Grüne suchen rote Linie

Tornado-Parteitag Exit-Strategie für Afghanistan?

Am 13. Mai 1999 gab es in Bielefeld einen grünen Sonderparteitag, auf dem sich eine Mehrheit im Interesse der Regierungsfähigkeit von der Politik verabschiedet und der militärischen Logik des NATO-Angriffs auf Jugoslawien unterworfen hatte. Die nun von 44 Kreisverbänden erwirkte Bundesdelegiertenkonferenz zu Afghanistan könnte im September den entgegengesetzten Weg gehen. In den Beschlüssen dürfte das zwar anders heißen, dafür aber in der Debatte um so häufiger die Frage nach einer politischen Exit-Strategie gestellt werden.

Viele Kreisverbände begründen ihr Verlangen nach diesem außerordentlichen Treffen schließlich damit, dass seit Monaten zwei Drittel der Bevölkerung bei allen Umfragen einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wünschen. Bis auf die Linke stellen sich alle Parteien taub und degradieren jene Mehrheit zum inkompetenten Mündel, das nichts versteht. Diese Ignoranz sorgt offenkundig für Unbehagen an der grünen Basis, aber auch in der SPD - weil die Linke daraus Kapital schlägt, weil die Risiken des Afghanistan-Einsatzes unverkennbar wachsen, weil gar von "Irakisierung" die Rede ist. Gäbe es deutsche Truppen im Irak, wäre es kein "verantwortungsloser Populismus", über Exit-Strategien nachzudenken, sondern vernünftig. Um diese Vernunft bei Afghanistan nicht länger auszublenden, werden die Grünen auf ihrem Sonderkongress mit hoher Wahrscheinlichkeit die nicht UN-mandatierte Operation Enduring Freedom (OEF) verwerfen und die UN-mandierten ISAF um so nachdrücklicher unterstützen. Dass ist gut für die Optik, aber keine Realpolitik. Wer sich von OEF verabschiedet, wie will der mit ISAF weitermachen? Weniger robust, mehr defensiv? Das werden weder die NATO noch die Lage erlauben. OEF ist schließlich das operative Rückgrat von ISAF. Und sind denn nicht beide Kommandos im gleichen Land unterwegs, mit dem gleichen Feind und komplementären Strukturen ausgestattet?

In Pakistan ist die Kraftprobe zwischen Regierung und islamistischer Opposition noch längst nicht entschieden. Sie kann afghanische Verhältnisse bescheren - die Attentate vom Wochenende deuten daraufhin. Was geschieht, wenn Pervez Musharraf, Amerikas unsicherster Kantonist und unentbehrlichster Alliierter, ins Wanken gerät? Werden die USA zusehen, sollte Pakistan "talebanisiert" werden?

Wo ist dann die rote Linie für die Bundeswehr, wenn Enduring Freedom seinem Namen alle Ehre macht, zu noch raumgreifenderen Feldzügen ausholt und ISAF davon nicht unberührt bleiben kann? Die Grünen werden sie (noch) nicht ziehen, aber ihr Bewusstsein dafür schärfen, dass sie irgendwann gezogen werden muss, auch wenn Claudia Roth den Sonderparteitag gewiss ermahnt, dass es in Afghanistan doch auch darum gehe, eine Rückkehr der Taleban zu verhindern und Menschenrechte zu schützen. Bei allem Respekt - die Taleban sind längst zurück. Und Menschenrechte lassen sich nicht glaubwürdig verteidigen, indem man tagtäglich im Namen westlicher Werte Menschen umbringen lässt, die zwar unbeteiligt, aber NATO und OEF im Wege sind. Das mutet an wie eine Kehrtwende zur prämodernen Inquisition, die sich in Zeiten der Globalisierung eben anbietet, weil die Souveränität von Nationalstaaten - noch dazu solch fragiler wie Afghanistan - vernachlässigt werden kann. Besser lässt sich den Taleban gar nicht helfen. Komisch, dass ausgerechnet die Grünen, die sich soviel auf ihren Avantgardismus zugute halten, diesen im Grunde genommen barbarischen Zivilisationsbruch bislang mehrheitlich mittragen.


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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