FREITAG: Sie sind Soziologe und lieben den Fußball. Da wissen Sie doch, was den Fußball so beliebt macht?
Detlev Claussen: Dem Fußball hängt etwas an, das ich den "demokratischen Appeal" nennen möchte. Er bietet eine Möglichkeit der Teilhabe. Das ist etwas Besonderes in einer Klassengesellschaft, die sonst eher den Ausschluss betreibt.
Gilt nicht das Versprechen, teilnehmen zu dürfen, für die gesamte bürgerliche Gesellschaft?
Ja, daher gehört der Fußball auch unmittelbar zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Geschichten, die man immer hört und liest, von den kickenden Mayas und den Ballspielen bei den Chinesen - die haben mit dem Fußballsport nichts zu tun. Der Fußball hat die bürgerliche Gesellschaft zur Voraussetzung. Die erste entwickelte bürgerliche Gesellschaft war die englische des 19. Jahrhunderts, und da kommt der Fußball her. Im Fußball lebt der "utopische Rest" der bürgerlichen Gesellschaft fort.
Ausschlussmechanismen, die Sie der Klassengesellschaft attestieren, existieren doch auch im Fußball ....
Deshalb spreche ich ja vom "utopischen Rest". Die reale Geschichte des Fußballs ist vom Ausschluss vieler Gruppen geprägt und von ihren Kämpfen um Integration. Zuletzt waren es die Frauen, denen der DFB erst vor 35 Jahren erlaubte, am Spiel teilzunehmen. Die Geschichte des Fußballs ist die von Überschreiten und Überwinden dieser Ausschlüsse.
Ich sehe noch nicht das Fußballspezifische. Gilt, was Sie beschreiben, nicht allgemein für den Sport?
Ja, aber der Fußball erfüllt eine Reihe von besonderen Kriterien, die einfach klingen, jedoch grundlegend sind. Als Teamsport lebt er von der sehr reizvollen Verquickung von Einzel- und Teamarbeit. Zum Fußball gehört auch die "Voraussetzungslosigkeit". Hegel sprach von der "Voraussetzungslosigkeit der Philosophie". Beim Fußball ist die Voraussetzungslosigkeit materiell: Alles kann zum Ball werden, wir erinnern uns an die Lumpenbälle von früher, man braucht keine besondere Kleidung oder Schuhe, ein Tor kann auch aus zwei Pullovern bestehen, auch der Platz ist nicht besonders definiert. Man kann sich den Platz dann erobern, den man braucht: die Straße, den Acker. Fußball bietet des Weiteren ein ungeheures Nachahmungsangebot dar: Man sieht das Spiel und denkt, das kann ich auch.
Vom Baseball ist bekannt, dass viele Migranten durch ihn lernten, wie die ihnen fremde Gesellschaft USA funktioniert und sich besser im Leben zurechtfanden. Gibt es auch da eine Analogie zum Fußball?
Im Fußball wie im Leben gibt es eine Ursituation: Wer gerne will und etwas kann, bietet sich an. Jeder kann mitbieten. Wer abgelehnt wird, versucht sich zu verbessern. Wenn er sich aus anderen Gründen als "fußballerischen" abgelehnt fühlt, versucht er es woanders. Man kann am Fußball beobachten, wieviel Integration möglich ist.
Ihr Lob der Integrationsfunktion des Fußballs wird gedämpft durch den Umstand, dass erst in jüngster Zeit Migranten in der Nationalmannschaft spielen und dass in der Bundesliga kaum Menschen türkischer oder arabischer Herkunft kicken, obwohl diese doch in den Jugendligen und den unteren Erwachsenenligen dominieren.
Dass der DFB jahrelang Migranten außen vor gelassen hat, war verheerend. Das erklärt auch den Tiefpunkt, den die sportliche Entwicklung des Nationalmannschaftsfußballs erreichte. Das ging so, bis Klinsmann kam.
Der DFB in seiner reaktionären Grundverfassung hatte sich immer an den Leitsatz gehalten, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Aber heute ist die Einwanderung eine Hauptressource des Fußballs. Das ist der demokratische Appeal des Fußballs, den ich meine.
Bildet die Sportpresse diese Entwicklung ab?
Wie weit zurückgeblieben die Sportpresse lange war, zeigte sich während der Weltmeisterschaft im letzten Jahr bei der deutschen Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Polen in der Vorrunde. Die gesamte schreibende Presse war anwesend und hat rhetorisch kollektiv Miroslav Klose und Lukas Podolski ausgebürgert. Singen Sie die polnische Hymne mit, wurde da gefragt. Dabei haben die Sportreporter keine Ahnung davon, unter welchen Umständen Kinder aus Polen in den letzten zwanzig Jahren nach Deutschland gekommen sind, wie sie hier aufgewachsen sind und wie sie denken und fühlen. Diese Fragen dienen nur zur Ethnifizierung.
Aber langsam findet doch auch in Deutschland eine Öffnung statt ...
Das stimmt. Diese Öffnung zeigt sich übrigens auch in den vielen ethnisch begründeten Klubs. In jüdischen Vereinen spielen Türken, beim kroatischen Klub sind Afghanen. Die haben sich als ethnisch definierte Klubs gegründet, aber sie lösen sich davon, sie öffnen sich, denn sie wollen ja Erfolg haben.
Ideologiekritisch betrachtet, ist das doch ein Beitrag des Sports zur Konsensherstellung in der Gesellschaft, oder?
Ja, man akzeptiert die Regeln.
Ist der Fußball mit seinem Regelwerk ein Abbild der Gesellschaft?
Nein. Der Fußball ist integraler Bestandteil der Gesellschaft, aber er hat seine eigenen Gesetze. Man findet etwas über die Gesellschaft heraus, wenn man sich mit dem Fußball beschäftigt. Aber man findet nichts heraus, wenn man sich mit der Gesellschaft beschäftigt und die Ergebnisse im Analogieschluss auf den Fußball überträgt.
César Luis Menotti, der Weltklassetrainer, der 1978 Argentinien zum WM-Titel führte, hat die Theorie vom "linken" Fußball vorgelegt: Der linke Fußball seit kreativ und offensiv, der rechte destruktiv und defensiv.
Es ist natürlich sehr sympathisch, was Menotti da macht. Aber ich sträube mich gegen die Überhöhung durch die Zuschreibung von links und rechts. Angriffsfußball ist riskanter und empfindlicher. Es gibt eine strukturelle Überlegenheit des Defensiven über das Offensive. Es ist eben leichter, zu verteidigen und zu zerstören als ein schönes Spiel aufzubauen. Weil das so ist, braucht, wer auf Angriffsfußball setzt, Rückhalt. Man braucht ein Publikum, das sich nicht nur wünscht, um jeden Preis zu gewinnen. Und man braucht das Präsidium und den Verein, für den dieses Image wichtig ist, das die Brasilianer "jogo bonito" nennen. Das kann man am Beispiel von Real Madrid zeigen. Die hatten mit Fabio Capello einen der besten Defensivstrategen im Fußball, der den Klub auch zur Meisterschaft führte. Aber er wurde gefeuert, und als Nachfolger kam Bernd Schuster, der bislang keine Erfolge als Trainer hat, der aber für das Versprechen des schönen Fußballs steht.
Aber lassen wir das mit links und rechts.
Wie wirkt die Gesellschaft auf den Fußball ein?
Zunächst mal gehorcht der Fußball eigenen Gesetzen. Innerhalb dieser Gesetze ist es wichtig, dass ein Trainer in der Mannschaft den Teamgeist entwickelt. Das ist ein langer Prozess, der natürlich in der Gesellschaft und in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft stattfindet. Erstaunlich fand ich, wie rasch das bei Klinsmann und Löw mit der Nationalmannschaft seit 2004 klappte.
Auf der Nationalmannschaft lag ein großer Modernisierungsdruck, besonders vor der WM im eigenen Land.
Man hatte eben eine große gesellschaftliche Entwicklung, die der Einwanderung, völlig verschlafen. Der WM-Sieg Frankreichs 1998 belegt bestens, wie wichtig Einwanderung für den Fußball ist.
Relativiert diese Aussage nicht, dass die gleiche équipe multiculturelle 2002 in der Vorrunde ausschied, ohne ein einziges Tor erzielt zu haben?
Nein, man hat 1998 gesehen, was möglich ist. Das zählt. In den Sechzigern und Siebzigern waren es Ungarn, Tschechen, Jugoslawen, Österreicher, Niederländer, die modernen und weltoffenen Fußball nach Deutschland brachten. Zumindest Schweizer wie Koller und Favre, die taktisch sehr international ausgerichtet sind, bringen heute Innovationen, und auch ein Hitzfeld hat dazugelernt. Und der Fußball in der Champions League zwingt Dauerkandidaten wie Bayern, Werder, Schalke und Stuttgart, sich am modernsten Standard zu orientieren. Wenn Du das nicht tust, erlebst das Bayern-Desaster des letzten Jahres.
Hat Klinsmann in einem kulturellen Sinn den deutschen Fußball weltläufig gemacht?
Klinsmann ist durch den Fußball Weltbürger geworden. Er ist nicht mehr der grinsende Goldbubi aus Stuttgart. Er war in Italien, England und der französischen Liga, hat sich in den USA im Sportbusiness weitergebildet. Die USA sind immer noch der Mittelpunkt des Sportweltmarkts. Da weiß man zum Beispiel, dass Spitzensportler individuelles Training brauchen. Klinsmann hat für DFB-Verhältnisse unbekannte moderne Trainingsmethoden eingeführt.
Kann die Sportpresse einen "Fußballdiskurs" etablieren und den Fußball modernisieren?
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Anti-Klinsmann-Kampagne der "Bild"-Zeitung mit ihren "Grinsi-Klinsi"-Schlagzeilen war die größte Niederlage des Blattes in seiner Geschichte. Andererseits hat das Scheitern allen gezeigt: Die Leute von "Bild" haben keine Ahnung von Fußball! Das zeigt wieder einmal, dass die Medien nicht glauben sollten, sie seien klüger als die Medienkonsumenten. Der "Fußballverstand" ist weiter als man glaubt.
Das Problem des Sportjournalismus, auch des seriösen, ist die Distanz, die man zu etwas braucht, das man liebt. Das ist schwierig. Der Fußballreporter sollte sich als Kritiker verstehen. Nicht anders als ein Musikkritiker, der ein klassisches Konzert bespricht.
Woran liegt es, dass es die Profession des Sportkritikers nicht gibt?
Die Parteilichkeit hat den Sportjournalismus verdorben. Egal, ob es sich um Lokalpatriotismus oder um Nationalismus handelt oder um Vereinsvorlieben. Der Sportjournalismus ist noch schlimmer als die Börsenberichterstattung. Das pure Ergebnis wird als Resultat eines höheren Willens präsentiert. Da wird nicht analysiert, sondern da werden Emotionen beschworen, da geht es um Helden und Versager.
Lädt nicht der Sport lädt dazu ein, ihn in diesem schlichten Muster von Helden und Versagern darzustellen? Und "Bild" tut das dann?
Das Problem ist vor allem das Fernsehen. Die Sender wollen der Einschaltquote wegen gerade bei wichtigen Turnieren wie Weltmeisterschaften oder der Champions League, dass auch Leute zusehen, die sich eigentlich nicht so sehr für Fußball interessieren. Diese verstehen aber nicht, wie das Spiel funktioniert, und auch der Sportmoderator lässt sie im Dunkeln. Im Vergleich dazu sind die amerikanischen Sportsender sehr gut. Dort wird erklärt, was man nicht sieht. Die Taktik, die Regeln, die Stärken und Schwächen der Kontrahenten.
Das Interview führte Martin Krauß
Detlev Claussen ist Professor für Soziologie an der Universität Hannover. Zuletzt erschien von ihm: Bela Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person, Berenberg 2006.
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