Ich ziehe die Vermischung vor

Im Gespräch Der englische Sozial- und Kulturhistoriker Peter Burke über Bürgerrechte für Begriffe, die Angst vor fremden Wörtern und die Makkaroni-Sprache

Das Jahr 2007 wird im Zeichen der Geisteswissenschaften stehen. Nachdem in den vergangenen Wissenschaftsjahren die Physik, die Lebenswissenschaften, und zuletzt die Technik im Mittelpunkt standen, soll diesmal das "ABC der Menschheit" durchbuchstabiert werden. Dass den Naturwissenschaften jeweils ein eigenes Jahr gewidmet wurde, die insgesamt 96 geisteswissenschaftlichen Disziplinen - von den Sprachwissenschaften über die Geschichte bis hin zu Philosophie und Religionswissenschaften - jedoch auf ein einziges Jahr zusammengedrängt werden, hat im Vorfeld bereits Kritik ausgelöst: Ohnehin wird den Natur- und Technikwissenschaften größere Bedeutung beigemessenen als den geisteswissenschaftlichen Disziplinen - die nun erneut eine Abwertung erfahren. Wir möchten das Jahr der Geisteswissenschaften mit einem Interview des Kulturhistorikers Peter Burke eröffnen, der wie kaum einer sonst das "ABC der Menschheit" studiert hat.

FREITAG: Sie haben Europa und dessen Sprachen gewissermaßen im Blut.
PETER BURKE: Meine Großeltern väterlicherseits kommen aus Irland, mütterlicherseits aus Litauen und Polen. Mein Vater war Übersetzer und machte Sprachen lernen zu seinem Hobby. Seine spätere Frau lernte er bei einem Deutschkurs kennen, sie sprachen dort aber nur Englisch. Als er später Buchhändler wurde, lernte er Chinesisch und Japanisch, um Drucke in diesen Sprachen verkaufen zu können.

Und Sie eiferten Ihrem Vater nach?
Ja, ich wollte zu Beginn meines Studiums Chinesisch lernen. Aber man beschied mir, dass mich das mein Stipendium kosten würde. Seit den sechziger Jahren habe ich dann aber begonnen, viele Sprachen zu lernen. Damals wäre ich fast verrückt geworden. Ich dachte, ich werde bald 30 und nie in der Lage sein, diese Sprachen zu lernen, wenn nicht jetzt.

Und wie erfolgreich waren Sie?
In Europa gibt es mindestens 40 bis 50 Sprachen, bei einer weiteren Definition 60 bis 70, und ich spreche nur etwa zehn Prozent. Ich kann aber viele Sprachen lesen, die ich weder sprechen noch schreiben kann, die germanischen etwa, außer Isländisch.

Und die osteuropäischen Sprachen?
Ungarisch und Polnisch habe ich nie flüssig gelesen, aber ich begriff ungefähr, was in einem bestimmten Absatz gesagt wurde. Zur Absicherung fragte ich Kollegen. Ich werde mich auch nicht in Prag verirren, weil ich so tue, als ob Tschechisch Polnisch mit einer lustigen Schreibweise ist. Ich weiß, was Ein- und Ausgang, Bier und Wein heißt, wichtige Dinge eben.

Eine Ihrer Leitfragen ist, ob es so etwas wie eine europäische Geschichte, eine gemeinsame Kultur gibt. Welchen Platz nimmt hier "Wörter machen Leute" ein?
Es ist der dritte Teil einer europäischen Trilogie, von der ich nie dachte, dass ich sie schreiben würde. Popular Culture in Early Modern Europe von 1978 reicht von Galway an der irischen Westküste bis zum Ural. Ich will keine engere Definition von Europa verwenden, ich will den ganzen Kontinent sehen. The European Renaissance von 1980 war aus empirischen Gründen begrenzter, also Ungarn ja, Rumänien nein. Aber Sprache gibt es überall.

Und schon immer. Warum beginnen Sie in Ihrem neuen Buch aber erst um 1450?
Mit dem Buchdruck ergibt sich über die Einzelsprachen hinaus ein interessantes Muster, ein System an Veränderungen, und zwar vom Latein zu den Volkssprachen zur Vermischung und schließlich zur Reinigung. Die Reinigung wäre sinnlos ohne die Vermischung, die Vermischung hängt zusammen mit der Verschiebung hin zum Schreiben in der Volkssprache anstatt in Latein. Die Menschen im Mittelalter haben sich darüber keine Gedanken gemacht. Da gibt es Latein für die Kommunikation der Eliten und die Volkssprache für alles andere. Aber sobald man zu schreiben und zu drucken beginnt, stellt man sich Fragen wie: Ist das elegant oder die hohe Form der Sprache?

War den Menschen bewusst, dass sich die Sprachen vermischen?
Auf europäischer Ebene nicht, aber an den jeweiligen Orten schon. Und gelegentlich kam es auch zur Vermischung aus Spaß. Ein Meister dieser so genannten Makkaroni-Sprache war Orlando di Lasso, ein in Flamen geborener Komponist. Er wuchs frankophon auf, lernte dann Latein und Italienisch und erhielt schließlich eine Stelle beim Herzog von Bayern. Di Lasso komponierte Kirchenmusik auf Latein, Chansons auf Französisch, Lieder und Madrigale auf Italienisch. Dem Herzog schrieb er Briefe, in denen er drei oder vier Sprachen vermischte, oft in einem Satz.

Das erinnert mich an jenen Mönch in Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose", der in allen Sprachen radebricht.
Ja, Salvatore. Ich identifiziere mich fast mit ihm. Weil ich alle romanischen Sprachen gelernt habe, Italienisch und Portugiesisch ziemlich gut, finde ich es sehr schwierig, sie auseinander zu halten. Ich kann keine fünf Minuten in einer romanischen Sprache sprechen, ohne dass mir eine andere dazwischen kommt. Aber Salvatore konnte nichts dagegen tun, di Lasso tat es absichtlich. Im 17. Jahrhundert schrieb Wallenstein Briefe auf Deutsch durchsetzt mit Spanisch, Italienisch und Latein, weil es diese Abstraktionen nicht gab. Dass es dem Deutschen an abstraktem philosophischem Vokabular mangelte, mag zunächst nicht einleuchten, aber es wurde tatsächlich erst im 18. Jahrhundert durch Leibniz, Wolff und dann natürlich Kant geschaffen.

Gibt es diese Form der Sprachvermischung in ganz Europa?
Es gibt keine europäische Sprache, bei der nicht zahlreiche Wörter aus anderen Sprachen kommen. In manchen Ländern war das intensiver als in anderen. Im slawischsprachigen Teil Europas etwa war man ziemlich lange offen, man brauchte die neuen Wörter. Russische Puristen gibt es erst im 18. Jahrhundert. Erst wenn eine Sprache eine bestimmte Zahl fremder Wörter angenommen hat, kann man seine "Unabhängigkeit" erklären und sagen: Lasst uns damit aufhören! Im 16. Jahrhundert mussten neue Begriffe erst ihre Nützlichkeit beweisen und so das "Bürgerrecht" erlangen. Die Briten und Franzosen sprechen wirklich von "droit de citoyen".

Wer entscheidet das?
Man sagt, "die Sprache akzeptiert es", aber ich bin Sozialhistoriker. Bestimmte Gruppen von Personen oder Institutionen spielen hierbei eine Rolle, im 17. Jahrhundert etwa die Académie Française. Man wurde von ihr nicht aufgenommen, weil man ein guter Poet war, sondern weil man den König pries. Es geht hier um Politik im Sinne einer zentralen Macht und nicht nur im Foucaultschen Sinne einer Macht auf jeder Ebene.

Sprachpolitik also als Urform des Nationalismus?
Es gibt in der Frühen Neuzeit eine Art linguistische Xenophobie, aber das ist kein moderner Nationalismus, keine Solidarität zwischen verschiedenen Regionen. Dass die erste Loyalität der Nation gilt, bildet sich erst im 19. Jahrhundert aus. Die Revolutionäre von 1789 beschlossen, dass jeder dieselbe Art Französisch sprechen sollte und führten einen Kreuzzug gegen das Patois, also Bretonisch und Okzitanisch. Davor haben sich die Sprachreformer nicht darum geschert, jetzt geht es darum, eine Identität zu schaffen.

Aber in Frankreich ist Bretonisch beispielsweise wieder "in".
Ja, aber wer sorgt dafür? Das wird zwar im Namen des Volkes getan, aber die Bewegung geht nicht vom Volk aus. Es sind Intellektuelle aus der Stadt, die mit Französisch aufgewachsen sind, die sich für das Bretonische einsetzen. Die ursprünglich Bretonisch sprechenden Menschen glauben vielmehr, dass Französisch die bessere Sprache ist, denn so können sie ihre Zugehörigkeit zur Mittelklasse beweisen. Dasselbe gilt für die Möbel: Die bretonischen Farmer wollen eine moderne Einrichtung. Was sie aussortieren, wird von Intellektuellen in Antiquitätenläden gekauft und in der Stadt aufgestellt. Diese Zirkulation zu beobachten, ist für Kulturhistoriker sehr amüsant.

Früher war das eher umgekehrt.
Die Menschen, die die reine Form der Sprache sprachen, waren sehr stolz darauf. Sie demonstrierten dadurch, dass sie zur Elite gehörten. Pierre Bourdieu hat hierfür den Begriff der "distinction" geprägt. Nicht nur bei der Sprache, sondern auch bei dem, was man isst und trinkt, geht es darum zu zeigen, dass man anderen überlegen ist. Ich nenne dies die "abgrenzende" Art der Reinigung.

Gibt es noch eine andere Form der Reinigung?
Ja, die verteidigende. Erst bei der Arbeit an meinem Buch sah ich, wie früh diese Furcht vor dem Einfluss fremder Wörter bereits einsetzt. Hier arbeite ich mit den Ideen der britischen Anthropologin Mary Douglas. Sie zeigte in ihrem Buch Reinheit und Gefährdung, dass die Beschäftigung mit Reinheit fast immer die Reaktion auf die Furcht vor einer Bedrohung ist. Im 19. Jahrhundert hieß der Bahnsteig zunächst auch im Deutschen Perron, bevor die Sprachreiniger zuschlugen. Das ist aber nur in Einzelfällen geglückt, und das ist sehr gut so. Zwar muss man als Historiker lernen, mit den Befürchtungen dieser Menschen zu sympathisieren, aber ich ziehe die Vermischung vor. Für mich ist das keine Verunreinigung, sondern eine Bereicherung.

Sie sind Historiker, greifen aber auf Konzepte aus Anthropologie und Sozialwissenschaften zurück. Wie kommt das?
Bevor ich mein Studium in Oxford aufnahm, absolvierte ich meinen Wehrdienst in Singapur (Mitte der fünfziger Jahre noch britische Kolonie/Red.). Ich war zuständig für die Lohnauszahlung an das einheimische Personal und beobachtete fasziniert den Völkermix aus Malayen, Indern und Chinesen. Ohne es zu wissen, betrieb ich so etwas wie Feldarbeit. Das Wort Anthropologie habe ich mit 21 zum ersten Mal gehört.

Das Gespräch führte und übersetzte Oliver Hochadel

Peter Burke: Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit. Berlin 2006 (Wagenbach). 280 S., 24,50 EUR


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