Grassierendes Wundfieber

RUSSLAND Die Moskauer Psychologin Nadjeschda Wladislawiwna über die Traumatisierung russischer Soldaten in Tschetschenien - über Selbstmordversuche, Alkohol- und Drogensucht

Obwohl die Regierung Putin den Tschetschenien-Krieg bereits mehrfach für beendet erklärt hat, gibt es weiterhin zum Teil erbitterte Gefechte, die auf eine fortgesetzte Kampftätigkeit der Guerilla schließen lassen. Vor allem deren Hinterhalte fordern immer wieder Todesopfer unter den russischen Soldaten, die neben allen sonstigen Belastungen unter einem erheblichen psychischen Druck stehen. Diese Seite des Krieges - die seelische Verarbeitung des Erlebten - ist bisher eher peripher wahrgenommen worden. Doch scheint die Armeeführung inzwischen davon überzeugt: Eine stete Betreuung der Kampfverbände durch Psychologen ist unverzichtbar. Die Moskauer Psychotherapeutin Nadjeschda Wladislawowna war sowohl während des ersten als auch jetzt während des zweiten Tschetschenien-Krieges in Grosny.

FREITAG: Wie kam es zu Ihrem Einsatz?

NADJESCHDA WLADISLAWOWNA: Ich arbeitete in Tschetschenien für die Organisation "Ärzte für den Frieden" - das war während des sogenannten ersten Krieges. Das heißt, ich behandelte dort Ärzte - Russen wie Tschetschenen -, die selbst traumatisiert waren. Wenn Sie so wollen, Therapie für die Therapeuten. Daneben hatte ich besonders mit traumatisierten Kinder zu tun. Sie wurden von ihren Müttern gebracht, für die es praktisch überhaupt keine Anlaufpunkte in irgendwelchen Hospitälern mehr gab.

Als dieser Krieg endlich vorbei war, habe ich geglaubt, das alles werde bald Vergangenheit sein, so wie in Vietnam - aber leider ...

Leider hat sich alles wiederholt - was war anders im Vergleich zum ersten Tschetschenien-Krieg?

Die Beziehungen zum Militär. 1994 mussten wir uns aus der Soldaten-Betreuung heraushalten, haben aber natürlich diese Rekruten sehen müssen, die einem das Herz bluten ließen. Doch man konnte nichts für sie tun. Während des zweiten Krieges hat sich die Armee mit der Bitte an uns gewandt, ihre Spezialisten zu unterrichten, die unmittelbar im Kampfgebiet stehen.

Wie muss man sich diese Spezialisten vorstellen?

Das sind Psychologen der Miliz oder des Innenministeriums oder auch Leute vom Moskauer Katastrophenschutz, die nach den schweren Bombenanschlägen auf Wohnhäuser im Einsatz waren. Sie bringen vor allem eine Erfahrung mit: Wenn Schock-Symptome oder Traumatisierungen noch ganz frisch sind, sich noch nicht einkapseln konnten, wie das im normalen Leben oft geschieht, muss man sofort handeln.

Mit welchen Methoden behandeln Sie Soldaten in Tschetschenien?

Was ich vorzuschlagen habe, ist ganz auf die Militärs und ihre Lebensumstände abgestimmt - also auf Leute, die in Konflikte gestürzt wurden, weil sie töten mussten.

Was geschieht nach einer Behandlung?

Danach gehen die Soldaten zurück - zu ihren Kampfeinheiten. Dabei kann es zumeist nur darum gehen, sie innerlich zu beruhigen und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht ständig das erlebte Grauen in Erinnerung rufen. Die Psychologen der Armee selbst - oft umgeschulte Politoffiziere - sind völlig überfordert, weil sie ja selbst im Kampfgeschehen stehen.

Läuft Ihre Behandlung nicht eher darauf hinaus, anderen zu helfen, ohne Gewissensqualen schießen zu können?

Keinesfalls. Die Psychotherapie ist in jedem Fall um die Rettung von Menschenleben bemüht: Die jungen Soldaten sind ja - soweit es sich um Wehrpflichtige handelt - nicht aus freien Stücken im Kaukasus. Stellen Sie sich vor, die Rekruten stehen auf fremdem Territorium - rundherum nur Feinde. Es kommt zu seelischen Konflikten, Depressionen, die gar nicht so selten dazu führen, einen Selbstmordversuch zu unternehmen. Wie schwierig kann es dann sein, den verlorenen Faden des Lebens wieder aufzunehmen. In unserer russischen Kultur ist es eher unüblich, die Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen. - Wer in Tschetschenien überlebt, kehrt danach ins zivile Leben zurück, in das man sich unter Umständen nicht wieder hin-einfindet. Den auftretenden Konflikten, die auch zum Selbstmord, öfter jedoch zu Alkoholismus oder Drogensucht führen, wollen wir vorbeugen. Wir versuchen, Menschen zu helfen, damit sie Extremsituation durchstehen können. Ich gebe keine Anleitung dafür, wie man besser tötet.

Und Ihre Patienten nehmen das an?

Sehr dankbar.

Und es hilft?

Ja, sichtbar. Ansonsten kann ich nur sagen, Psychotherapie ist keine Politik, sie kennt nur ein Kriterium: Braucht der Mensch Hilfe oder nicht.

Ist Ihre Arbeit heute die Ausnahme oder die Regel für die russische Armee?

Im Kriegsministerium wird zur Zeit ein psychologischer Dienst für die Armee aufgebaut. Schon jetzt arbeiten in den Heeresabteilungen ungefähr 2.500 Leute, die sich Psychologen nennen. Aber wie gesagt, das sind zumeist frühere Politoffiziere, die in Zwei-Monats-Blitzkursen umgeschult wurden. Auf der Ebene der föderalen Sicherheitskräfte etabliert sich ebenfalls ein psychologischer Dienst. Dort läuft das alles auf kommerzieller Basis, die Leute müssen sich in die Kurse einkaufen.

Mit welchem Effekt?

Frühere Amtsschimmel lassen sich zu Psychologen umschulen und dann: ab zum Einsatz! Besser wäre die Ausbildung von Leuten, die direkt aus dem Kampfgebiet kommen. Am besten arbeiten wir mit all jenen Psychologen, die mit unseren Truppen kämpfen, schießen, Krieg führen. Sie wissen Bescheid.

Inwiefern?

Sie wissen, wie dieser Krieg geführt wird.

Hatten Sie jetzt nur mit der Armee zu tun oder auch mit der Zivilbevölkerung?

Selbstverständlich auch mit Tschetschenen - in der Regel mit Flüchtlingen. Um es noch einmal zu sagen, unsere Arbeit ist darauf gerichtet, Leben zu retten - völlig unabhängig davon, wer zu uns kommt.

Das Gespräch führte Kai Ehlers

Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden