Kurz vor Ostern: Mehrere Hundert Amazon-Beschäftigte versammeln sich in der Schilde-Halle, einem alten Fabrikgebäude in Bad Hersfeld. Die 30.000-Einwohner-Stadt im Nordosten Hessens ist der wichtigste Logistikstandort des Onlinehändlers in Deutschland. Die Stimmung ist gut. So gut, dass der Streik per Abstimmung verlängert wird, um einen Tag mehr als ursprünglich geplant.
Spontan kommen 1.000 Post-Angestellte zu Besuch. Auch sie streiken, gegen die geplante Auslagerung Zehntausender Paketzusteller in eine neue Billiglohntochter. Nun also gemeinsam: Das ist gut fürs Gemüt und für die Durchschlagskraft. „Damit haben wir die Wirkung verdoppelt“, sagt Christian Krähling, 37, Beschäftigter bei Amazon und Verdi-Aktivist. Ein Großteil der Päckchen, die bei Amazon trotz des Arbeitskampfes noch das Lager verlassen, bleibt jetzt bei der Post liegen.
Sieht so ein erfolgreicher Streik aus? Bei jedem anderen Unternehmen würde man die Frage wohl mit Ja antworten. Bei Amazon, dem Online-Riesen mit seinen weltweit 150.000 Beschäftigten, gibt es diese Gewissheit nicht.
Der Konflikt dauert nun schon mehr als zwei Jahre an, ein Ende ist nicht abzusehen. Am 14. Mai 2013 sind Krähling und seine Kollegen in Bad Hersfeld zum ersten Mal vor die Tore des Logistikzentrums gezogen, um für einen Tarifvertrag zu kämpfen. An mehr als 40 Tagen haben sie seitdem gestreikt, aber spürbar näher gekommen sind sie ihrem Ziel nicht. Seit einiger Zeit legen die Arbeiter sogar an mehreren Standorten gleichzeitig und koordiniert die Arbeit nieder – so zuletzt in Leipzig, Bad Hersfeld, Rheinberg, Werne, Koblenz und Elmshorn. Doch wie lange kann ein Konflikt so geführt werden? Und wer wird am Ende den längeren Atem haben?
Auf den ersten Blick scheint sich Amazon an den Streiks nicht groß zu stören. Presseanfragen werden mit den immer gleichen Textbausteinen beantwortet. Nein, die Arbeitsniederlegungen hätten „keine Auswirkungen auf die Einhaltung des Lieferversprechens von Amazon an die Kunden“, heißt es. Weil man auf ein europaweites Logistiknetzwerk mit 28 Standorten zurückgreifen könne, würden die Streiks ins Leere laufen.
400 Euro im Monat
Verdi-Sprecherin Eva Völpel ist sich sicher, dass das nicht stimmt. „Es kommt zu Lieferverzögerungen“, mit Probebestellungen habe die Gewerkschaft das überprüft. Und auch ohne Tarifabschluss hat der Streik die Arbeitsbedingungen der Amazon-Beschäftigten bereits merklich verbessert. Ein halbes Jahr nach Streikbeginn zahlte das Unternehmen 2013 erstmals Weihnachtsgeld – als „freiwillige Leistung“, die jederzeit wieder abgeschafft werden kann. Und wie die Gewerkschaft in ihrer Streikzeitung vorrechnet, sind die Stundenlöhne in Bad Hersfeld seit Beginn der gewerkschaftlichen Aktivitäten im Jahr 2011 um acht Prozent gestiegen – deutlich schneller und stärker als in den Jahren zuvor.
Dennoch blockt Amazon jede Tarifforderung mit dem Verweis auf ein firmeneigenes Vergütungssystem ab. Dessen Entgelte orientieren sich angeblich am Tarifvertrag der Logistikbranche. Aktuell zahlt das Unternehmen in Hessen einen Einstiegslohn von 10,20 Euro pro Stunde, in Leipzig 9,75 Euro. Tatsächlich gibt es so viele Entgeltsysteme wie Standorte, und nirgends haben Amazon-Beschäftigte vergleichbare Rechtsansprüche wie Tarifbeschäftigte. Je nach Standort und Berechnungsmethode geht es bei diesem Streik um 200 bis 400 Euro mehr Lohn im Monat. Vor allem aber geht es um die Grundsatzfrage, wer künftig über die Entgelt- und Arbeitsbedingungen bei Amazon entscheidet: Werden sie weiter einseitig von der Unternehmensführung festgelegt oder zwischen Unternehmen und Gewerkschaft verhandelt?
Der Amazon-Streik ist ein Lehrstück für den Kampf um Hegemonie, Deutungshoheit und mobilisierbare Mehrheiten in einem Unternehmen. Beide Seiten arbeiten mit Methoden des „Organizing“ und „Counter-Organizing“, die im Kontext US-amerikanischer Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegungen entstanden sind. Der 2013 begonnene Streik hat eine Vorgeschichte: Weil für einen Arbeitskampf schlicht die Mitglieder fehlten, schickte Verdi 2011 zwei Gewerkschaftssekretäre nach Bad Hersfeld, die sich um den Aufbau eines Kerns von Aktiven im Unternehmen kümmerten. Innerhalb von zwei Jahren wuchs Verdi bei Amazon in Bad Hersfeld von nicht einmal 80 Mitgliedern auf an die 1.000 Organisierte.
Das war ein Drittel der Beschäftigten – zweifellos eine solide Basis, um einen Arbeitskampf zu beginnen. Doch das schnelle und stetige Wachstum setzte sich unter den Bedingungen des offenen Tarifkonflikts nicht fort. Hatte Amazon die Organizing-Aktivitäten anfangs toleriert, ging das Unternehmen nun auf Konfrontationskurs. Ein relevanter Teil der Belegschaft positionierte sich unmissverständlich gegen die Gewerkschaft. Im Dezember 2013 distanzierten sich mehr als 1.000 Beschäftigte in Bad Hersfeld und Leipzig von Streik und Tarifforderung, bei Facebook formierten sich „Pro Amazon“- und „Anti-Verdi“-Gruppen.
Schwer greifbare Elemente, etwa das Gefühl, Teil eines erfolgreichen Teams zu sein, geben dabei den Kitt ab, der helfen soll, die loyalen Mitarbeiter gegen den „äußeren Feind“ Gewerkschaft zusammenzuschweißen. Wie das aussieht, kann man auf dem Firmenblog amazon-logistikblog.de studieren: „Der schnellste Fortschritt auf der Welt, dank euch konnt` es geschehn“, reimt dort etwa Rapper Dominic, der im Hauptberuf „Cartrunner“, also Packwagenfahrer, bei Amazon in Pforzheim ist. „Ihr bringt alles voran, Teamwork ist die Religion, und ich geb euch von der Bühne die Motivation.“
„Wir haben noch immer eine gespaltene Belegschaft“, sagt Verdi-Aktivist Krähling. Die Anti-Gewerkschafts-Fraktion hat kürzlich T-Shirts mit der Aufschrift „Die Nicht-Organisierten“ drucken lassen. Andererseits wünschen sich einer Verdi-Umfrage zufolge vier von fünf Amazon-Beschäftigten einen Tarifvertrag. Der springende Punkt wird sein, wie viele von ihnen von der passiven Zustimmung zur Aktion übergehen. Immerhin hätten bei den jüngsten Streiks zu Ostern mehr Leute teilgenommen als je zuvor, berichtet Krähling. Aber auch die Gegenseite legt nach: Das Unternehmen habe in letzter Zeit „an vielen Standorten den Druck auf Beschäftigte erhöht“, etwa mit „Feedbackgesprächen“, in denen gewerkschaftlich engagierte Mitarbeiter zu Aufhebungsverträgen gedrängt werden, sagt Verdi-Sprecherin Völpel.
Globale Bewegung
Für die Gewerkschaft steht einiges auf dem Spiel: Geht der Konflikt bei Amazon verloren, droht der wachsende E-Commerce-Sektor langfristig außerhalb des Tarifsystems zu verbleiben. Weil mittlerweile alle Handelskonzerne immer mehr im Internet verkaufen, ist mit erheblichen Rückwirkungen auf die komplette Branche zu rechnen. Der Handelsverband Deutschland (HDE) der Arbeitgeber beobachtet den Konflikt zwischen Verdi und Amazon aufmerksam, ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Einerseits gilt das nicht im HDE organisierte Unternehmen Amazon als aggressiver Player. Andererseits fürchtet der Verband, dass ein Erfolg der Gewerkschaft Begehrlichkeiten bei den Beschäftigten im traditionellen Einzelhandel wecken und lohntreibende Wirkung haben könnte. Denn für die eigenen Logistikbeschäftigten wie Regaleinräumer und Lagerarbeiter würde der HDE mit Verdi gern neue Lohngruppen unterhalb des Entgeltniveaus des Verkaufspersonals vereinbaren. Zugleich denken viele Handelskonzerne jetzt schon über eine Ausgliederung oder Fremdvergabe der eigenen Logistiksparten nach.
Für den Amazon-Mitarbeiter und Gewerkschafter Krähling ist klar, „dass wir diesen Kampf nicht allein bei Amazon gewinnen können. Wir brauchen Hilfe von anderen Kollegen, wir müssen uns entlang der Wertschöpfungskette organisieren.“
Damit liegt er genau auf der Linie einer der spannendsten Diskussionen, die derzeit in der globalen Gewerkschaftsbewegung stattfinden. „An wichtigen Hebelpunkten entlang strategischer globaler Lieferketten Gewerkschaftsaktionen durchzuführen“, beschloss die Internationale Transportarbeiter-Föderation ITF auf ihrem Weltkongress im vergangenen Jahr. „Um in einer globalisierten Welt nicht nur reagieren, sondern auch gestalten zu können, ist es notwendig, multinationale Konzerne und globale Wertschöpfungsketten als Ganzes in den Blick zu nehmen“, schreibt IG-Metall-Chef Detlef Wetzel.
Gerade bei Amazon drängt sich eine solche Strategie geradezu auf: Wenn in Deutschland gestreikt wird, verschiebt der Konzern Auftragsvolumen in die Nachbarländer. Erstmals haben im vergangenen Jahr auch Amazon-Beschäftigte in Frankreich die Arbeit niedergelegt. Verdi, ITF und die für den Handel zuständige UNI Global Union haben im vergangenen Jahr begonnen, grenzübergreifende Vernetzungstreffen von Amazon-Gewerkschaftern zu organisieren. Um den Weltkonzern zum Einlenken zu bewegen, sind solche Schritte freilich noch zu klein. Aber sie gehen in die richtige Richtung.
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