Wer an Nine Eleven denkt, erinnert sich an eine Filmsequenz von Flugzeugen, die in Türme hineinkrachen, Stockwerke die in sich zusammenstürzen, hinein in Rauchwolken und brennendes Kerosin. Wie kaum ein anderes Ereignis vermittelte sich der 11. September 2001 durch bewegte Bilder, die ästhetisch und symbolisch eine derartige Wirkung entfalteten, dass bei aller höchst gegensätzlicher Interpretationswut eins unbestritten ist: Die Attacke war, mehr noch als der Anschlag gegen Material und Menschenleben, ein Bild. Das Wahrzeichen kapitalistischer Macht, perforiert von einem Kamikazeflieger.
Die Bildidee stand sehr wahrscheinlich vor dem Ereignis. Der zeitliche Abstand zwischen dem Sturz des ersten Flugzeugs in den südlichen Turm und dem Crash des zweiten betrug zwanzig Minuten - 15 Minuten benötigt ein amerikanischer Ü-Wagen, samt Kamerateam.
Nine Eleven war in vielfacher Hinsicht ein Kriegsbeginn - und wesentlich wird er über Bilder geführt. Wer immer Urheber der symbolisch aufgeladenen Sequenz war, die amerikanischen Medien bemächtigten sich ihrer, indem sie die alleinige Deutungsgewalt übernahmen, die Gesichter aller mutmaßlichen Feinde Amerikas mit dem Terror gleichsetzten und mit den Bildern maximaler eigener Verwundbarkeit verschnitten. Die Endlosschleifen, in denen sie über Bildschirme flimmerten, erinnerten in ihrer Suggestivität und immerwährenden Wiederholung an Videoclips. Sich ihnen zu entziehen, war kaum möglich.
Dass Macht und Gewalt über Zeichen und Bilder eng zusammenhängen, ist nicht neu. Neu ist, dass sie in eins fallen. Als 1807 Napoleon die preußische Quadriga nach Paris brachte, war dieses Bild das Zeichen für die Niederlage des Feindes. Dass ein Bild nicht nach dem Ereignis entsteht, sondern dass die Tat um des Bildes willen begangen wird, zeigt, wie immens die Bedeutung von Bildern gewachsen ist. Weil sie suggestiv wirken, weil sie immer einfacher herzustellen und zu verbreiten sind, lohnt sich Gewalt allein der Distribution von Bildern wegen. Als 2004 der Amerikaner Nick Berg vor laufender Kamera hingerichtet wird, geschieht dies, um ein Video zu drehen, das die Attentäter per Internet der Welt zeigen wollen. Dies sei die Antwort auf die Demütigung durch die publizierten Folterbilder aus dem Bagdader Gefängnis Abu Ghraib, heißt es. Bergs Hinrichtung erfüllt ihren Zweck erst vollständig, als die Öffentlichkeit sie auf dem Bildschirm sehen kann. 2004 ist dies bereits sehr vielen Menschen auf ihren Homecomputern technisch möglich. Es folgt ein Kampf im Netz um die Zugänglichkeit des Videos - immer wieder werden entsprechende Seiten lahmgelegt, immer wieder taucht der Film an anderer Stelle wieder auf. Auch das Publizieren von Videos im Internet stellt zu diesem Zeitpunkt durch entsprechende Software kein größeres Problem mehr dar.
Immer wenn technischer Fortschritt die Produktion und Verbreitung von Bildern simpler, billiger und damit für mehr Menschen möglich macht, bleiben die Effekte von mündigerem Umgang mit visuellen Medien, von Demokratisierung oder gar der Entstehung einer neuen Ästhetik weit hinter den Erwartungen zurück. Jedoch entfaltet die mediale Entwicklung - die Verfügbarkeit der Bilder - eine starke Wirkung auf die Wirklichkeit: Die Zeichenhaftigkeit politischen Handelns nimmt zu.
Möglicherweise erleben wir dieser Tage, wie die allgemeine Schlacht um die Bilder in ein neues Stadium eintritt. Es geht um Videos im Netz. Seit in den letzten Jahren die digitale Videotechnik fast jedermann zugänglich und zugleich die Netzverbindungen schnell genug geworden sind, erleben Internet-Videoportale eine ungeahnte Blüte. YouTube, GoogleVideo, Grouper, Daily Motion, Revver oder iFim heißen sie. Sie funktionieren simpel: Wer mit einer Digitalkamera einen Film gemacht hat - sei es von sich selbst, von seinem Hund oder auch einem Bombenangriff - lädt diesen mittels einer Software hoch. Zugleich können Besucher die visuellen Produkte anderer Nutzer ansehen - direkt im Netz.
Unter dem Gesichtspunkt von "Gegenöffentlichkeit" betrachteten Medienexperten sehr bald diese neuen Portale - allerdings um enttäuscht festzustellen, dass die meisten frei veröffentlichten visuellen Produkte von Privatleuten selbstgemachte schlechte Musikclips sind, oder Privatspam, der in vielstimmiger Belanglosigkeit verklingt.
Im vergangenen Jahr jedoch hat ein Film eines so genannten "Videobloggers" derart von sich reden gemacht, dass Journalisten das Wort "Videoblogbuster" kreierten, Printmagazine erstmals einen Amateurfilm aus einem Videoportal besprachen und der Regisseur nun in Verhandlungen steht, demnächst einen Kinofilm zu produzieren.
Der Film, den allein bei Google zehn Millionen Menschen angesehen haben, heißt Loose Change.
Es mag kein Zufall sein, dass dieser Dokumentarfilm um die Deutungsmacht von Nine Eleven ringt. Auf einer Strecke von achtzig Minuten hat ein 22-jähriger Amerikaner Namens Dylan Averey in beispielloser Sammelwut Bildmaterial rund um den 11. September zusammengetragen, das in irgendeiner Weise geeignet ist, die gängige Interpretation der Geschehnisse infrage zu stellen. "Sieh selbst", "check it out" ist die immer wiederkehrende Aufforderung des Sprechers. Er habe keine Theorie anzubieten - aber die Bilder, sieh sie dir an, sprächen doch für sich selbst. Dieses Loch, schau genau hin, kann doch von keinem Flugzeug ins Gemäuer gerissen sein - diese Aufnahme, check it out, lässt keinen Zweifel: Es muss eine Cruise Missile gewesen sein. Es folgt ein Vergleichsbild von einem Cruise-Missile-Einschlag an irgendeinem anderen Ort auf der Welt, wie der Sprecher versichert. Averey hat kaum eigene Aufnahmen gemacht, er arbeitet vielfach sogar mit Bildern von CNN - bildet aber neue Deutungsketten und erreicht durch schnelle Schnitte, Musik und Videoclipästhetik eine aggressive, entnervende Suggestivität. Averey ist kein typischer Videoblogger - viel zu kunstvoll ist Loose Change produziert. Er hat nur diesen einen von einer Million Filmen in ein Videoportal eingestellt, dem möglicherweise der Sprung in die Kinos gelingt. Doch Avery hat auf die Möglichkeiten der Videoportale aufmerksam gemacht, "Beweisfilme" in die Welt zu tragen, mittels derer Wahrheiten konstruiert werden können.
Die mögliche künftige Bedeutung von Videoportalen liegt keineswegs darin, unter viel, viel Bilderschrott die Perle aufzuspüren, die es wert wäre, in den gängigen Massenmedien publiziert zu werden. Vielmehr liegt ihr Potenzial tatsächlich in der Quantität visueller Erzeugnisse. Existieren Pioniere dieser Internetdienste bereits seit Mai 2005, schießen seit Ende vergangenen Jahres Videoportale wie Pilze aus dem Boden und liefern sich einen harten Existenzkampf - wer wird es schaffen und das "Google" der Suche nach visuellen Dokumenten werden? Zugleich wächst der Umfang der eingestellten Videos. Bei YouTube werden täglich etwa 40 Millionen Videos von sechs Millionen Menschen angesehen und täglich 35.000 neue Filme veröffentlicht. Laut unabhängigen Bewertungen ist diese Masse in exponentialem Wachstum begriffen.
War YouTube anfangs noch eine Spielwiese für die einen oder anderen Amateurvideoblogger, die sich auch gern private Aufnahmen anderer Nerds ansehen wollten, stehen heute bereits eine solche Menge bewegter Bilder bereit, dass man, indem man einen Suchbegriff eingibt, gezielt Aufnahmen jeglicher Art und Herkunft finden kann. Leninreden ebenso wie aktuelle Videos aus Krisengebieten. Wer sich so per Schlagwort durch die Bilderwelten klickt, bleibt unweigerlich am Bildschirm kleben. "Gib mal Tschetschenien ein." Es erscheint eine Wackelkamera, ein Massaker. Ein Soldat, der einen Mann hinrichtet. Dann irgendein Fluss. Die Kamera wackelt zu schwer erkennbaren kauernden Menschen vor einem Auto. Seltsam beiläufige Aufnahmen - als sei vielleicht eine russische Kamera in tschetschenische Hände geraten. Vielleicht. Verstörend sind nicht allein unerwartete Grausamkeiten, denen der Betrachter begegnet, sondern die Ungewissheit, ein schwindelerregendes Gefühl von Lost in Space. Wem gehört die Kamera? Sind die Aufnahmen echt? Wo sind sie gefilmt worden? Weshalb?
Es ist gut möglich, dass wir in absehbarer Zeit im Netz ähnlich selbstverständlich nach bewegten Bildern stöbern, wie wir heute "googlen", wie wir es nennen - und zumeist Textdokumente zusammentragen. Wissend, dass ihre Herkunft, Authentizität und ihr Wahrheitsgehalt zweifelhaft sein können. Mit Bildern ist es vertrackter. Intellektuell misstrauen wir ihnen in viel höherem Maße als geschriebenem Wort - weil jeder weiß, wie leicht manipuliert werden kann und wie suggestiv zugleich die Wirkung ist. Intuitiv aber glauben wir ihnen, weil sie unmittelbar wirken. Es bedarf ungeheurer Anstrengung, "Dokumentaraufnahmen" zu folgen und sich zugleich bewusst zu machen, dass alles, was man sich da unmittelbar vermittelt, gefälscht sein könnte.
Sehr wahrscheinlich ist, dass künftig größere Anstrengungen unternommen werden, Videos herzustellen, die im Netz publiziert werden sollen. Denn wer "Wahrheit" in seinem Sinn gedeutet sehen will, hofft darauf, dass andere "Beweismaterial" suchen. Vor einigen Tagen erst verwendete Tagesschau.de YouTube-Videos, um ihrem Publikum Bilder aus dem israelisch-libanesischen Krieg zu zeigen, "so wie die Menschen ihn erleben und filmen". Zwischen den Ländern, hieß es, entflamme derzeit ein unerklärter Bilderkrieg. Per Video, im Internet.
Zu sehen sind Filme der einen und der anderen Seite, die versuchen, Bilder zu etablieren. Israelische Beweisfilme, die scheinbar eindeutig zeigen, dass die Hisbollah tatsächlich Raketen in Bunkern unter Wohnhäusern lagert. Sehen sie diesen Truck? Ein Raketentransport aus der Ferne gefilmt, wie er irgendetwas, in ein Haus verlädt. Dann Männer aus Kana, die weinend tote Kinder tragen. Dann Einschläge von Katjuschas in Israel. Dann israelische Jugendliche im Schutzbunker, die tränenerstickt berichten. Die verwackelten Bilder sollen von Unschuld und Authentizität überzeugen.
Und schließlich finden wir Bilder, die einem Schauer über den Rücken jagen - nicht allein der abgebildeten Geschehnisse wegen, sondern weil einen beim Zusehen irgendwann die Frage einholt - wer eigentlich hält hier gerade die Kamera? Wieder tschetschenische Rebellen. Ein großer Kerl tritt aus einem Wald, um einen feindlichen Hubschrauber abzuschießen. Er trifft. Der Hubschrauber trudelt. Der Rebell lobt Allah. Es folgt eine Serie gelungener Abschüsse - und jedes Mal gibt es offenbar eine Videokamera. Der Rebell dokumentiert jede erfolgreiche Aktion. Ein Kumpan schleppt Gepäck, zur Ausrüstung gehört selbstverständlich eine Digicam. Die stürzenden Hubschrauber und die Lobpreisungen Allahs werden zu einem Videoclip zusammen geschnitten. Es hat bisher 448 Klicks bei YouTube.
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