Innerhalb von neun Wochen - zwischen dem EU-Gipfel in Berlin Ende März und dem Kölner EU-Gipfel Anfang Juni - hat sich Deutschland durch die EU-Präsidentschaft und den Kosovo-Krieg verändert. Das gilt vor allem für sein Verhältnis zur Anwendung militärischer Gewalt. Man hat gleichzeitig zu definieren versucht, was künftig europäische Politik sein soll und darf - ganz besonders auf dem Feld der Wirtschaft. Das Resultat war die Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers kurz vor den Europawahlen.
Andererseits ist es immer schwierig, die außenpolitischen Anfänge einer neuen deutschen Regierung bewerten zu wollen. Abgesehen von Willy Brandt, der als Regierender Bürgermeister von Berlin (West) und später als Außenmi
ßenminister der CDU/CSU-SPD-Koalition alle Großen der Welt kannte, haben deutsche Kanzler im allgemeinen wenig außenpolitische Erfahrung, wenn sie ihr Amt antreten. Außerdem ist die Außenpolitik - außer zu Zeiten großer Polarisierungen, wie sie durch die Neue Ostpolitik Anfang der siebziger Jahre ausgelöste wurden - auch selten ein Thema für den deutschen Wahlkampf.Gerhard Schröder aber hat nun in europäischen Fragen einen regelrechten Hindernislauf hinter sich gebracht, der ihn nach und nach von seinen früheren Positionen entfernte. Noch im Sommer 1997 stellte er in der französischen Zeitschrift Politique internationale die Frage, ob es nicht besser wäre, eine günstigere Konjunktur abzuwarten, um den Euro einzuführen. Im gleichen Blatt versuchte er im Herbst 1998, als Kanzler seinen Kampf gegen den Euro abzuschwächen. Kurz darauf sprach er sogar vom Euro als einer »Option auf die Zukunft«. Bei Joschka Fischer ist dieses Engagement für Europa älter. 1994 legte er in seinem Buch Risiko Deutschland klar dar, was seiner Ansicht nach Priorität deutscher Politik nach 1990 sein sollte: Deutschland, hieß es, müsse ohne Zögern auf die europäische Integration setzten - »Europa zuerst! muß die Grundmaxime der deutschen Außenpolitik sein«.Beim EU-Gipfel Ende März 1999 in Berlin fand sich Schröder in einer wenig komfortablen Position wieder: Er mußte um jeden Preis einen Kompromiß finden, zum einen sicherlich aus innenpolitischen Gründen, zum anderen aber auch, weil er die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU nunmehr realistischer einschätzte. Dazu kam die Überlegung, daß die EU nach dem Rücktritt der Brüsseler Kommission unter Jacques Santer keine zweite Krise überstehen würde. Man konnte in Berlin also sehen, wie die Verteidigung nationaler Interessen auf deutscher Seite plötzlich abgeschwächt wurde. Es genügt, die Regierungserklärung vom 14. Dezember 1998, in der die Ziele der deutschen Ratspräsidentschaft dargelegt wurden, mit der Erklärung nach dem Berlin-Gipfel vom 26. März 1999 zu vergleichen. Im ersten Fall gab sich Schröder nicht damit zufrieden, allein die Prioritäten seiner Präsidentschaft aufzulisten - Beschäftigungspolitik, Unterstützung der Innovation, Verbrechensbekämpfung und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Er wandte sich zugleich in einem äußerst scharfen Ton an seine europäischen Partner und die eigene Opposition: »Wir können und wollen nicht eine Politik fortsetzen, die darin besteht, sich das Wohlverhalten unserer Nachbarn mit Nettotransfer-Leistungen zu erkaufen, die in unzumutbarer Weise unser Budget belasten.« In der Erklärung nach dem EU-Gipfel von Berlin änderte sich die Tonlage merklich - Schröder setzte plötzlich deutsche und EU-Interessen auf dasselbe Niveau. Deutschland, das eigentlich drei Milliarden Mark für sich einsparen wollte, mußte bei der nationalen Kofinanzierung der Agrarpolitik zurückstecken ebenso beim Kohäsionsfonds für die Regionen. Großbritannien behielt weiter seinen Rabatt, und die nationalen Beitragszahlungen wurden kaum angetastet. Einen noch viel radikaleren Schwenk hat Schröder in der Wirtschaftspolitik vollzogen.Als er sein Amt antrat, gab er zur großen Befriedigung seiner sozialdemokratischen Kollegen in Europa - besonders in Österreich und Frankreich - seinen Willen zu einer europäischen Beschäftigungspolitik und einer EU-Sozialpolitik zu erkennen. Das Schröder-Blair-Papier vom Juni negiert das völlig: Darin geht es um eine »neue Angebotspolitik«, die auf Steuerverminderungen beruht, und eine größere »Flexibilität« der Produktions-, Kapital- und Arbeitsmärkte in Europa fordert. Diese »Philosophie« ist meilenweit entfernt vom Programm der sozialdemokratischen Parteien Europas wie es im März in Mailand angenommen wurde.Gerade diese Zäsur dürfte einer der wesentlichen Gründe für die Schwierigkeiten sein, in denen die deutsch-französischen Beziehungen nun stecken. Es genügt, dazu das Interviewbuch mit dem französischen Europa-Ministers Pierre Moscovici zu lesen, um die Unterschiede in der Herangehensweise beider Partner zu verstehen (Au coeur de l'Europe. Entretiens avec Henri de Bresson, Paris 1999). In einer anderen Frage hat sich die deutsche Außenpolitik dagegen der französischen angenähert. Ebenso wie Frankreich vertritt Deutschland nun die Auffassung, daß sich die Integration der EU erst weiter vertiefen müsse, bevor neue Mitglieder aufgenommen werden können. Die Christdemokraten hatten Deutschland dagegen früher stets zum Anwalt einer Osterweiterung der EU erklärt, gemäß der alten geopolitischen Schule, die von Deutschlands »Mittellage« spricht und seine »natürliche Ausstrahlung nach Osten « behauptet.Die Debatte über eine europäische Wirtschaftspolitik und die Kehrtwende der Deutschen in eben dieser Frage rufen allerdings eine nur zu bekannte Tatsache in Erinnerung: Ohne deutsch-französischen Konsens in den großen Fragen der EU haben die Vorhaben der europäischen Einigung keinerlei Substanz.Übersetzung: Markus Bernath(Jacques-Pierre Gougeon ist Historiker in Paris und Berater des französischen Europaministers)Bisherige Beiträge in der Reihe "Deutscher Sonderderweg":Ausgabe 33: Der Sonderweg als NebengleisAusgabe 32: KriegsliberalismusAusgabe 32: Bündnis(un)treue als PopanzAusgabe 31: Bündnistreue als letztes ArgumentAusgabe 30: Bündnistreue als Staatsräson