Entschlossen preschen die Kleinwagen von der Mole kommend die Uferstraße entlang. Autos schießen durch die halbkreisförmige Bucht, um mit Schwung die Steigung hinauf ins Dorf zu nehmen. Hupendes Stakkato. Rot-schwarze Fahnen fliegen aus den Fenstern – soeben ist AC Mailand italienischer Fußballmeister geworden. Aus irgendeinem Grund erfreut sich der Klub – an der italienischen Peripherie kurz vor Afrika – besonders vieler Fans. Ein Samstagabend wie so oft, Lampedusa erwacht nach einer Woche im Tiefschlaf, die Restaurants sind geöffnet. Mitten in der Nacht wird ein Boot mit Flüchtlingen kommen. Wie fast täglich seit Februar.
Kurz nach drei ist es dann so weit. Die Küstenwache steuert das leere Schiff der Flüchtlinge quer durch den Hafen, hinüber ins militärische Sperrgebiet, wo die anderen Kutter liegen, die in den vergangenen Tagen die Insel erreichten. Immer größer werden die Boote, seit der Hauptstrom aus Libyen kommt. Vorbei die Zeit der kleinen Holzkähne, mit denen die Tunesier im Februar und März übersetzten. 800 Menschen waren in dieser Nacht an Bord – Sudanesen, Nigerianer, dazu Gastarbeiter aus Bangladesch und Pakistan, gestrandet im libyschen Krieg. Anderthalb Stunden dauerte die Anlandung, dann waren alle notdürftig mit Wasser, Decken und Keksen versorgt, die Kranken und Verletzten abtransportiert. Ruhe liegt über dem Hafen. Die Helfer sind verschwunden, die meisten Journalisten auch. Nur der Generator des Roten Kreuzes röhrt weiter durch die Nacht.
Das Flutlicht, das er antreibt, scheint nicht umsonst. Ein Gerücht macht die Runde, ein zweites Boot sei unterwegs, mit weniger Insassen. Tatsächlich kehren kurz darauf die dunkelblauen Polizei-Uniformen zurück, wieder beginnen die weißen Umhänge der Küstenwache umherzuschwirren. Das Rote Kreuz stellt die rollenden Bahren erneut in Bereitschaft. Ein Krankenwagen nach dem anderen geht in Position. Wie immer, wenn sich ein Boot nähert.
Die Besatzung ahnt nicht, dass ihre Routine heute durchbrochen wird. Der Einsatz, der nun beginnt, liegt jenseits des auf Lampedusa Bekannten. Das Begleitboot taucht auf, nimmt Kurs auf den Anleger. Doch wo sind die Flüchtlinge, wo ist ihr Schiff?
Die Schreie kommen vom Meer her. Sie durchschneiden die Nacht, steigen über das Kliff, das sich im Westen dem Hafen anschließt. Schnell setzen sich Helfer und Polizisten in Bewegung, ein Treck windet sich den steilen Hügel hinauf, zielstrebig und doch ziellos. Was sich hinter dem Fels abspielt, weiß niemand. Dunkelheit und unebenes Gelände bremsen die Schritte, man hört ängstliche Stimmen, die vom Meer herüberwehen. Wer weit oben steht, kann das Boot sehen. Etwa 20 Meter vor der Küste liegt es mit Schlagseite. Der blaue Rumpf hebt und senkt sich, Gischt schlägt an der Bordwand hoch. Ein Mann im weißen Overall der Küstenwache hebt sich von den Passagieren ab, die zusammengedrängt an der Reling stehen.
Ein anderer wartet am Ufer, ganz vorn, auf dem letzten Felsen. Unter dem Arm hält er einen Rettungsring. Er wirft ihn nicht. Was kann ein einziger Ring in schäumendem Wasser ausrichten. Soll er 500 Menschen ans Ufer holen? Die anderen Helfer stehen unschlüssig auf den Klippen, als könnten sie nicht glauben, was sie sehen: ein havariertes Flüchtlingsschiff, das die Einfahrt zum Hafen verfehlte und auf einem Riff gestrandet ist. Unten am Hafen starten Motoren, ein Krankenwagen setzt sich in Bewegung, ihm folgt einer der Linienbusse, mit denen Bootsflüchtlinge üblicherweise ins Camp gefahren werden. Jemand wirft ein Tau an Bord, an dem sich die ersten an Land hangeln. Dort sinken sie zusammen.
Inzwischen haben Helfer Decken heraufgebracht und Thermofolien, deren goldene Außenseiten den Schein der Taschenlampen reflektieren und die Geretteten wie schrill glänzende Punkte in der Dunkelheit markieren. Helfer und Polizisten, Insulaner und Journalisten geleiten sie die stockdunkle Anhöhe hinauf, wo die Ambulanzwagen warten. Wer da ist, fasst mit an. Büsche, Löcher und spitze Felsen machen aus dem Weg einen Hindernisparcours. Manche Flüchtlinge sind barfuß, andere tragen Socken, aber keine Schuhe. Aus Gesichtern sprechen Schock und Erschöpfung. „Frisch erlittene Traumata“, wird ein Bildreporter später sagen. Er will bei dem, was er in diesem Moment erleben muss, nicht mehr fotografieren.
Über dem Meer steht ein Hubschrauber. Bohrend treibt es den Ton der Propeller, der auf das metallische Rauschen der Goldfolien trifft, herüber. Wieder Schreie auf dem Boot, das Heck neigt sich tief hinunter und pendelt wieder zurück. Ein Mann ruft einen Namen, der wie „Buro“ klingt, wieder und wieder. Wer an der Reling keinen Halt findet, fällt ins Wasser. Panik an Deck. Als sich das Schiff wieder senkt, springen die Menschen. Erst einzelne, dann sind es vier oder fünf, die den Sprung wagen. Nur die wenigsten tragen Schwimmwesten, Arme und Beine, längst ermattet von der Überfahrt, wühlen sich durch die Gischt. Die Helfer versuchen herauszufischen, wen sie greifen können.
Welches Land ist das hier?
„Fünf Tage“, stößt Monday hervor. Der junge Nigerianer wiederholt die beiden Worte immer wieder, als könne er selbst nicht glauben, wie lange die Überfahrt von Libyen gedauert hat. Oben bei den Sanitätswagen trifft er auf einen Bekannten. Eindringliche, bald vorwurfsvolle Worte. Die Angst, einander zu verlieren, lässt sich heraushören. „Salam aleikum“, grüßt ein Schiffbrüchiger einen Helfer. Ein anderer bittet darum, jemand möge seinen vermissten Bruder suchen. Erste Meldungen der Nachrichtenagenturen wissen kurz darauf, Ziel des Bootes sei Malta gewesen, doch wurde das Schiff von der dortigen Küstenwache in Richtung Lampedusa eskortiert.
Wer ist für die Flüchtlinge zuständig? Berichte über Streitigkeiten zwischen den beiden Inseln gibt es immer wieder. Trotzdem brechen von Nordafrika mehr und mehr Boote auf – besonders von der libyschen Küste. Überlebende auf Lampedusa erzählen, die Überfahrt koste nicht einmal Geld, seit Gaddafi sich entschlossen habe, die Afrikaner, die zunächst in Libyen festsaßen, nun nach Europa zu schicken. Und so sind es vorrangig Menschen aus Nigeria, aus Ghana und Niger, aus dem Sudan und immer mehr Ivorer, die sich an Bord der maroden Seelenverkäufer wagen. Auch Gastarbeiter aus Südasien sind darunter, längst abgestoßen von der libyschen Kriegsökonomie und von ihren Firmen in eine bleierne Ungewissheit entlassen. Wie Shihan, ein schmächtiger Pakistani in weißem Hemd, der mit verwirrtem Blick über die Klippen stolpert. „I need your help“, murmelt er langsam. Dann blickt er auf: „Which country is this?“
Das Schwingen der Sirenen
Von Shihans linker Hand tropft Blut, doch was ihn jammern lässt, ist der Durst. An Bord gab es schon lange kein Trinkwasser mehr. Und auch hier auf den Felsen von Lampedusa ist es nicht einfach, einen rettenden Schluck aufzutreiben. Was im Hafen routiniert funktioniert – die Logistik bei der Ankunft eines Flüchtlingsbootes – mündet an den Felsen in eine Art Ausnahmezustand. Shihan wird zu einem Ambulanzwagen gebracht, doch der steht ohne Arzt in der Dunkelheit. Zu viele brauchen Hilfe. Draußen irren die goldenen Folien durch eine schwarze Nacht.
Sie endet, wie sie begonnen hat: mit kreischenden Reifen und Motorenlärm. Im Osten schimmert ein heller Streifen Morgen am Horizont, noch lange werden die Krankenwagen mit den Geretteten zum Medizinposten der Insel pendeln. Den Hügel hinab, durch die Bucht und dann quer durchs Dorf. Blaulicht kündet sie von Weitem an, Sirenenton schwingt zwischen geduckten Häusern. Und oben, vor der Kirche, liegen ein paar Fahnen des AC Mailand auf der Hauptstraße.
Als Lampedusa erwacht – dieses Stück Felsen im Mittelmeer mit seinen etwa 4.ooo Bewohnern –, zeigen die Fernsehgeräte in den Eisdielen erste Bilder aus den vergangenen Stunden. Auch heute werden wieder Boote landen. Und wenn nicht, dann ganz sicher am nächsten Tag. Nach einer Nacht der flirrenden Goldfolien auf den Felsen gehört die Angst vor einer menschlichen Katastrophe nun dazu. Immerhin, sagt ein Fernsehreporter im Schein der Morgensonne, habe man alle Insassen des namenlosen Kutters retten können.
Zwei Tage später werden Taucher bei der Bergung des Wracks drei Leichen finden.
Dimitri Krasniecko ist als freier Autor in Europa unterwegs
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