A
Analyse Politiker und Manager verwenden oft Begriffe, die unverständlich bis irreführend sind. Daniel Baumann und Stephan Hebel wollen mit ihrem Lexikon über ebendiese aufklären. Manche der behandelten Wörter werden von Politikern falsch oder zu oft verwendet („Fachkräftemangel“), andere werden genutzt, um andere zu meiden („Vermögende“ statt „Reiche“). Manche sind schönfärberisch (Arbeitskräfte „freisetzen“), andere eindeutig unzutreffend („sozial Schwache“, Griechenland-„Hilfe“). Die Autoren verfolgen ein Ziel: „Der herrschenden Politik die Hegemonie über die Begriffe streitig zu machen, das kann den ersten Schritt zum Besseren bedeuten.“ Jetzt muss das Buch nur noch zur Standardlektüre für Wirtschaftsredaktionen werden. Felix Werdermann
Gute-Macht-Geschichten Daniel Baumann, Stephan Hebel Westend 2016, 248 S., 16 €
B
Bloch Ein sehr persönlicher, bisweilen wehmütiger Ton durchzieht Gert Uedings Buch über Ernst Bloch. Er lernte den Philosophen der Hoffnung während seiner Tübinger Studentenzeit in den 60er Jahren kennen. Hingerissen schildert Ueding, dass dieser in kein akademisches oder politisches Schema passte. Klugheit war für Bloch nicht alles. Ebenso wichtig für ihn: die Kunst des Erzählens, die auch ein Philosoph beherrschen müsse, um die Menschen von ihrer eigenen Lage her packen zu können. Bloch hielt sich dran und hatte deswegen zeitlebens begeisterte Zuhörer. Ob Uedings Erinnerungen dem einst weltweit beachteten, heute ins Abseits geschobenen Denker zu neuer Beachtung verhelfen? Zu wünschen wäre es. Nicht nur Bloch, ebenso unserer verzagten Zeit, der nicht nur jegliche Verbindung zu geistigen Traditionen, sondern auch der Möglichkeitssinn abhanden zu kommen droht. Michael Girke
Wo noch niemand war Gert Ueding Klöpfer & Meyer 2016, 200 S., 22 €
C
Chic Vor zwei Jahren erzählte Gina Bucher mir das erste Mal von Thema Selection, einem Modeladen in Zürich, in dessen Archiven sie recherchierte. Ich hatte kurz zuvor Fotos von Irene Staub gesehen, die in den 70ern als Prostituierte zur Zürcher Kulturszene gehörte. Irene, sagte Gina, sei Kundin und Model von Thema Selection gewesen. Sibylle Berg auch. Sogar Martin Kippenberger stand Modell.
Drei Frauen gründeten den Laden 1972, es gibt ihn bis heute. Ihr Markenzeichen ist das Spiel mit Schnitten aus der Herrenkonfektion. Irene trägt auf dem Kampagnenfoto Kaschmirpulli und Flanellhose. „Wir machen unsere Kleider für Nutten, nicht Nuttenkleider für irgendwelche Hausfrauen“, lautet das Konzept. 200 Seiten waren geplant, nach vier Jahren Rercherche sind es 600. Gerade wurde Female Chic als schönstes Schweizer Buch ausgezeichnet. Christine Käppeler
Female Chic Gina Bucher Edition Patrick Frey 2015, 632 S., 70 €
D
DDR Bücher mit Jahreszahlen üben eine Magie aus, zum Beispiel Florian Illies’ 1913. Auf die Idee, ein Jahr aus der DDR zu erzählen, musste aber erst Karsten Krampitz kommen: 1976. Ein Jahr, in dem eine leichte Brise durchs Land weht – durch den Eurokommunismus, dessen Führer sich im Juni zu einer Konferenz in Ostberlin treffen. Vor allem von Enrico Berlinguer sind unerhörte Töne zu hören. Aber schon die tragische Erschießung eines italienischen Lastwagenfahrers und KPI-Genossen an der DDR-Grenze zeigt eine Entwicklung, die das Jahr mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns enden lässt. Auch wenn der Fokus nicht auf dem Alltag normaler Leute liegt, wie es im Vorwort heißt, liest man das Buch mit Gewinn. Michael Angele
1976 – Die DDR in der Krise Karsten Krampitz Verbrecher Verlag 2016, 176 S., 18 €
F
Feindbild Der große Bär auf dem Cover ist es nicht allein. Erst seine roten Augen sorgen für die perfekte Synchronität zum Titel Feindbild Russland. Hannes Hofbauer meint damit, dass es in Deutschland ein tief verwurzeltes Ressentiment gegenüber der Macht wie dem Volk im Osten gibt. Dass mit der Ukraine-Krise Russland wieder zum Gegner wurde, sei eine Rückkehr zur Normalität. Seit der Reichsgründung unter Iwan III. um 1480 kollidieren deutsche mit russischen Interessen. Waren es einst die Ordensritter, folgt ab 1941 der NS-Staat der Maxime, nur ein kolonisiertes ist ein brauchbares Russland. Hannes Hofbauer zeigt die Kontinuität eines Feindbildes, auf dessen Wirkung Verlass ist. Lutz Herden
Feindbild Russland Hannes Hofbauer Promedia 2016, 304 S., 19,90 €
Flüchtlinge Nimmt man die Heftigkeit der Debatte als Maßstab, sind bisher wenig Bücher über dieses Thema erschienen. Markus Metz und Georg Seeßlen legen nun einen Band vor, in dem es um die europäische Dimension geht. Eines der Kernargumente lautet: Um diese Krise zu bewältigen, müssen wir nicht nur den Rassismus und Wohlstandschauvinismus überwinden, sondern auch das Regime des Neoliberalismus. Das Projekt Europa sei eine Fata Morgana. Ein wütendes Buch, das einen Blick auf das Thema jenseits der Tagespolitik wirft. Philip Grassmann
Hass und Hoffnung Markus Metz, Georg Seeßlen Bertz + Fischer 2016, 260 S., 9,90 €
K
Kapitalismus Keine Ahnung von Wirtschaft? Keine Lust, sich damit zu beschäftigen? Dann geben Sie diesem Buch eine Chance. Robert Misik, der im Freitag etwa zu Griechenland und TTIP schreibt, besitzt nämlich die große Gabe, verständlich das zu erklären, was uns alle existenziell umtreiben müsste: der besorgniserregende Zustand des Kapitalismus.
Bei Robert Misik heißt er „Kaputtalismus“, denn: „Die System gewordene Wette auf die Zukunft“, die Ausweitung der Produktion und der zusätzlichen Nachfrage für diese via Kredit – all das läuft schon viel länger als seit 2007 nicht mehr rund. Doch das Spannende ist: Wenn heutige Innovationen nicht kompatibel sind mit der kapitalistischen Produktionslogik, dann müssen wir eine neue Logik finden. Oder die alte modifizieren. Hört sich schwieriger an, als es ist. Wem das zu optimistisch ist, der lese das Pablo-Iglesias-Zitat in Kaputtalismus: „Du kannst dich auch zur Karikatur machen, zu einem lächerlichen superlinken Militanten, der immer einsam bleibt, über den globalen Kapitalismus jammert und den niemand versteht.“ Sebastian Puschner
Kaputtalismus Robert Misik Aufbau 2016, 224 S., 16,95 €
L
Luftmenschen In seinem Essay Wurzellose Kosmopoliten schildert Jonas Engelmann, der im Freitag unter anderem über Comics und Musik schreibt, die Geschichte „von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur“.Mit ungezählten Beispielen beschreibt er eine große Ambivalenz: Zum einen gilt die Wurzellosigkeit als antisemitische Zuschreibung, die Juden als „heimatlose Gesellen“ stigmatisiert.
Zum anderen hat die jüdische Popkultur diese Ungebundenheit auch positiv besetzt: „Das nicht Eindeutige und nicht Verwurzelte wird zur Möglichkeit einer Unabhängigkeit von religiösen wie gesellschaftlichen Zwängen.“ Luftmensch zu sein, diasporisch schwebend, kann also auch ein Begehren bedeuten. Wobei sich in dieser Metapher eine neue Ambivalenz auftut, firmiert sie doch in der jüdischen Literatur gleichzeitig auch als Bild für die Opfer der Shoa, die in den Krematorien der Nazis verbrannten. Nils Markwardt
Wurzellose Kosmopoliten Jonas Engelmann Ventil 2016, 128 S., 12 €
M
Mörder Das Großartige an Klaus Ungerers Geschichten ist, dass es keine Geschichten sind, sondern Sozialreportagen. Ungerer lässt in Der weinende Mörder kein Kopfkino laufen und konstruiert keine Kunstfiguren. Er beobachtet, hört zu, beschreibt. Meist jene, die man kleine Leute nennt, samt ihrer Umstände. Die vierjährige Chantal, der die Tagesmutter mit dem heißen Fön die Wange brandmarkt, weil sie „ihr Essen nicht schnell genug herunterbekam“; eine sechsköpfige Familie, die in Köpenick aufgrund einer defekten Therme umkommt; Hartzer, die sich mit einem Raub „ein wenig Gerechtigkeit zurückholen wollen von der Welt da draußen“.
Ungerer sollte zur Pflichtlektüre für Parteileute erklärt werden. Ebenso für Feuilletonisten, die schöne Literatur lesen – um von da aus auf die politische Lage zu schließen. Politik wird nicht allein durch Diskurs- und Metaanalysen fassbar. Sie ist daran zu messen, ob sie tatsächliche soziale Lagen begreift und verändert oder es wenigstens versucht. Dazu können die an Kisch angelehnten 28 Gerichtsreportagen Ungerers beitragen. Wer sie liest, weiß im Moment der Lektüre, was Menschen meinen, wenn sie die Abgehobenheit von Presse und Politik beklagen: den Mangel an sozialer Wirklichkeit. Christian Füller
Der weinende Mörder Klaus Ungerer Bild und Heimat 2016, 192 S., 12,99 €
S
Stadtvisionen In seinen Bildern imaginiert der russische Künstler Pavel Pepperstein die Denkmäler der Zukunft so ironisch wie kunsthistorisch informiert. Zu Peppersteins Entwürfen zählen eine 2115 in Sri Lanka gebaute „Suprematistische Autobahn“, „Die große Tasse“, 2119 als Sitz der Weltregierung errichtet, oder auch „Schwert Exkalibur“, 2199 den „Kriegern der Welt“ gewidmet. Freitag-Autor Vladimir Welminski, der den Künstler vergangenes Frühjahr für uns interviewt hat (siehe Freitag 10/2015), ist es zu verdanken, dass Peppersteins grandiose Zeichnungen nun in dem Band Der Architekt und das Goldene Kind verfügbar sind – zusammen mit einer Kurzgeschichte, die in Russland im Jahr 8888 spielt. Zeitgleich ist in Velminskis Verlag Ciconia Ciconia der Band Stadt Russland erschienen, der ähnlich anspielungsreiche städtebauliche Visionen enthält. Christine Käppeler
Der Architekt und das Goldene Kind Pavel Pepperstein Ciconia Ciconia 2016, 108 S., 29,90 €
Stadt Russland Pavel Pepperstein Ciconia Ciconia 2016, 72 S., 24,90 €
Z
Zeitgenossenschaft Falls Sie dieses Jahr nur ein Buch lesen wollen, greifen Sie zu Die 100 wichtigsten Dinge. Das vom äußerst fadenscheinigen – und deshalb so großartigen – Institut für Zeitgenossenschaft (IfZ) herausgegebene Kompendium versammelt nämlich im Grunde alles, was man wissen muss. Kostprobe beim Stichwort „Schaum“: „Einziger Aggregatzustand, den die Moderne erfand.“ Das IfZ, dem auch Freitag-Autor Timon Karl Kaleyta angehört, bleibt also seinem Motto treu: „Vorwärts zum Licht, rückwärts nach Frankfurt.“ Nils Markwardt
Die 100 wichtigsten Dinge IfZ Hatje Cantz 2015, 256 S., 20 €
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