Immer wieder Sonnenuntergang

Kunst Zwischen Spurensuche und Utopie. Wie haben Künstler die zwanzig Jahre nach dem Mauerfall verarbeitet? Eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie

Was genau ist eigentlich am 3. Oktober 1990 passiert? Wer im deutschen Erinnerungsherbst diesen historischen Tag aufrufen will, könnte leicht ins Grübeln geraten. War das jetzt der Mauerfall? Oder doch die Einheitsfeier? Und wo fand sie statt? Vor dem Reichstag? Unter den Linden? Vor der Siegessäule? Wer nach Details kramt, greift ins Leere. Ein historischer Umbruch ist in der Erinnerung längst zu einem so unscharfen Bild geworden wie in der Videoarbeit Jetzt des Künstlers Björn Melhus. In dem 5-Minuten-Film aus dem Jahr 1993 sind nur Schemen von Gebäuden und Menschen zu erahnen, ab und zu steigt ein Feuerwerkskörper auf. Und alles ertrinkt in blau-grauem Geflimmer.

Es gehört zu den Vorzügen von Melhus’, dass er Zeitgeschichte technisch avanciert erfasst und trotzdem das Imaginäre freilegt. Damit setzt er sich auffällig ab von den dokumentarischen Strategien, mit denen viele Künstler auf den Mauerfall und die 20 Jahre danach reagiert haben. Viele dieser Arbeiten, die jetzt in der Berlinischen Galerie zu sehen sind, rufen noch einmal das Vokabular von Nostalgie und Vanitas auf: Doug Halls Fotos (Bild oben) von den leeren Korridoren der DDR-Macht. Vincent Trasovs Collage der verschwundenen Straßennamen Ostberlins. Oder Frank Thiels Fotografien von den Baustellen des neuen, wiedervereinigten Berlin. Seine Großformate dominierten jahrelang die Berliner Kunstmesse. Plötzlich scheint das alles wie Lichtjahre entfernt.

Wer die ewige „Spurensuche“ satt hat und die Kunst nach ihrer Fähigkeit zum Gegenentwurf befragt, sieht sich eher enttäuscht. Dass Berlin „zum Ort einer konkreten Utopie“ geworden ist, wie Jörn Merkert, der Direktor der Berlinischen Galerie, im Katalog schwärmt, lässt sich bezweifeln. Es sei denn, man legt einen abgespeckten Utopiebegriff zu Grunde. Zwar leben viele Künstler in der deutschen Hauptstadt. Doch die betont nüchterne Videoinstallation Artist Migration Berlin des Künstlerpaars Delbrügge DeMoll macht deutlich, wie wenig die Projektion von einer Bohème hier passt. Die meisten der von ihnen besuchten Künstler reagieren skeptisch auf die Fragen nach Arbeit und Erfolg in Berlin. Ihnen reicht es schon, überhaupt dort zu sein.

Dass sie Berlin substanziell verändert hätten, geschweige denn eine Utopie durchgesetzt, wird man schwerlich behaupten können. Das kleine, nach dem amerikanischen Philosophen Walden benannte Haus aus Neusilber, das Tobias Hauser auf einen weißen Holztisch gestellt hat, ruft zwar die Frage nach einem menschengerechten Bauen auf. Gemessen an dem, was sich inzwischen in Berlin an gebauter Realität findet, wirkt die Skulptur aber nachgerade naiv.

Immerhin ist Berlin zum El Dorado der junger Leute aus der ganzen Welt geworden. Doch was nach Aufbruch zu neuen Ufern klingt, hat auch seine Schattenseiten. In Johanna Domkes 16mm-Film A Sunset takes 7 Minutes sieht man eine Gruppe junger Menschen auf dem Dach eines Berliner Altbaus den Sonnenuntergang beobachten. Sie rauchen, trinken, lachen über Alltagserlebnisse, während die Sonne am Horizont versinkt. So ansteckend das Bild des Freiraums wirkt, der da erobert worden ist: Irgendwann merkt man, dass der Film ständig neu von vorn beginnt. Die Jugend-Internationale kreist in der Endlosschleife.

Berlinische Galerie. Bis zum 31. Januar 2010, Katalog, Dumont, 29,80

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