Ich habe nie von Utopien geredet

STEFAN HEYM Der Schriftsteller Stefan Heym über das Ende der DDR und die Gefahren aufgestoßener Fenster

FREITAG: Hatten Sie am 4. November 1989 in Berlin dieses Gefühl des Erwachsengeworden-Seins: "Wir sind d a s Volk" oder ahnten Sie, dass es bald heißen würde: "Wir sind ein Volk?"

STEFAN HEYM: Ich persönlich hatte natürlich den Wunsch, dass aus der DDR, sagen wir mal, ein vernünftiger sozialistischer Staat entstehen würde. Ohne die bekannten Mängel. Ein Kollege aus dem Westen, der bei der Demo dabei war, Rolf Hochhuth, fragte, warum denn keiner von der Einheit rede. Und die Christa Wolf erwiderte ihm: Das steht doch gar nicht auf der Tagesordnung. Und tatsächlich: Das stand es ja auch nicht. Das wurde meiner Meinung nach bewusst hineinmanipuliert in den Tagen nach dem 4. November. Ich glaube nicht, dass dieses ein Volk von sich aus entstanden ist, sondern dass da Leute dahinter standen, die etwas von psychologischer Kriegführung verstanden.

War nicht eher die dann folgende rasche Grenzöffnung eine Ursache dafür, dass die Emanzipation der Ostmenschen nicht weiter voranschritt?

Es war eine Frage von Bananen und Reisen. Aber die Leute, die damals am 4. November sich zusammentaten und die Mehrheit der Redner stellten, die haben fühlbar werden lassen: Wir wollten eine andere DDR, nicht ein Deutschland. Aber wenn ein Deutschland, dann sollte dieses Deutschland aus zwei gleichberechtigten Teilen zusammengesetzt sein und nicht so, dass der Größere und Mächtigere den Kleineren verschluckte.

Was vielen vor Jahren noch unvorstellbar schien: Sie haben schon während eines Schriftstellertreffens 1982 eine Vereinigung für möglich gehalten.

Ich glaubte an die Chancen der Einheit. Das deutsche Volk ist immerhin über lange Jahrhunderte ein Volk gewesen. So etwas wirkt sich natürlich aus. Aber nach 1945 ergab sich dann in einem Teil dieses Deutschlands die Möglichkeit, etwas Neues zu schaffen, eben diesen so genannten Sozialismus. Und die Frage war, wenn man die Einheit wieder herstellte: Wie sollte dann die staatliche und die wirtschaftliche Organisation des Landes sein? Und sollte man die Formen des einen Staates auch auf den anderen Staat übertragen, oder sollte man zu einer Kombination kommen? Die hätte durchaus nicht künstlich sein müssen.

Wie hätte eine solche Kombination aussehen können?

Meine Vorstellung wäre gewesen: In der Form demokratisch, und wirtschaftlich gesehen eine Kombination von sozialistischen und kapitalistischen Elementen. Im einzelnen hätte man sich darüber natürlich unterhalten müssen.

Was war für Sie die schönste, aufregendste Zeit in Ihrem Leben?

Das war 1945. Der Sieg über Hitler. Ich glaubte damals, dass die Welt von da an Frieden haben würde.

Mit welchen Erwartungen sind Sie nach dem Krieg aus den USA zurückgekehrt in den östlichen Teil von Deutschland?

Mit der Erwartung, dass sich Demokratie und Sozialismus durchsetzen lassen würden.

Schon bald aber gerieten Sie in Widerstreit mit den Mächtigen der DDR. Warum nur fürchteten die Ihre Bücher so?

Arbeiter hatten eigentlich immer Respekt vor Büchern, vor der Literatur. Ihre ersten Führer waren Schriftsteller: Marx, Lassalle, Engels. Die Regierenden in der DDR wünschten sich also, dass die Schriftsteller auf ihrer Seite stünden und so schrieben, wie sie es sich vorstellten. Wenn einige Schriftsteller aber anderer Meinung waren und das auch zum Ausdruck brachten, so war das natürlich peinlich, weil man annahm, dass diese Schriftsteller, allein durch die Tatsache, dass sie Schriftsteller waren, eine Wirkung hatten. Die Menschen haben in Büchern gesucht, was sie im Alltag nicht fanden.

Heute ist der Büchermarkt für viele unüberschaubar geworden. Lässt auch die Wirkung von Literatur nach?

Ich glaube, dass man anfänglich schon die Möglichkeiten der Wirkung von Büchern überschätzte. Ich habe immer gefunden, dass einzelne Bücher auf einzelne Menschen gewirkt haben, auf andere gar nicht, jedenfalls wirkten sie auf ganz verschiedene Art. Bücher und Literatur sind kein Agit-Prop, sind auch nicht gleichzusetzen der heutigen Reklame für Zigaretten oder Parfums. Aber in den regierenden Kreisen der DDR glaubte man tatsächlich, dass, wenn ein Schriftsteller einen bestimmten vorbildhaften Typ beschrieb, die Leser dann die Eigenschaften dieses vorbildhaften Typen für sich adaptieren würden. Ich habe das mal sehr drastisch beschrieben: In Mark Twains "Huckleberry Finn" werden irgendwelche Heringe gestohlen. Das bedeutet doch nicht, dass nun alle DDR-Knaben im Alter von elf Jahren Heringe klauen oder Kaugummi. Bloß, weil es im "Huckleberry Finn" gestanden hat. Aber indem man an die Vorbildwirkung der Literatur glaubt, erlegt man sich selbst den Zwang auf zur Zensur.

Sie haben zwei Diktaturen in Deutschland überlebt.

Ich habe Glück gehabt. Im "Pargfrider", meinem im vergangenen Jahr veröffentlichten Roman, beschrieb ich es so: Wenn mich einer fragte, was ich als die größte Leistung eines Menschen unseres Jahrhunderts betrachte, würde ich sagen: dass er es fertiggebracht hat, bis dato zu überleben.

Die beiden Diktaturen werden nicht selten miteinander verglichen. Wie sieht das ein jüdischer Schriftsteller?

Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, die beiden in einen Topf zu werfen. Die Nazis hatten die selbstgeschaffene Funktion, den Kapitalismus zu schützen, ihn auch zu benutzen, jedenfalls, sie waren verheiratet mit ihm. Die Kommunisten dagegen wollten eine andere wirtschaftliche und finanzielle Ordnung. Also, sie waren das genaue Gegenteil.

Und wie reagieren Sie, wenn andere dennoch ein Gleichheitszeichen daraus machen wollen?

Ich kann mich doch nicht jedes Mal aufregen, wenn Leute Dummheiten reden. Dass es gewisse Methoden der beiden Diktaturen gegeben hat, die einander ähnelten, hat seine historischen Wurzeln. Da muss man nur die Entstehungsgeschichte der russischen Revolution ein bisschen erforschen, um festzustellen, dass es von vornherein deutsch-russische Verbindungen gegeben hat. Ich habe das in dem Roman "Radek" getan.

Warum sind Sie eigentlich nie auf die Idee gekommen, dem Staat DDR für immer den Rücken zu kehren?

Ich habe darüber öfter geschrieben: Wieso sollte ich gehen? Ich hegte schon sozialistische Gedanken, als ein Großteil der Leute, die später dann angeblich den Sozialismus verfochten, noch ganz etwas Anderes dachten. Also, wenn jemand aus dem Land gehen sollte, dann die und nicht ich. Außerdem war ich der Meinung, dass man dem wirklichen Sozialismus nicht hilft, wenn man wegläuft. Die große Mehrzahl der Leute, die in den Westen gegangen sind, haben sich doch selber von der Entwicklung ausgeschlossen. Und wenn ich also durchaus in den Kapitalismus wollte, dann brauchte ich ja nur hier in Grünau zu sitzen und zu warten, bis er herkommt, nicht?

Haben Sie gewusst, dass er kommt?

Das nicht, aber die Gefahr bestand immer.

Vor fast genau zehn Jahren protokollierten Sie gemeinsam mit Ihrer Frau Inge "Flüchtlingsgespräche" in einem Aufnahmelager in Gießen. "Wofür lebst du hier?" hatte einer der Flüchtlinge selbstvergessen gefragt. Was würden Sie heute antworten, was ist unentbehrlich für ein erfülltes Leben?

Es gibt keine generelle Antwort. Für mich sind es die Liebe und die Arbeit. Ich habe eine sehr liebe, schöne und treue Frau, die mir viel geholfen hat, besonders jetzt, als ich so krank war. Und meine Arbeit kennen Sie ja.

Ihre Phantasie und Energie scheinen unerschöpflich. Sie sind sehr produktiv.

Andere Schriftsteller produzieren viel mehr als ich. Ich versuche, so viel wie möglich zu schaffen. Manchmal fühlt man sich besser, manchmal schlechter. Manchmal fällt einem was ein, manchmal fällt einem nichts ein.

Nach der Wende gehörten Sie zu den Initiatoren des Aufrufs "Für unser Land". Manche werfen Ihnen vor, sie schleppten die DDR immer noch mit sich herum.

Also, das ist totaler Unsinn. Ich denke oft an die DDR zurück und frage mich, ob man nicht viele Dinge hätte besser oder anders machen können. Vielleicht ging manches beim besten Willen nicht. Die Abhängigkeit von der Sowjetunion war gegeben. Als sie nicht mehr mitspielte, war die Sache ja kaum mehr zu halten. Da hätte man lange vorher für seine Unabhängigkeit mehr tun müssen. Es fehlte auch Mut. Mut zur Selbständigkeit, zum selbständigen Denken. Mut, Dinge auszusprechen, die man für richtig hielt. Mut, Dinge zu kritisieren, die man hätte abschaffen müssen. Die DDR war eben ein Stück Deutschland mit nicht nur den guten, sondern auch mit den schlechten deutschen Eigenschaften.

Sie zogen 1994 für die PDS in den Deutschen Bundestag ein. Bereuten Sie es, angesichts der Stasi-Diffamierungen und der versteinerten Gesichter jener, die sie vor Jahren als Dissidenten der DDR feierten?

Ich bin gar nicht der geeignete Mann dafür, gefeiert oder hofiert zu werden. Sehen Sie, ich habe mich nie benutzen lassen. Weder von denen hier, noch von denen drüben.

Und die Stasi-Anwürfe?

Ich bin so viel beschimpft worden in meinem Leben, und ich hatte doch die Gelegenheit, es zurückzuweisen, konnte nachweisen, dass diese Vorwürfe aus nichts als Lügen und falschen Konstruktionen bestanden.

Was haben Sie empfunden, während Sie als Alterspräsident des Bundestages die Eröffnungsrede hielten?

Es war ein sehr interessantes und nicht unangenehmes Gefühl. Ich hatte da etwas, was man im Englischen als captive audience bezeichnet. Captive heißt gefangen. Audience heißt Zuhörerschaft. Also ich hatte ein Publikum, das mir ausgeliefert war. Es konnte nicht ausreißen. So ein Publikum zu haben, ist immer angenehm. Dass sie eigentlich hätten aufstehen sollen und klatschen, das habe ich gar nicht gewusst, dass das eine ungeschriebene Regel war im Bundestag, dass man den Alterspräsidenten auf solche Art begrüßte. Ich habe also gar nicht vermisst, dass sie es nicht taten. Ich war schon froh, dass sie mich nicht ausgebuht haben, nicht ge schrien haben "Raus" oder mich gar mit antisemitischen Rufen begrüßten. Immerhin haben sie schön still gesessen.

Sie haben Ihr Mandat bald darauf zurückgegeben.

Mit der PDS hatte das nichts zu tun, ich habe die auch nicht gefragt. Ich fand, dass eine Schar von Leuten, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich selber ihre Gehälter zu erhöhen, denn dazu hatten sie die Macht, und in die Taschen des Volkes zu greifen, dass dies nicht die Leute sind, an deren Spitze ich in einer repräsentativen Funktion zu stehen wünschte. Da ich aber nicht als Alterspräsident zurücktreten konnte, weil ich ja der älteste Mann im Bundestag blieb, war ich gezwungen, als Abgeordneter zurückzutreten. Aber es tut mir leid zu sagen: Es hat nichts genützt. Die haben sich in keiner Weise geniert und doch ihre Gehälter erhöht, die eigentlich schon hoch genug waren. Ich habe auf dieses Gehalt dann verzichtet.

Haben Sie die Hoffnung, es könnte noch einmal jemand in Deutschland ein Fenster aufstoßen?

Damals, am 4. November vor zehn Jahren, habe ich mich so gefühlt, als hätte jemand ein Fenster aufgestoßen. Aber deshalb kann ich nicht dauernd die Fenster aufstoßen und mich in die Zugluft setzen. Auf der anderen Seite aber braucht man Luft zum Atmen.

Und wenn es wieder zu stickig wird: Sehen Sie eine Alternative?

Die Welt bleibt doch nicht stehen. Was kommen wird oder wie es sich entwickeln wird, kann man nicht voraussagen. Da wirken viel zu viele Kräfte zusammen, und man weiß nicht, welche das Übergewicht gewinnen werden. Es hat Zeiten gegeben, in denen man annahm, dieser Kapitalismus sei längst erledigt. Aber dafür ist er noch ganz schön lebendig. Wenn auch zum größten Teil auf höchst schauderhafte Art.

Haben also auch Sie die Utopien begraben?

Wissen Sie, das ist so ein Schlagwort. Ich habe Jahrzehnte meines Lebens damit verbracht, dass ich nie von Utopien geredet habe. Das Wort haben dann wohl irgendwelche Zeitungsleute erfunden. Natürlich gibt es so etwas wie eine Utopie. Aber jeder hat seine.

Glauben Sie noch an einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz?

Wenn es Sozialismus geben soll, dann muss er so sein, dass die Menschen dafür sein können mit gutem Gewissen.


Das Gespräch führte Ida Kretzschmar

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