Garrone bedient die traditionellen Tropen des Abenteuerfilms: Seine Heroen ziehen von einer Herausforderung zur nächsten
Foto: Greta de Lazzaris/X Verleih
Moussa und Seydou haben einen Schatz versteckt: ein Geldbündel, gespart für ihren Aufbruch. Wie viele andere träumen die zwei Jungs aus Senegal davon, im Ausland sozial aufzusteigen und die Daheimgebliebenen finanziell unterstützen zu können. Am Ende ihrer Reise nach Europa, die der italienische Regisseur Matteo Garrone, bekannt vor allem durch die Adaption von Roberto Savianos Gomorra (2008), in seinem neuen Film stationenhaft skizziert, bleibt von diesem Traum nur der Kampf ums nackte Überleben.
Nachdem Ich Capitano unter anderem auf dem Filmfestival von Venedig im vergangenen Jahr den Silbernen Löwen gewann und später für einen Oscar in der Kategorie „Bester internationaler Film“ nominiert wurde, stellt sich die Frage, was ein solc
sich die Frage, was ein solches Werk überhaupt leisten kann. Vor allem in Zeiten, in denen die Ursachen für Flucht- und Migrationsbewegungen fortbestehen und wachsen und man in Europa unverhohlen über Repressionen, Abschiebungen und Abschottungsmethoden diskutiert, als wäre damit lokal oder global irgendetwas gelöst.Zwischen Mali und NigerEine mögliche Antwort lautet schlicht: Empathie. Zunächst einmal kann ein Film die Rolle der Betroffenen einnehmen, kann Perspektivwechsel vollziehen. Aber welche Möglichkeiten für eine Reaktion vonseiten der Zuschauenden schließt er in seinem künstlerischen Konzept ein? An welchen Punkten vermag eine Kinoproduktion, Denkmuster aufzubrechen, Erfahrungen und Einsichten zu vermitteln? Wie prägt sie ein gesellschaftliches Nachdenken und Sprechen über Flucht und Migration?Betrachtet man die Struktur von Garrones neuem Film, findet man ein zwiespältiges Unterfangen vor. Ich Capitano rechnet auf angemessene Weise mit der politischen Bagatellisierung der Strapazen ab, die Menschen bereit sind, auf sich zu nehmen, um ihren vorherigen Lebensumständen zu entkommen. Die anfängliche Euphorie der zwei Helden des Films kippt während ihrer Odyssee erstmals an der Grenze zwischen Mali und Niger. Dort müssen sie sich entscheiden zwischen 50 Dollar oder Gefängnis – Wächter erkennen die gefälschten Pässe von Moussa und Seydou und fordern Schweigegeld. Wenig später zeigt Garrone die jungen Männer aus Senegal, wie sie an korrupte Schlepper geraten, die Schutzsuchende abzocken und erbarmungslos in die Wüste schicken. Menschen, die unterwegs vom Transporter stürzen, werden achtlos zurückgelassen. Wenn der Wind durch die Sahara fegt, liegen dort Leichen im Sand, Überreste derer, die ihr Leben in der sengenden Hitze verloren haben. Und es dauert nie lang, bis die nächsten Gewalttäter auftauchen, um die Hilflosen auszubeuten.Mitleid, Nähe, SensationslustDas Leid der Flüchtenden als Spielfilm auf die Leinwand zu bringen, kann Nachrichtenbilder, Texte und Zahlen mit Leben füllen; ein Film kann auf diese Weise Biografien aus der anonymen Masse herauslösen und ein Bewusstsein für verdrängte Schicksale schaffen. Ich Capitano ist bei der Frage nicht allein, inwiefern sich dabei auch noch zwischen Repräsentation, Mitleid, Nähe und reißerischer Sensationslust eine Balance finden lässt. Überhaupt, ob das bloße Abbilden jenes Leids dessen globalen Hintergründen gerecht wird? Oder ob es nicht noch andere Verflechtungen und Gegenüberstellungen braucht, um mit gegenwärtigen Diskursen und Mythen Schritt zu halten oder sie zu verkehren?Filmschaffende wie Agnieszka Holland, Brandt Andersen und Gianfranco Rosi näherten sich dem Thema in den vergangenen Jahren beispielsweise über Formen der Parallelisierung und Multiperspektivität. So überkreuzt Hollands Green Border in brutalen Schwarz-Weiß-Episoden die Wege von Geflüchteten, Grenzschützern und Aktivisten an der polnisch-belarussischen Grenze (der Freitag 5/2024). Andersens The Stranger’s Case (2024) erzählt ähnlich sprunghaft und fragmentarisch von der Flucht einer Ärztin aus Syrien, bei der verschiedene Perspektiven und Kapitel wiederholt abreißen und sich über Kontinente hinweg neu zusammensetzen. Und Gianfranco Rosi nutzt in seinem Berlinale-Gewinner Seefeuer (2016) die Wucht einer nüchtern eingefangenen Gleichzeitigkeit: Er porträtiert den Alltag der Bewohner auf Lampedusa, während die humanitären Katastrophen im Hintergrund zur Normalität gehören.Nicht alle dieser Filme sind gleichermaßen stark gelungen, doch sie bergen in ihrer Verzahnung von Normalität und Ausnahmezustand produktive Spannungen, die nicht nur zur Reflexion der eigenen Perspektive, sondern auch möglicher Brüche in der (filmischen) Wahrnehmung einladen. Ich Capitano erscheint im Vergleich dazu in seinen Mitteln zu konventionell gestrickt, um ähnliche Dimensionen erreichen zu können. Garrones Drama hat sich gewissermaßen ästhetische Scheuklappen angelegt. Der Film will Hässliches bloßstellen und sucht dabei doch durchweg das Schöne. Wenn sich Flüchtende vor dem Wüstenhimmel in Schattenrisse verwandeln oder eine Tote gespenstergleich durch die Luft schwebt – Garrone hatte schon in früheren Werken den Hang zur Fantastik –, dann ist das bildgewaltig inszeniert, spielt der entlarvenden Haltung des Films aber nicht gerade in die Hände.Für die Aufnahmen von Kameramann Paolo Carnera macht es im Grunde keinen Unterschied, ob sie gerade zärtliche Gesten zwischen Freunden oder Folterszenen im Gefängnis zeigen. Ihre jederzeit perfekt ausgeleuchtete, auf Hochglanz polierte Gleichförmigkeit sucht eine Anmut, die schlicht konsumierbar werden lässt, was sich eigentlich einem generischen Spielfilm-Illusionismus entziehen sollte. Die Empathie, die Ich Capitano doch vermeintlich erzeugen möchte,verliert sich auf diese Weise in einem Abenteuerfilm, der kaum Platz für echte Reibung oder größere thematische Vernetzungen lässt.Mit welchen Hürden die Figuren nach ihrer gefährlichen Reise über das Mittelmeer wahrscheinlich zu kämpfen haben, davon will der Film gar nicht mehr berichten. Sein trügerisch triumphales Ende birgt zwar gewisse Unsicherheiten, doch an den Konfliktlinien, wo er für Rezipienten, gerade in Europa, eigentlich brisant und aufrüttelnd werden könnte, also wo es um Fragen der Seenotrettung, der Abweisung oder Integration ginge, schafft er sich mit seinem offenen Ende seine eigene Leerstelle, die vom Publikum gefüllt werden soll.Als zweifellos ergreifend gespieltes Mahnmal öffnet Ich Capitano die Augen für Missstände, die er in seinem Fokus zugleich wieder externalisiert und abkoppelt, wie es auch in öffentlichen Debatten und Talkshows gern getan wird. Seine Kritik zeigt kriminelle Schleuser und Folterer als konsensfähiges Feindbild. Größere politische Strukturen, die keine Alternativen und Hilfestellungen ermöglichen oder solche brutalen Szenarien teils bewusst in Kauf nehmen, bleiben erzählerisch weitgehend unangetastet. Das ist insofern ärgerlich, als seine Muster vor allem der Logik beschönigender Heldenerzählungen folgen und empathisches Denken in altbekannten Motiven und Klischees ruhen lassen.Garrone bedient die traditionellen Tropen des Abenteuerfilms. Seine Heroen ziehen von einer Herausforderung zur nächsten, um sich zu beweisen, Widerstände zu überwinden und Verantwortung zu übernehmen. Anfängliche Skeptiker sollen eines Besseren belehrt werden. Gefeiert werden der Kampfgeist und Lernprozess der Einzelnen, von denen sich andere in der Ferne zunächst nicht allzu sehr behelligen lassen müssen.Politische Schlagkraft kann das Kino jedoch gerade dort entwickeln, wo dezidiert Fremdes und Eigenes, verschiedene Welten kollidieren. Dem deutschen Regisseur Jonathan Schörnig gelingt dies etwa in seinem grandiosen Dokumentarfilm Einhundertvier, der erst Ende Mai in den deutschen Kinos starten wird. Einhundertvier setzt genau dort an, wo Ich Capitano endet, und zeigt eine Seenotrettung in Echtzeit, aufgeteilt in Splitscreen-Kacheln, die den Blick permanent neu justieren lassen. Sie führen nicht nur erschütternd die Rollen und Machtdynamiken einer solchen Begegnung auf hoher See vor, wo es um Leben und Tod geht – ganz ohne plumpe dramaturgische Kniffe oder Psychologisierungen. Sie lassen ebenso mit vielfach gebrochenen Perspektiven quasi live bei der Bildentstehung und deren moralischer Reflexion zusehen.Ein solches Kino wie Einhundertvier kann nicht nur über die Verantwortung und Möglichkeiten des Mediums nachdenken, sondern schockartig offenlegen, was Solidarität in einem grenzüberschreitenden Kontext ganz praktisch und real meinen könnte, wo sie zwingend wird und wiederum anderen Zwängen unterworfen ist. Fernab von bloßem Mitgefühl. Ich Capitano dagegen lässt davon höchstens Ahnungen übrig. Seine wohlwollende Konfrontation ist eine, die vorrangig auf ein Jenseits des Kinosaals verweist. Dessen Inneres, das Kinopublikum, genügt sich derweil allzu oft darin, Benachteiligte in einem spektakulären Durchhalte-Narrativ zu bejubeln. Konflikte und Hilferufe bleiben damit ästhetisch in bequemer Distanz und verhallen in den Übergangszonen, in die sich Filme wie Ich Capitano, Green Border und Co. begeben: Meeresweiten, Sandlandschaften, Wälder, Zwischenräume, in denen der Mensch darum kämpft, als solcher gesehen zu werden.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.