbar. Allein die Bereitschaft dazu sehe ich nicht: Man kann sicherlich auch über Kevin Kühnerts Stellungnahme streiten. Dass das Reizwort Vergesellschaftung derart verschreckend auf SPD Granden wirkt, und zwar nicht nur auf die üblichen Verdächtigen, wie einen Johannes Kahrs, der gleich seinen Parteiausschluss fordert (war da nicht mal sowas mit einem gewissen Herrn Sarrazin?), sondern auch auf vermeintlich Linke, wie einen Ralph Stegner oder auch auf die ehemalige Vorsitzende der Jusos und neuerdings auch der SPD Andrea Nahles, ist schon bezeichnend. Wo sind die Stimmen in der SPD, die diesen Systemwandel (man muss ihn ja nicht gleich so nennen, ist ja gefährlich, siehe "Vergesellschaftung") fordern?
Zur Begrifflichkeit: Mir schwebt eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vor, in der gerade auch wirtschaftlich bedeutsame Entscheidungen demokratisch legitimiert getroffen werden und nicht z. B. ein Herr Benko, weil er gerade über das Kapital verfügt und von den Banken gestützt wird, mal eben über das Schicksal tausender Kaufhofmitarbeiter*innen entscheidet oder eben eine Erbengemeinschaft Quandt über das der Mitarbeiter*innen von BMW. Wenn Kühnert dies als Vergesellschaftung bezeichnet, habe ich damit kein Problem. Ich habe auch keins, wenn mir jemand einen besseren Begriff vorschlägt.
"Mir schwebt eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vor, in der gerade auch wirtschaftlich bedeutsame Entscheidungen demokratisch legitimiert getroffen werden ..."
Ich gebe Ihnen Recht. Es braucht auch ein Upgrade der Demokrate.
Eines fällt doch jedem auf:Allen SPD-Granden, die die verschiedenen GroKos befürwortet hatten, haben damit Erwartungen verbunden, dass die Mitarbeit in der Regierung der SPD gut tun wird, dass die Wähler dies honorieren werden! Denn die SPD hatte zweifelsohne eine Reihe von guten Projekten durchgesetzt, wenn auch zu häufig von der Union verwässert! Alle GroKo-Befürworter in der SPD haben sich wieder und wieder - grandios - getäuscht. Ihre Vorhersagen hatten keinen Bestand. Gewisse Realitäten - z.B. Art und Umfang der Zusammenarbeit in der GroKo - wurden offensichtlich einfach ausgeblendet! Stattdessen wurden parteiinterne Gegner einer GroKo als ständige Nörgler, Schwarzseher, etc. in die Ecke gestellt. Aber deren Vorhersagen, insbesondere über die Wahlergebnisse, wurden wieder und wieder grandios bestätigt! Ach, bevor ich es vergesse: das oberste Führungspersonal wurde auch jeweils ausgetauscht! So auch jetzt wieder Andrea Nahles! Und die immer wieder versprochene Neuausrichtung ist in ihren Anfängen steckengeblieben.Was läuft da grundsätzlich schief in der SPD?Eigentlich eine einfach zu beantwortende Frage!Ich bin dennoch überzeugt, dass es auch künftig, mehr denn je, eine - erneuerte - SPD braucht! Ich sehe weit und breit keine andere Partei, die sich endlich einmal den 42 % Abgehängten umfassend widmet und diese nicht immer mit Almosen abspeist bzw. ruhig stellt.Lesen Sie auch meinen Beitrag zu einem erneuerten Narrativ für die SPD:https://www.freitag.de/autoren/sigismundruestig/ein-erneuertes-narrativ-fuer-die-spd
Sie haben Recht, das ist wirklich ein Kunststück. Und die SPD versucht immer noch, was in Zeiten hemmungslosen Wachstums ihr Erfolgsmodell war, nämlich vom großen Kuchen, der größer wurde, je mehr Stücke man abschnitt, ein bischen an die große Mehrheit zu verteilen. Diese Zeiten sind vorbei und keiner - in der SPD - hat´s gemerkt. Bei sinkenden oder gar ausbleibenden Wachstumsraten infolge zur Neige gehender Ressourcen tendiert die Bereitschaft des Kapitals einen Teil des Mehrwertes zwecks Befriedung abzutreten gegen Null.
"Die neue konsumkritische soziale Bewegung ist längst unterwegs. Die Sozialdemokratie sieht, wenn überhaupt, ihre Rücklichter."
Also diese Bewegung, die eine nennenswerte Diskurshegemonie besitzt, sehe ich noch nicht. Oder sind die schon weg und ich hab sie verpasst? Vielleicht war ich zu lange in der SPD? Die Grünen können doch nicht gemeint sein. Die wollen uns doch immer noch erzählen, dass wirtschaftliches Wachstum weitergehen kann, ohne dass die Ressourcen dieses Planeten komplett ausgeplündert werden. Es gibt aber keinen grünen Kapitalismus! Kapitalismus ist toxisch! Auch in Kretschmannland!
Nun ja, wenn ich sie verpasst habe, Asche auf mein Haupt, "Wer zu spät kommt,..."
Sollte diese Bewegung tatsächlich aber erst im Kommen sein, wäre ich gerne ein Teil von ihr, selbst um den Preis, dafür wieder in die SPD eintreten zu müssen, was ich jedoch für extrem unwahrscheinlich halte. Ach Jaaa.....
https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-04/kapitalismus-demokratie-ungleichheit-globalisierung
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