Es war fast ein Spaziergang, mit dem die Piratenpartei nach ihrem Durchbruch bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2011 die drei folgenden Landtagswahlen meisterte. Während Linke, Grüne und FDP mal mehr, mal weniger mit der Sperrklausel zu kämpfen hatten, sonnten sich die Piraten in einem elektoralen Hoch. Nachdem man sie anfangs als urbane Nischenpartei aus dem und für das Internet angesehen hatte, zeigte sich erst später die eigentliche Grundlage für ihren zwischenzeitlichen Erfolg: eine bemerkenswerte Wählerkoalition aus Arbeitslosen, gewerkschaftlich gebundenen Arbeitern, Selbstständigen, jungen Männern, Erst- und bisherigen Nichtwählern. Die Piraten schienen zur Volkspartei derer zu avancieren, die von den etablierten Parteien kaum noch erreicht werden.
All das ist kein halbes Jahr her, doch von der damaligen Aufbruchsstimmung ist nicht mehr viel übrig. In der Partei macht sich Ernüchterung breit. Die Umfragen für die Bundestagswahl schwanken inzwischen um fünf Prozent. Es könnte also sein, dass die Partei – wie andere Neugründungen vor ihr – nach kurzem Erfolg in den Sumpf der Belanglosigkeit abgleitet.
Eine Reihe von Problemen sind während der letzten Wochen immer deutlicher erkennbar geworden: Notorisch sind die finanziellen Engpässe und weitgehend erfolglos die Versuche, diese zu überbrücken. Der Bundesvorstand fällt durch interne Personalquerelen auf. Vorstandsmitglieder verärgern und verschrecken mit ihrem publizistischen Tun oder ihrem beruflichen Nichttun Parteibasis und Wählerschaft. In der Europa-, Außen- und Wirtschaftspolitik klaffen weiterhin programmatische Lücken, die spätestens bei einer Bundestagswahl Einfluss auf die Wahlentscheidung haben dürften. Oftmals stehen nicht die eigentlich spannenden inhaltlichen Kontroversen im Mittelpunkt, sondern Verfahrensfragen. Die Partei steckt also in einer Debatte darüber fest, wie sie Politik machen will, und klärt viel zu zögerlich, welche Politik sie machen möchte.
Vergilbter Charme
Was zuvor noch einen gewissen Charme hatte, weil Unprofessionalität und Nonkonformität sich wohltuend vom tradierten Politbetrieb abhoben, wendet sich nun Stück für Stück gegen die Piraten selbst. Der anstehende Bundesparteitag in Bochum ist somit eine wichtige Weggabelung, bei der sich möglicherweise entscheidet, ob die Piraten das offensichtlich ja vorhandene Potenzial wieder aktivieren.
Die Wählerschaft hat sich als flüchtig erwiesen, was nicht weiter verwundert. Für zwei von drei Wählern war die Entscheidung für die Piraten nämlich in erster Linie eine gegen die übrigen Parteien. Mithin fungieren sie in erster Linie als Projektionsfläche für all die Dinge, die als politische Fehlentwicklung wahrgenommen werden. Als ideologische Klammer dient eine Kritik an der Funktionsweise der repräsentativen Demokratie, welche die Piratenpartei mit der Forderung nach Transparenz popularisiert. Das liefert für einige Zeit eine tragfähige Grundlage, um Sympathien und öffentliche Zustimmung zu erlangen. Dauerhaft ist dies jedoch kaum ausreichend, wie ein Blick auf die Motive der bisherigen Piratenwähler zeigt.
Für diese ist das wahlentscheidende Thema nämlich weder Transparenz noch Freiheit im Internet, sondern interessanterweise soziale Gerechtigkeit. Ein sozialpolitisches Profil entwickelten die Piraten jedoch abseits ihrer insgesamt recht vagen Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen bisher nicht. Die Landeswahlprogramme liefern zu diesem Thema bestenfalls zusammenhanglose Stichpunkte: Mal wettern die Piraten gegen ein Verbot von Computerspielen, mal erklären sie Hackerspaces zum Vorbild für die Arbeitsmarktpolitik oder suggerieren, mit dem Schutz von Whistleblowern die Gesundheitspolitik bereits hinreichend zu reformieren. Kurzum, die programmatischen Aussagen der Partei in diesem Politikfeld taugen kaum, eine für dieses Thema sensible Wählerschaft abermals einzufangen.
Hier wären nun eigentlich die vier Landtagsfraktionen in der Pflicht. Sie besäßen die Ressourcen, sich als Vordenker zu profilieren. Die neugewählten Abgeordneten brauchen jedoch überaus lange, um sich überhaupt in die parlamentarischen Verfahrensweisen einzufinden, um die passende fachliche Expertise zu erstellen und um eine Kommunikation in die Partei und in die Gesellschaft aufzubauen.
Hinzu kommt: Die Fraktionen agieren voluntaristisch. Was einen Abgeordneten interessiert, wird behandelt. Was sonst relevant ist, wird bestenfalls zur Kenntnis genommen. Auch die Ablehnung der Fraktionsdisziplin erweist sich als Schwachpunkt. Wenn eigene Anträge von der Mehrheit der Fraktion im Plenum abgelehnt werden, wenn Initiativen einzelner Abgeordneter von der Mehrheit der Fraktion missbilligt werden oder einzelne Abgeordnete ihre Ablehnung der Mehrheitsposition der Fraktion besonders energisch verbreiten, entsteht in der Öffentlichkeit das Bild eines zerstrittenen Haufens.
Diese Mischung aus Unvermögen, Ignoranz und Unprofessionalität liegt in der Kultur der Partei begründet. Das freiheitliche Verständnis der Piraten fördert eine individualisierte Herangehensweise an Politik. Sie erscheinen gewissermaßen als postmoderne Variante einer Honoratiorenpartei, in der einzelne Persönlichkeiten im Gewand einer Partei ihre individuelle Agenda verfolgen. Doch im Gegensatz zu deren klassischer Form verstehen sich ihre Mandatsträger weniger als Anwälte der Gesellschaft, sondern eher als Vertreter einer amorphen Parteibasis. Entscheidend ist ihnen somit weniger, wie sich die Gesellschaft positioniert, sondern vor allem, wie die Parteibasis einbezogen bleibt. So versuchen auch die Fraktionen mittels verschiedener Instrumente zu ergründen, was die Basis verlangt. Infolgedessen ist die Partei stark auf sich selbst bezogen und viel zu wenig der Gesellschaft zugewandt. Es genügt halt nicht, bloß alle Entscheidungsprozesse offen zu legen, um die Gesellschaft für sich zu interessieren. Vielmehr braucht es Formen des regelmäßigen Austausches, der institutionalisierten Zusammenarbeit, ja im Zweifel auch der Inkorporierung von Interessen. Doch eben dieses lehnen die Piraten mit der Befürchtung ab, es öffne dem Lobbyismus Tür und Tor.
Gleichzeitig fehlen strukturierte und verbindlich organisierte Entscheidungsverfahren abseits der Parteitage. In dieser Leerstelle erwächst eigentlich ein Handlungsspielraum für die Fraktionen. So war es einst auch bei den Grünen. Um aber die Herausbildung informeller Machtzentren zu vermeiden, hat die Piratenbasis Misstrauen als Kontrollform perfektioniert. Sie bestraft ihre Funktionsträger allzu oft und schnell mit digitalen wie analogen Formen des Vertrauensentzugs. Die politischen Repräsentanten der Partei laufen latent Gefahr, von der eigenen Parteibasis hemmungslos attackiert zu werden. Was auf den ersten Blick wie ein notwendiges Korrektiv erscheint, wirkt bei näherer Betrachtung als destruktive Störung und Hemmnis für die Konsolidierung der Partei. Statt im Sinne eines pluralistischen Gesellschaftsmodells Diversität zu akzeptieren und Kompromisse anzustreben, dominiert der Glaube an einen Volonté Général. Darauf gestützt schwillt der innerparteiliche Protest immer wieder eruptiv an. Das ist eine effektive Barriere gegen eine langfristige Personalentwicklung oder gegen eine systematische und strukturierte programmatische Profilbildung.
Erratische Programmatik
Die vorhandene Programmatik wirkt deswegen so erratisch, weil der individualistische Charakter der Partei nicht die gesamte Spannweite der pluralistischen Gesellschaft abbildet. Es geht hier ausschließlich um die mitunter hochspezialisierten Interessenlagen der einzelnen Mitglieder. Damit fehlt der Blick für das große Ganze. Hinzu kommt die in der Partei weit verbreitete postideologische Haltung. Viele Mitglieder gehen davon aus, dass politische Fragen stets objektiv richtig beantwortet werden können. Ein Verständnis von Politik als interessengeleitete Auseinandersetzung entlang von sozialen und kulturellen Lagern ist dabei unterentwickelt. Insgesamt fehlt es somit an Bindungskitt für die Entwicklung eines kollektiven Ziels, das über die Veränderung von Verfahrensfragen hinausgeht. Weil aber auch Verfahrensfragen ungeklärt sind und Strukturen nur in einer Form vorhanden sind, wie es für eine Kleinstpartei auskömmlich ist, gelangt die Partei kaum dazu, eine schlüssige Politik zu entwerfen. Erst recht nicht vermag sie es so, die überaus heterogene Interessenlage ihrer bisherigen Wählerkoalition anzusprechen und zusammenzuführen.
Längst hat Berlins Oberpirat Christopher Lauer entdeckt, dass das Motto „Themen statt Köpfe“ zur Lebenslüge der Partei zu werden droht. Anders formuliert, die Piraten müssten sich dringend professionalisieren, die Parteikultur müsste wesentlich konstruktiver und Themen verstärkt über Köpfe transportiert werden. Doch ein solcher Paradigmenwechsel wäre gleichfalls fatal, denn die Partei liefe Gefahr, sich dadurch Stück für Stück den etablierten Parteien anzupassen. Schließlich haben die Piraten bislang als deren Antithese reüssiert. Die notwendige Professionalisierung könnte bei ihnen allzu schnell als Profanisierung wahrgenommen werden. Genau hier liegt ihr grundsätzliches Dilemma.
Alexander Hensel und Stephan Klecha arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie sind Mitautoren des Buchs Meuterei auf der Deutschland – Ziele und Chancen der Piratenpartei (Suhrkamp 2012)
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