„Ich glaube an den Aufstand des Gewissens“

Interview Jean Ziegler diskutiert mit Jakob Augstein über Religion, die Chancen für eine neue Weltgesellschaft und die Defizite der Linken
Ausgabe 17/2015
Jean Ziegler: „Außer der Bergpredigt braucht man in der Bibel nichts zu lesen“
Jean Ziegler: „Außer der Bergpredigt braucht man in der Bibel nichts zu lesen“

Foto: Sven Simon/Imago

Jakob Augstein: Sie hießen Hans Ziegler, sie kamen aus einem großbürgerlichen Haushalt und sie waren protestantisch. Inzwischen heißen Sie Jean Ziegler, Sie haben sich Ihr ganzes Leben lang für die Armen eingesetzt und Sie sind katholisch.

Jean Ziegler: Nicht mehr.

Augstein: Trotzdem: Was bedeutet die Religion für Sie?

Ziegler: Die Antwort ist einfach. Victor Hugo hat gesagt: „Ich hasse alle Kirchen. Ich liebe die Menschen. Ich glaube an Gott.“

Augstein: Lesen Sie die Bibel?

Ziegler: Nein, außer der Bergpredigt sollte man da nichts lesen. Was da in dem Alten Testament steht: Rache, Zerstörung, damit will ich nichts zu tun haben. Aber über Existenz, Glauben Unendlichkeit oder Auferstehung – darüber rede ich gerne.

Augstein: Papst Franziskus wäscht Armen die Füße und fährt ein altes, klappriges Auto. Wenn der sagt: Ich möchte selber mal wieder im Supermarkt einkaufen, dann nimmt man ihm das ab. Das ist doch ein glaubwürdiger Mann ?

Ziegler: Über Franziskus kann ich nichts sagen, den kenne ich nicht. Aber über den Vatikan habe ich eine Meinung. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Und in diesem Feudalstaat gibt es Kunstwerke, die viele, viele Millionen Euro wert sind. Wenn der Papst erst mal all diese Dinge verkauft hat und das Geld den hungernden Kindern gibt, dann können wir reden.

Zur Person

Jean Ziegler ist einer der bekanntesten Globalisierungskritiker und Autor vieler Bücher. Seit vielen Jahren engagiert er sich gegen weltweiten Hunger und Armut. In seinem neuen Buch Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen blickt Jean Ziegler zurück auf sein Leben

Augstein: Ist Polemik immer ein angemessenes Instrument in der Debatte? Sie liegt Ihnen ja sehr, wie man merkt,

Ziegler: Also ich stamme ja aus der Schweiz. Das ist ein besonders verkorkstes Land mit einer wunderschönen Landschaft…

Augstein: …ein Land, das nicht gerade berühmt ist für seine polemische Kultur.

Ziegler: Wenn man nicht im eidgenössischen Konsenssumpf untergehen will, dann muss man schon deutlich reden, damit überhaupt jemand zuhört. Was Sie Polemik nennen, das ist milieubedingt.

Augstein: Ihr Vater war Gerichtspräsident in Thun. Sind sind in einer sehr bürgerlichen Umgebung groß geworden. Später sind Sie durch die Favelas gegangen und haben sich gegen Armut engagiert. Das war Ihnen nicht in die Wiege gelegt, oder?

Ziegler: Meine Mutter war eine Bauerntochter, überhaupt nicht kultiviert, aber sehr klug und temperamentvoll. Mein Vater war das Gegenteil: sehr introvertiert, sehr kultiviert. Sie haben sich sehr geliebt, und wenn sich die Eltern lieben, dann geht’s ja gut. Aber da gab es ein Ereignis, das zum Bruch geführt hat. Es gab in der Gegend die sogenannten Verdingkinder. Die Kleinbauern mussten ihre Kinder praktisch an Großbauern verkaufen, damit sie überleben konnten. Die konnten nicht zur Schule gehen, sondern mussten um vier Uhr morgens Kühe melken, sie wurden sexuell missbraucht, geprügelt. Ich fragte meinen Vater, warum das so sei, und er antwortete: Gott hat das so gewollt. Er war Calvinist. Ich war 13 Jahre alt und habe plötzlich mein ganzes Leben vor mir gesehen. Studieren, Anwalt in Thun, eine Frau haben, Kinder zeugen, Sparheft auftun und dann kommt der Tod. Da konnte ich nur meinen Vater beschimpfen und weglaufen. Ich schäme mich dafür heute noch, weil er ein liebender Mensch war.

Augstein: Ist Ihre Triebkraft ein schlechtes Gewissen?

Ziegler: Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind. Sie müssen sich nur diese kannibalische Weltordnung anschauen, in der wenige Finanzoligarchen mehr als die Hälfte all dessen kontrollieren, was jedes Jahr weltweit produziert wird. Diese unglaubliche Monopolisierung von Reichtümern und Macht. Mehr als eine Milliarde Menschen sind permanent unterernährt, im vergangenen Jahr sind 14,8 Millionen Menschen am Hunger gestorben. Und das in einer Welt, die von Reichtum überquillt. Das kann ich nicht akzeptieren.

Augstein: Wenn Sie zurückgucken auf Ihr Leben: War das ein nützliches Leben?

Ziegler: Da antworte ich Ihnen mit Brecht. Eines Tages geht Brecht mit einem Freund spazieren und der Freund fragt: Exil, Armut, die Angst vor den Nazis, die mühselige Arbeit an den Theaterstücken – was hat das genützt? Brecht denkt nach und sagt: Ohne uns hätten sie’s leichter gehabt.

Augstein: In Ihrem neuen Buch schreiben Sie von der planetarischen Zivilgesellschaft. Was meinen Sie damit?

Ziegler: Also die neue planetarische Zivilgesellschaft besteht aus vielen verschiedenen sektoriellen Widerstandsfronten gegen die herrschende kannibalische Weltordnung. Das sind soziale Bewegungen, die plötzlich, geradezu mysteriös aufgetreten sind. Zum Beispiel die Attac-Bewegung gegen das spekulative Finanzkapital. Sie wurde vor elf Jahren in der Technischen Universität in Berlin gegründet. Heute ist Attac eine Macht. Die Greenpeace-Bewegung ebenso wie die Frauenbewegung. Oder die Via Campesina – 142 Millionen Pächter, Kleinbauern, Taglöhner von Honduras bis Indonesien, die gegen den Landraub durch die Konzerne in Afrika und in Südasien kämpfen. Die finden sich einmal im Jahr zusammen, im Weltsozialforum. Diese Bewegungen gehorchen keiner Parteilinie, keinem Zentralkomitee, sondern nur dem moralischen Imperativ.

Augstein: Trotzdem nimmt die Ungleichheit, die Ungleichverteilung von Gütern und Ressourcen, von Vermögen und Reichtum nicht ab, sondern zu. Und zwar weltweit.

Ziegler: Es ist ein langer Kampf, der da im Gange ist. Als der Feudalismus in sich zusammenbrach, hat Immanuel Kant dazu gesagt: Wir stehen an der Abbruchkante der Zeit. 250 Jahre später stehen wir wieder an einer Abbruchkante. Wenn nämlich der raubtierkapitalistische Dschungel die Oberhand gewinnt, wenn es so weitergeht mit Willkürherrschaft, unglaublicher Monopolisierung der Vermögenswerte und dem Massensterben, dann ist diese Weltordnung irgendwann am Ende. Dann geht die Demokratie kaputt, dann ist die Aufklärung am Ende, dann wird es auch uns nicht geben, außer vielleicht noch im Museum.

Augstein: Warum haben es die Linken nicht geschafft, etwas dagegenzusetzen?

Ziegler: Nun, das Problem ist, dass viele von uns an die eigene Ohnmacht glauben. Das haben uns die Kommunikationsfritzen des Neoliberalismus so eingeredet. Aber das ist ja nicht überall der Fall. Deutschland ist die lebendigste Demokratie in Europa, die drittgrößte Wirtschaftsmacht weltweit. Da gibt es keine Ohnmacht. Das Grundgesetz gibt uns die demokratischen Waffen in die Hand, um die Mechanismen, die die Welt verwüsten, zu brechen. Der große Willy Brandt hat mal zu mir gesagt: Sei geduldig. Von Wahl zu Wahl steigt bei den Leuten das Bewusstsein, dass sich etwas ändern muss.

Augstein: Die SPD liegt heute bei 25 Prozent. Das hat offenbar nicht so ganz funktioniert.

Ziegler: Ich glaube nun einmal an das neue historische Subjekt, die revolutionäre Kraft der Zivilgesellschaft.

Augstein: Dann verstehe ich nicht, warum Sie sagen: Deutschland sei die lebendigste Demokratie von allen. Die Leute haben hier zwar die Wahl, aber sie stimmen freiwillig gegen ihre eigenen Interessen. Sie, lieber Herr Ziegler, beschäftigen sich ja immer mit der ganzen Welt. Mir ist das zu groß, da geh ich verloren. Mir reicht es schon, mich mit diesem Land zu beschäftigen. Hier nimmt die Ungleichheit drastisch zu. In Nordrhein-Westfalen wächst jedes fünfte Kind in Armut auf. Das ist das drittreichste Land der Welt, das ist Ihre lebendige Demokratie. Sie haben in Ihrem neuen Buch geschrieben: Der Zorn facht den Aufruhr an, wie der Wind das Feuer. Aber es gibt keinen Zorn in Deutschland, nirgendwo. Statt dessen können Sie überall in der Zeitung lesen, wie gut es uns geht. Irgendetwas haut doch da nicht hin.

Ziegler: Wir sind am Anfang dieses Kampfes.

Augstein: Ich würde eher sagen, wir sind am Ende.

Ziegler: Ich lade Sie ein: Kommen Sie im Juni doch nach München da versammeln sich Aktivisten und viele soziale Bewegungen zum Gegengipfel, während sich im bayrischen Schloss Elmau die Staats- und Regierungschefs der G7 treffen. Es wird sehr viele Gegenaktionen geben. Beim letzten G7-Gipfel in Deutschland, 2007 in Heiligendamm, war ich ebenfalls dabei, weil ich eine Rede im Rostocker Dom gehalten habe. Das war schon sehr eindrucksvoll, die vielen Demonstranten zu sehen. Es waren Zehntausende, die jenseits der Absperrungen und des Stacheldrahts auf den Beinen waren. Es gab unglaublich lebendige Diskussionen. Und der Münchner Gegengipfel wird noch eindrücklicher werden, die Mobilisierung der Menschen wird noch größer sein, ebenso wie die radikale Verweigerung des Ohnmachtdenkens.

Augstein: Sie sind wirklich ein Optimist.

Ziegler: Nein, ich bin kein Optimist. Ich bin ein ganz banaler Soziologe, der versucht, die Welt und die Kräfteverhältnisse, die darin herrschen, zu analysieren.

Augstein: Und ich bin Journalist und schreibe darüber, was in diesem Land geschieht. Hier gibt es die Alternative für Deutschland mit ihrem Chef Bernd Lucke. Das ist dieser freundliche Mensch mit den schrecklichen Überzeugungen. Die AfD wächst. Der Rechtspopulismus ist in Deutschland angekommen. Wir haben die Pegida, die gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes demonstriert. Das sind doch die Auswüchse des Zorns, vom dem Sie sprechen. Wenn in Deutschland der Zorn aufkommt, dann wird es ein rechter Zorn, kein revolutionärer. Wie gehen wir mit diesen Leuten um, wie lenken wir deren Zorn in ein gutes Ziel um?

Ziegler: Was Sie sagen, ist sicher berechtigt. Es kann alles falsch laufen, die schlimmsten Sachen können passieren. Darf ich als Antwort auf Ihre Frage Antonio Machado, den spanischen Lyriker, zitieren? September 1939, Barcelona brennt, Franco und seine Faschisten haben gewonnen und die letzten Überlebenden fliehen ins ganz und gar unsichere französische Exil. In einer der Flüchtlingsgruppen läuft Machado und pfeift fröhlich vor sich hin. Ein Gefährte sagt: „Also, Antonio, wie kommt das? Die Stadt brennt, deine Familie ist wahrscheinlich verschollen. Wir haben total verloren.“ Und Machado sagt: „Ich wandere, es gibt keinen Weg. Den Weg bahnst du im Gehen.“ Genau das ist es: Was die Menschen aus der Freiheit machen, ist das Mysterium der Geschichte. Das kann keiner voraussagen.

Augstein: Sie glauben an die Revolution?

Ziegler: Ich glaube an den Aufstand des Gewissens.

Gekürzte und bearbeitete Version eines Gesprächs auf WDR 5

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