Ich bin 1987 in Potsdam geboren und aufgewachsen und lebe, nach einigen Jahren in Frankreich und der Schweiz, nun in Berlin. Schon in meinem Roman Familie der geflügelten Tiger (Kiepenheuer & Witsch 2016) bin ich der Frage nachgegangen, wie die DDR die nachgeborene Generation geprägt hat, die keine Erinnerungen hat an das Land namens DDR, in dem sie geboren wurde. Sie ist auf das familiäre und kollektive Gedächtnis angewiesen, um die eigene Geschichte zu verstehen.
Das Jubiläum zu 30 Jahre Einheit nehme ich zum Anlass, über den Osten im Zusammenhang zur Klassengesellschaft nachzudenken. Dabei kommt unweigerlich meine eigene Generation in den Blick, und ihr gespaltenes Verhältnis zur Leistungsgesellschaft, das zwischen 80-Stunden-Woche und Ausbeutungsverweigerung pendelt.
Umsatz auf dem Klo
Mein Geburtsland DDR, an das ich keine eigenen Erinnerungen habe, beschäftigt mich zunächst nur als widersprüchliche Zuschreibung von außen: Ich werde zum Ossi gemacht, als mich mein erster westdeutscher Freund, in Wortverspielung der Wespe, liebevoll Ospe nennt. Von ihm lerne ich auch, dass man über Geld nur spricht, wenn man keins hat. Fest in meiner Erinnerung zementiert ist außerdem der Satz eines Unternehmers aus dem Westen, der etliche Firmen aufgebaut hat: „Es gibt nichts Besseres, als auf dem Klo zu sitzen und zu wissen, dass deine Firma gerade Umsatz macht.“
Es ist ein Satz aus einer anderen Welt. Dort, wo ich herkomme, ist es undenkbar, Geld auf dem Klo zu verdienen; Geld verdient man durch Arbeit. Und ebendort werde ich etwa zeitgleich zum Wessi gemacht, als mir am Küchentisch attestiert wird, von der DDR keine Ahnung zu haben und ein Kind des Kapitalismus zu sein. Es dauert fünf Jahre Auslandsaufenthalt und einen Roman, bis ich beide Zuschreibungen von mir weise und in der Ostsozialisierung ein begriffliches Zuhause finde.
Bodenlose Datsche
In der Zeitung sehe ich eine Infografik. Der Osten erbt anders, ist sie überschrieben und zeigt anhand der Erbschaftssteuer pro Einwohner, dass in westdeutschen Familien ein Vielfaches an Vermögenswerten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kein Wunder, in ostdeutschen Familien fehlen 40 Jahre, in denen Vermögen hätte angehäuft werden können. Ich denke an das Grundstück, auf das meine Großeltern in den 1960ern eine Datsche gebaut haben.
Ein Ankaufsrecht, wie es das für Eigenheime auf fremdem Boden nach der Wende gab, ist bei Wochendendhäusern und Garagen nicht eingeräumt worden. Der Pachtvertrag für die Datsche fällt damit unter das Schuldrechtsanpassungsgesetz, das die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse von DDR und BRD nur befristet regelt: Bis 2022 gilt ein Investitionsschutz, danach müssten wir das Grundstück in seinem unbebauten Zustand zurückgeben, sollte der städtische Eigentümer den Pachtvertrag kündigen. Im Klartext kann das Abrisskosten um die 10.000 Euro bedeuten. Das ist das Kleingedruckte ostdeutscher Erbschaften, das sich auch die nächste Generation durchlesen muss.
Dritte Klasse
Gregor Gysi schreibt über den Wiedervereinigungsprozess: „Diese Entwicklung, die den Ostdeutschen und dem Osten seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelte, hat vielleicht mehr zur Herausbildung einer ostdeutschen Identität beigetragen, als es die Führung der DDR je vermochte.“ Mag sein, dass sich die Ostdeutschen in der Bundesrepublik ostdeutscher fühlen als je zuvor. In Umfragen stimmt die Mehrheit jedenfalls der Aussage zu, sie fühlten sich gegenüber Westdeutschen als Bürger zweiter Klasse – bilden die Ostdeutschen eine ökonomische Klasse? Wenn wir mal großzügig die sehr verschiedenen Nachwendebiografien in einen Topf werfen, bleiben klar strukturelle Gemeinsamkeiten erkennbar. Angesichts niedrigerer Löhne, Renten und Vermögenswerte kann ökonomisch von Einheit keine Rede sein. Erstaunlich daran finde ich den optimistischen zweiten Platz. In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des Vermögens. Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit von Vermögensverteilung beziffert, ist seit 1991 von 0,25 auf fast 0,3 gestiegen. In diesem Land kann höchstens von einer dritten Klasse die Rede sein.
Utopie Gemüse
Als ich gefragt werde, welcher Klasse ich mich zugehörig fühle, ist meine erste Antwort nicht „ostdeutsch“, sondern „kreatives Prekariat“ – kaum ökonomisches, aber viel kulturelles Kapital. Mir fällt L. ein, die Philosophie studiert hat und jetzt im Wendland Gemüse anpflanzt – welcher Klasse wäre sie zuzuordnen? Unsere mehrschichtigen Herkünfte und Selbst-Neuerfindungen ergeben so wilde wie verwirrende Biografien in den Zwischenräumen der herkömmlichen Klassenbegriffe. Wenn wir in dieser Unübersichtlichkeit über Klasse sprechen, brauchen wir mehr als nur die Ost-West-Unterscheidung – und vor allem die Bereitschaft, überhaupt über Klasse zu sprechen. Die Frage danach zerrt die eigenen Eltern ins Rampenlicht. Wir wollen aber eine Gesellschaft sein, in der egal ist, woher man kommt, und nur zählt, wo man jetzt ist, als hätte das eine nichts mit dem anderen zu tun – eine Utopie, die ich mag, der wir aber nicht näher-kommen, indem wir sie einfach behaupten und dabei Unterschiede tabuisieren. Tatsächlich benutze ich das Wort Klasse so selten, dass es sich wie aus einer Fremdsprache anfühlt. Meiner Vokabelliste füge ich das kreative Prekariat hinzu.
Burn-out-Klinik
Als wir beim jährlichen Autor*innentreffen wiederholt anstoßen, weil jemand den Vollzeitjob zugunsten des Schreibens gekündigt hat, sagt T. staunend: „Wir sind also die Generation, die sich gegenseitig zur Kündigung beglückwünscht.“ Auch unter meinen kunstbetriebsfernen Freund*innen beobachte ich eine zunehmende Selbstverständlichkeit, Sabbaticals, Eltern- und Teilzeit einzufordern und ansonsten lieber zu kündigen. Warum sollten wir uns abplagen, wenn Leistung und Entlohnung derart entkoppelt sind, dass man auf dem Klo am besten Geld verdient? Wenn sowieso klar ist, dass wir nie zu diesem von selbst arbeitenden Geld kommen werden, dann produzieren wir lieber wenig rentables Gemüse oder Bücher. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Ein anderer Teil meiner Generation arbeitet locker 80 Stunden pro Woche und stellt die Leistungsgesellschaft, wenn überhaupt, erst in der Burn-out-Klinik infrage. Denn wie Sophie Hunger schon singt, ist das Universum genau wegen seiner Ungerechtigkeit voller Hoffnung – vielleicht gehört man irgendwann, wenn man sich nur genug anstrengt, ungerechterweise zu denen, die Glück haben.
Verdächtiges Geld
Zu Hause gibt es den Glaubenssatz: In unserer Familie bereichert man sich nicht. Als Abgrenzung zum Raubtierkapitalismus überträgt er das Konzept Klassenfeind auf mich, auf die nächste Generation. Dabei entsteht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Geldverdienen, gleichzeitig wird die vergleichsweise schlechte Lage aller Ostdeutschen beklagt. Man gehört dazu, wenn man prekär lebt, und man steht unter Verdacht, wenn man zu Geld kommt. Meine Höhenangst betrifft nicht nur Schluchten, Türme und Flugzeuge, sondern auch das obere Ende der Karriereleiter. Zum Glück verdiene ich als Autorin nicht besonders viel. Die Ostsozialisierung beinhaltet ein diffuses Orakel: Die Erzählung, dass von heute auf morgen alles anders sein kann, ist so fest in meine DNA eingeschrieben, dass ich nicht an eine politische und ökonomische Stabilität glaube. Worte wie Bausparvertrag und Rente gehen mir nicht über die Lippen, weil ich Zweifel habe, dass es das System, innerhalb dessen diese Dinge erst sinnhaft werden, noch geben wird, wenn sie für mich relevant werden. Das Orakel beschwört den Zusammenbruch des Kapitalismus mal utopisch, mal dystopisch herauf und verhindert, dass ich bauspare oder altersvorsorge.
Kunst und Armut
2014 diskutiert der Literaturbetrieb die Frage, ob er zu sehr von Arztsöhnen und zu wenig von Arbeiterkindern bewohnt ist. Ich weiß mal wieder nicht, in welche Schublade ich gehöre. Meine Großeltern waren freiberufliche Gebrauchsgrafiker und Mitglieder im Verband Bildender Künstler der DDR. Sie haben Messen und Ausstellungen gestaltet und dafür auch im nicht sozialistischen Ausland gearbeitet. Mein Vater war Schmied, hat aber eine wenig einflussreiche Rolle in meinem Leben gespielt. Mein Onkel hat an der Kunsthochschule studiert und war Bildhauer. Meine Mutter hat Kunst und Germanistik auf Lehramt studiert, heute arbeitet sie als Grafikerin in einem Bundesverband und macht Kunstprojekte. In erster Linie bin ich in einer Künstlerfamilie groß geworden. Geld spielte weder keine Rolle noch war es so knapp, dass ich jemals etwas nicht machen konnte. In dem kreativen Milieu, in das ich geboren wurde, bin ich geblieben. Literarisches Schreiben zu studieren, ich gebe es nur ungern zu, war sogar der Vorschlag meiner Mutter. Das Prekariatsrisiko für die Kunst in Kauf zu nehmen, ist vertrauter Kinderzimmerboden, oder wie J. es mal formulierte: „Ich habe genug Hartz IV im Blut.“
Ich bin erfrischend
Anlässlich eines Stipendiat*innen-Empfangs bin ich zu Gast in der reichsten Privatwohnung über drei Etagen, in der ich je gewesen bin. Während mir ein weißhemdiger Bediensteter den Mantel abnimmt, denke ich an einen Satz von K.: „Die Sprache verrät uns“, und frage mich, welches Wort mich an diesem Abend verraten wird. Dann hält ein FAZ-Journalist für die kleine Gesellschaft einen Kurzvortrag, frei und derart eloquent, dass ich heimlich Atemübungen mache, bevor ich in der anschließenden Vorstellungsrunde an der Reihe bin. Auf dem Buffet steht, wie der weiße Milchzahn in all der Dunkelheit von Wald bis Wasserglas, eine ja! – Flasche Orangensaft. Ich behalte sie im Augenwinkel, während ich spreche, und trinke sie später aus, nachdem ich mich getraut habe, die Angestellten nach Bier zu fragen, das es nicht gibt, und vielleicht hätte mich diese Frage verraten, wenn es denn etwas zu verraten gegeben hätte. Beim Abschied bezeichnet mich eine Frau als „erfrischend“, und als ich heimgehe, halb Getränk, halb Pool, denke ich: Es ist schön, dass mich nichts verraten kann, weil ich kein Geheimnis bin.
Kommentare 11
„Gregor Gysi schreibt über den Wiedervereinigungsprozess: „Diese Entwicklung, die den Ostdeutschen und dem Osten seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelte, hat vielleicht mehr zur Herausbildung einer ostdeutschen Identität beigetragen, als es die Führung der DDR je vermochte.“ Mag sein, dass sich die Ostdeutschen in der Bundesrepublik ostdeutscher fühlen als je zuvor. In Umfragen stimmt die Mehrheit jedenfalls der Aussage zu, sie fühlten sich gegenüber Westdeutschen als Bürger zweiter Klasse – bilden die Ostdeutschen eine ökonomische Klasse?“
Ja, nur wird dabei oft übersehen, dass es den Westlern genauso geht. „Der Westen“ war vor der Wende ein vollkommen anderer, als danach. Erschwerend kommt hinzu, dass die Wende dadurch zur beiderseitigen Projektionsfläche wurde (gierig-arroganter Wessi, undankbar-nörgelnder Ossi) und das auch noch zu unrecht, weil beide Stereotype nicht zutrafen.
„Als ich gefragt werde, welcher Klasse ich mich zugehörig fühle, ist meine erste Antwort nicht „ostdeutsch“, sondern „kreatives Prekariat“ – kaum ökonomisches, aber viel kulturelles Kapital. Mir fällt L. ein, die Philosophie studiert hat und jetzt im Wendland Gemüse anpflanzt – welcher Klasse wäre sie zuzuordnen?“
Und das ist unsere gemeinsame neue Biographie. Die Wende fiel mitten in eine Phase von Umbruch, Abstieg und (zu?) schnell aufeinander folgenden Neuerungen, die dem Osten angedichtet wurde. Der Soli und so weiter.
„Tatsächlich benutze ich das Wort Klasse so selten, dass es sich wie aus einer Fremdsprache anfühlt. Meiner Vokabelliste füge ich das kreative Prekariat hinzu.“
Der Klassenbegriff bringt auch m.E. mehr Verwirrung als Klärung.
„Wenn sowieso klar ist, dass wir nie zu diesem von selbst arbeitenden Geld kommen werden, dann produzieren wir lieber wenig rentables Gemüse oder Bücher. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Ein anderer Teil meiner Generation arbeitet locker 80 Stunden pro Woche und stellt die Leistungsgesellschaft, wenn überhaupt, erst in der Burn-out-Klinik infrage.“
So sieht's aus. Meine These: alle bellen gegen den Mainstream, aber es gibt gar keinen (mehr).
„Dabei entsteht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Geldverdienen, gleichzeitig wird die vergleichsweise schlechte Lage aller Ostdeutschen beklagt. Man gehört dazu, wenn man prekär lebt, und man steht unter Verdacht, wenn man zu Geld kommt. Meine Höhenangst betrifft nicht nur Schluchten, Türme und Flugzeuge, sondern auch das obere Ende der Karriereleiter.“
Ja, bei einer Verweigerung sich damit zu beschäftigen, worum es denn, so als Wert und Ziel, sonst gehen könnte. Ich meine außer Gemüse anbauen und schreiben, honorige Dinge, aber was könnte denn wieder zu einer Idee werden, die mehr als ein Splittergrüppchen begeistert, das sich schon bald noch weiter aufspaltet, wenn dann auch noch Yoga dazu kommt? Finde ich alles super, aber, … ne?
„Ich weiß mal wieder nicht, in welche Schublade ich gehöre.“
Geht mir nicht anders, trotz älter und westlicher. Habe mich innerlich mit dem Attribut „Grenzgänger“ ausgestattet. Passt auch gut zu meinem Horoskop MC (da wo die Reise hin geht) Zwilling (Kommunikation, Grenzen, Verbindung). Irgend einen Grund muss man ja finden und Astrologie hat man ja auch oft drauf, als postmoderner Identitätssuchender.
„Beim Abschied bezeichnet mich eine Frau als „erfrischend“, und als ich heimgehe, halb Getränk, halb Pool, denke ich: Es ist schön, dass mich nichts verraten kann, weil ich kein Geheimnis bin.“
Ja doch, das. Man muss einfach nur offen hinschreiben, was man empfindet, dann rollt die Maschine derer sofort auf Hochtouren, die darüber spekulieren, wer oder was man eigentlich ist und meinte. Irgendwo und -wie muss man ja zuzuordnen sein. Mein Broterwerb findet im Krankenhaus statt, Pflege (auch da als Springer, passt zum Jungfrau Aszendenten mit Zwillings MC), ich bin seit Jahren überall, irgendwann kennt einen dann auch jeder, manche wollen mehr wissen: Was ich denn so eigentlich mache? Was erzählt man da? Irgendwas Sozialkompatibles und Beruhigendes, klappt inzwischen recht routiniert. Nur mit den Schubladen hadere ich auch noch: „Ach, dann bist Du so'ne Art Lebenskünstler?“ Ich habe meine Wohnung unter der Brücke und die Rotweinfahne vom Tertrapack schon fast selbst gespürt und gerochen. Andererseits: Ungreifbarkeit hat ja auch ihren Reiz, wenn man es nicht übertreibt. Einen der beeindruckendsten Sätze habe ich mal irgendwo in Reiner Stachs sensationell guten Kafka Biographien gelesen; „Er widerstand der Versuchung sich interessant zu machen.“ Darum könnte es irgendwann auch mal wieder gehen.
Ich danke auch.
„Sollte es dann nicht erstrebenswertes Ziel sein, uns Bedingungen zu schaffen, die uns nicht permanent zwingen uns interessant zu machen und uns Regeln und Organisationen zu schaffen, die Freiräume bereithalten und es dem Einzelnen oder Interessengruppen ermöglichen, das Leben eigenverantwortlich selbst zu gestalten und genau darin eine Erfülltheit zu erleben, die Absturzängste gar nicht mehr entstehen lässt, oder auf ein gesundes Mindestmaß reduziert?“
Ja, irgendwie so bestimmt, aber die Probleme kommen dann irgendwo im Kleingedruckten.
„Sollten wir uns nicht diese Freiheit wieder erringen, die meines Erachtens uns in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer mehr abhanden gekomen ist?“
Ja.
Und, auch ja, das Leben war mal besser, schöner, unbeschwerter. Aber in welche Richtung sollen wir uns konkret verändern, womit den Anfang machen? Da wird es ja dann schnell mal kontrovers.
Aber „Höhenangst“ geht ja weiter. Bei manchen gehört es schon zum guten Ton sich nicht interessant manchen zu sollen, oder wenigstens ein bisschen prekär zu leben. Das ist ja irgendwie auch gaga oder Pose. Vielleicht brauchen wir einfach wieder mehr Selbstverständlichkeiten, aber wir können uns gerade nicht auf diese einigen, weil noch hinter der Vermittlung von Grundrechenarten irgendwer eine Verschwörung vermutet.
Interessante Frage – bin ich noch als „Ossi“ identifizierbar und gibt es Merkmale, an denen man das festmachen kann?
Bei mir bestimmt am Dialekt, wenngleich auch durch viele Jahre in der Fremde verschliffen…
Aufgrund einer sehr guten Ausbildung und ersten erfolgreichen Karriereschritten im „Osten“ ,die sich nach dem Fall der Mauer fortsetzten, könnte ich mich als einer der „Gewinner der Wende“ bezeichnen und bin dennoch – denke ich – ein „Ossi“ geblieben. – Allerdings hauptsächlich im Kontrast zu meinen westdeutschen Kollegen. Ich arbeitete größtenteils in Westdeutschland oder im Ausland. Im westeuropäischen Ausland war ich vielfach einfach ein Deutscher mit typisch deutschen Manieren und mit einem gewissen Interesse an meiner Person und Geschichte, wenn sie mein Geburtsland erfuhren.
Hier fiel es mir persönlich anfänglich schwerer als in Osteuropa, ein optimales Lebens- und Arbeitsumfeld zu schaffen. In Osteuropa hatte ich Vorteile durch gemeinsame historische Erfahrungen, auch gemeinsam wachsende neue Strukturen und meinem schlechten Russisch.
Es ist schwer eine Formel zu finden – von mir beobachtet scheinen Werte, die aus allgemeinem Konkurrenzverhalten, Selbstdarstellung und Vertrauen entstanden, im umgekehrten Verhältnis zu meinen westdeutschen Kollegen zu stehen. Das soll in keiner Weise herabmindernd gemeint sein, kommt man doch mit einer gehörigen Portion von Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen immer gut durchs Leben. Auch ist der heute praktizierte Teamgeist etwas anderes für mich als der früher gelebte Kollektivgeist, wenngleich auch nur unscharf begründbar.
Bei meinen Kindern verschwimmen nur langsam diese Unterschiede – die Prägung aus dem Elternhaus ist nicht zu übersehen, egal ob im Westen oder Osten wohnend und inzwischen mit einem Abbild der früheren DDR ausgestattet, welches sich stark von meinem unterscheidet - und doch werden sie in ihrer Umgebung noch als „Ossis“ wahrgenommen.
Oft wurde ich gefragt, ob ich der DDR hinterher trauere. – Nein, der gelebte und falsche Sozialismus ist gesetzmäßig an seinen inneren Widersprüchen untergegangen.
Wenn ich mir etwas zurückwünschte, dann, insbesondere für die jüngere Generation, mehr Kenntnisse über gesellschaftliche Zusammenhänge, ein wesentlich kritischeres Hinterfragen von maskenhaft präsentierten Nachrichten der Medien und positive Zukunftsvisionen als Antriebskraft, die Zukunft gestalten zu wollen.
et scheinen Werte, die aus allgemeinem Konkurrenzverhalten, Selbstdarstellung und Vertrauen entstanden, im umgekehrten Verhältnis zu meinen westdeutschen Kollegen zu stehen.“
Was aber auch erst später entstand. Der Westen vor der Wende war lange weit davon entfernt eine Ellenbogengesellschaft zu sein, so habe ich das zumindest in dem Zeitraum und der sozialen Perspektive, die ich überblicken konnte, nie erlebt. Man war im Grunde entspannt und verlor immer mehr den Ehrgeiz, weil man mit dem stillen Gefühl ausgestattet war, dass der Fortschritt zum Besseren eine unhinterfragbare Lebenskonstante ist, sich enttäuschen zu lassen, war das, was erste geübt werden musste.
Man hatte sehr viel Zeit, 'wusste', es würde immer gut ausgehen, es gab ja den Fortschritt, selbst wenn man eigene Probleme hatte, global war alles tacko. Da brauchte keiner Ellenbogen, es gab gute bezahlte Jobs, in denen man buchstäblich nichts zu tun hatte. Der Hintergrund war ein Wohlklang. Meeresrauschen trifft Dur-Akkord, oder so ähnlich.
Das ist im Grunde ein schönes und umfassendes Statement, dem ich wenig hinzuzufügen habe, weil ich es wesentlich ebenso sehe.
Ich glaube ehrlich gesagt auch, dass wir längst nicht die einzigen sind, sondern eine Mehrheit (vermutlich sogar eine breite) so denkt. Die Leser der Zeit sind sicher nicht repräsentativ, aber wenn man sich mal die Entwicklung der Stimmung seit dem Shutdown anschaut, dann geht es vielen so gut, wie lange nicht und zwar auffallend, wenn Sie mal unter „Wie entwickelt sich die Stimmung langfristig?“ schauen.
Was ich nur immer wichtiger finde ist die konkrete Ausformulierung, ein Punkt, an dem, mit dem man anfangen kann, weil die Forderung, dass irgendwie alles anders werden soll, zu unpräzise, wenngleich verständlich ist.
Ich würde, weil ich aus der Ecke kommen, gerne das Medizinsystem anders haben, andere schreiben sogar Artikel darüber, dass sie das auch wollen, fragt man aber nach, was denn genau anders werden soll, kommt so gut wie nichts mehr.
Aber das gehört dann auch eher in einen anderen Faden, als unter diesen sehr schönen Bericht von Frau Fürstenberg.
»Ospe« – du liebe Güte. Wenn man fragen darf: In welcher tristen Gegend hat dieser sogenannte Ex-Freund eigentlich seine Basal-Sozialisation erfahren?
„Mit der Wiedervereinigung wurden die Menschen im Osten mit den kapitalistischen Kampfbegriffen konfrontiert und waren zwangsläufig gezwungen, sich diese anzueignen.“
Ich möchte auf diesem Punkt gerne noch mal zurück kommen, weil er m.E. wichtig für das wechselseitige Verständnis ist.
Auch der Westen musste sich diese Kampfbegriffe erst aneignen, diese ruppige Ellenbogengesellschaft, die viele aus dem Osten als typisch westlich ansehen, mussten wir auch erst lernen und das kam kurz nach der Wiedervereinigung.
Diese ganze Börsenfixierung usw., Managementseminare, die Ende der 90er aus dem Boden schossen, dieser Aktienhype mit T-Aktie und so weiter, da waren wir genauso wenig drauf vorbereitet und wurden ebenso überrollt. Viele haben mit der „Volksaktie“ ihr Geld verbrannt und all das war völlig untypisch auch für den Westen.
Das heißt, der ganze Krempel, an dem momentan niemand mehr Spaß hat, ist bereits unsere erste gemeinsame Lernerfahrung gewesen, 'Ihr' dachtet vermutlich, dass so der Westen ist und 'wir', dass der Osten uns das eingebrockt hat.
Richtig ist, dass 'die Ossis' oft herablassend behandelt und von windigen Geschäftsleuten hinters Licht geführt wurden (Versicherungen und so) und dass es ein arrogantes, auf Status und Besitz beruhendes Auftreten von Westlern gab (die Bananen und so), die jedoch anderen im Westen eher peinlich waren.
Ich glaube, dass es für eine Annäherung durchaus wichtig sein könnte, weil es sicher so ist, dass das Modell Westen als mehr oder weniger gesamtdeutscher Normalfall vorgesehen war und durchgezogen wurde und daher dem Westen mal mehr, mal weniger gelungen medial gezeigt werden sollte, wie 'der Osten' so tickt, aber man weiß eigentlich wenig darüber, wie der Westen in den 60ern bis Ende 80er so war.
Was dann erfolgt ist so eine m.E. falsche Rückwärtsprojektion, von den ersten gemeinsamen Jahren, auf die Zeit davor und das ist in meinen Augen eine erhebliche Verzerrung.
Ich kann aber natürlich nur meinem Dunstkreis berichten und die typische Lebensweise, Einstellung und Stimmung mit und in der ich aufwuchs, war bereits Mitte der 80er dabei sich auszudimmen, ein wesentlicher Faktor eines großen Zukunftsoptimismus war weggebrochen, die stille Überzeugung dass Forschung und Technik eine unendliche Quelle des glücklichen Fortschritts bedeutet. Erste Zweifel gab es bereits bereits Anfang der 1970er, Anfang der 80er kamen dann die Grünen, vorher gab es im Westen überhaupt keine Umwelt, die artikulierten eine potentielle Verletzlichkeit und Endlichkeit derselben dann breitet – wurden natürlich erst als Öko-Spinner gehandelt – 1986 dann zwei Explosionen, medial präsent: Erst explodierte die Challenger in der Wohnzimmern, dann Tschernobyl, wenige Monate später, einer der drei Motoren der Fortschrittsoptimismus fiel aus.
Wenn es Sie interessiert hier eine etwas längere Darstellung: Geschehen die Veränderungen in der Welt zu schnell?
In dieser nicht sonderlich guten Stimmung ereignete sich dann die Wende und Frau Fürstenberg kam zur Welt ...
Im Anblick der vielen um sich sprießenden Ost-Biografieverarbeitungen (so auch »Familie der geflügelten Tiger« von Frau Fürstenberg) stelle ich mir gelegentlich die Frage, wie eine typische West-Biografieverarbeitung aussehen würde. Ohne mich als politisch links orientierter Prekärer hier sonderlich sonderzustellen: Ein herausragendes Element wäre sicher der Verlust normalmarktwirtschaftlicher Zukunftsperspektiven im Zug der ab den Neunzigern aufgegleisten Durchneoliberalisierung. Anders gesprochen: Der Verlust von Zukunfts-Planbarkeit ist – ostpezifische Besonderheiten wie die »feindliche Übernahme« der DDR-Wirtschaft und vielleicht auch der flächengreifende rechte Diffushooliganismus einmal außen vor gelassen – ein Moment, welches Ost und West gleichermaßen trifft.
Möglich, dass westlicherseits auf einem höheren Niveau geklagt würde. Die Verödung kompletter Industrielandschaften setzte dort – abgesehen von einzelnen Hot Spots wie etwa der saarländischen Hüttenstadt Völklingen, in denen dieser Proezss bereits in den Achtzigern einsetzte – erst nach und nach und peu à peu ein. Anders gesagt fehlte hier das Schockerlebnis. Mittlerweile jedoch ist auch der Westen mehr oder weniger großflächig kaputt. Die klassischen westdeutschen Wohlstandsoasen – Beispiele: die Taunusregion oder auch der Hamburger Speckgürtel – täuschen nicht darüber hinweg, dass da, wo nicht gerade spekuliert wird oder sonstwie ein temporärer Boom sich auf grünen Wiesen verewigt – die soziale Schere das Heft in die Hand genommen hat.
Was der Westen – vielleicht – voraus hat, ist eine gewisse demokratisch-bürgerrechtliche Renitenzkultur. Siehe die Proteste etwa gegen Stuttgart 2020 oder, früher, die Frankfurter Startbahn West. Allerdings muß auch die nicht zwingend für die Ewigkeit sein. Gegenläufige Trends – wie etwa den im Rahmen von Hartz-IV obrigerseits angestachelten Hass gegen sogenannte »Lowperformer« – könnten die Entwicklung durchaus langfristig kippen. Letzten Endes ist das jedoch kein westspezifisches Problem. Die weitere Deckelung des (bescheidenen) Wohlstandsniveaus wird mehr oder weniger alle treffen – Ost wie West.
In dem Sinn: Schauen wir uns mit wachen Augen an, was aktuell gerade passiert.
„Den "Zeit"-Artikel kann ich nicht lesen, da er leider hinter einer Bezahlschranke, für mich nicht zugänglich ist“
Nein, ist er nicht. Ich habe auch kein Zeit-Abo, das ist einfach diese tägliche Stimmungsumfrage, aber vermutlich wurde die im link geändert/aktualisiert, also einfach über die Startseite gehen und anklicken (man muss dabei auch nicht mitmachen). Ich kann aber auch sagen, dass dort zu sehen ist, dass die Stimmung seit dem Shutdown massiv besser geworden ist.
„Das verraten aber nur die wenigsten, weil es wohl für viele noch ein Geheimnis ist, welches sie entweder (noch-) nicht wahrhaben wollen und immer noch davon ausgehen, das es dieses Geheimnis und somit auch gar nichts zu verraten gibt.“
Man hat die anderen als Projektionsfläche. Weiter schauen die meisten dann nicht, heute kommen noch die Migranten dazu, der Neoliberalismnus. die Superreichen, die Autokraten und so weiter.
„Liegt doch hier nun endlich auch die Möglichkeit, das Verlieren zu lernen, wenn die alten Weltbilder zusammenfallen.“
Oder eben einfach die Chance zu nutzen, neu zu denken, zu leben und das Beste aus all dem zu machen.
Sich nicht auseinader dividieren zu lassen, scheint mir dabei ein vorrangiger Punkt zu sein.
Liebe Frau Fürstenberg,
ich habe ihren Beitrag gerne gelesen, der zwar voller Widersprüche ist, aber dafür sehr authentisch.
Ich weiß nicht zurecht, womit ich anfangen soll. Vielleicht doch mit dem "Klo". Schauen Sie, in jedem System gibt es Menschen, die auf dem Klo sitzend "Umsatz" machen, d. h. sich mit Hilfe/Unterstützung von Anderen Vorteile verschaffen, ohne dafür in diesem genannten Augenblick etwas Produktives zu leisten. Hierzu können Menschen gehören, die andere Menschen für sich Arbeiten lassen, also sich auf deren Kosten bereichern oder die eine Vorleistung schon erbracht haben und jetzt auf dem Klo sitzend deren Früchte ernten. Zum Beispiel, so wie Sie! Wenn Ihr Roman gekauft wird, während Sie, Sie wissen schon, dann machen Sie Umsatz, den Sie voll und ganz verdient haben.
An meinem Namen werden Sie sehen, dass ich diesen wunderbaren "Hintergrund" habe. Und hier sehe ich bei Ihnen viele Parallelen zu diesen Menschen. Nicht alle, aber viele von ihnen führen alles Negative, die ihnen widerfährt, auf ihren Hintergrund. So lässt sich natürlich sehr gut leben, weil man sein eigenes Handeln gar nicht hinterfragen muss.
Und weil wir hier unter sind, darf ich verraten, dass mir nie in den Sinn käme, die Frau, die mir heute sehr nah ist , als jemand aus dem Osten zu betrachten, obwohl sie tatsächlich in der DDR sozalisiert wurde. Dass Ihr Freund nach so vielen Jahren immer noch in diesen Kategorien denkt und Sie sich für ihn entschieden haben, wunder mich aber schon.
Liebe Frau Fürstenberg, Sie sind kein Ospe , kein Wespe und noch nicht mal eine Deupe. Sie sind ein Mensch, ein liebenswürdiger Mensch. Alles Gute für Sie!
Eine DDR-Identität kann es nur für Bürger im Osten geben, die 50 Jahre und älter sind. Jüngere aber spüren die "kolonialen" Nachwehen der BRD und der gefühlte Verlust von Sicherheiten ihrer Eltern. Das, was wir wirklich 1990 versäumten war eine gemeinsame Verfassung für Ost und West. Ein historischer Fehler. Nur die hätte eine neue deutsche Identität gestiftet.