Kontaktsperren, Versammlungsverbot, Social Distancing – die Corona-Pandemie hat Gewerkschaften ihrer wichtigsten Druckmittel beraubt. Auch wenn es zur schrittweisen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen kommt und die Richter in Karlsruhe das generelle Demonstrationsverbot als Teil der Corona-Kontaktsperre kassiert haben: Auf absehbare Zeit wird es schwierig bleiben, Kundgebungen zu organisieren, Forderungen zu beraten, Tarifkommissionen in Betrieben zu wählen, von Streiks und Großdemonstrationen ganz zu schweigen.
Derweil wird der gesellschaftliche Konflikt zur Frage, wer am Ende die Rechnung für all die Corona-bedingten Maßnahmen, Hilfsprogramme und Verluste übernehmen soll, längst ausgefochten. Unionspolitiker drängten auf eine Verschiebung der Grundrente; die Vorschläge für eine einmalige Vermögensabgabe, mit der sich sehr Wohlhabende an der Finanzierung der Corona-Folgekosten beteiligen sollen, um einen „fairen Lastenausgleich“ zu schaffen, aus Reihen von Linkspartei und SPD ernten harsche Abwehrreaktionen bei Union und FDP. Der Handelsverband HDE will bereits vereinbarte Lohnerhöhungen aussetzen. Unternehmer und ihre politische Lobby versuchen, die Kosten der Krise auf die Beschäftigten abzuwälzen. Und sie dürften damit Erfolg haben, wenn man sie nicht stoppt.
Doch ist es in Zeiten sozialer Distanzierung für Beschäftigte überhaupt möglich, kollektiv Druck auszuüben und Erfolge zu erkämpfen? Auf der großen Bühne sieht es nicht danach aus: Von den beiden wichtigsten Tarifrunden dieses Jahres – in der Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst – wurde eine einvernehmlich beerdigt und die andere verschoben. Die interessanten Entwicklungen finden derzeit woanders statt. Ganz unmittelbar geht es jetzt, da die Covid-19-Pandemie noch läuft, in vielen Betrieben um die Frage, ob und wie betrieblicher Gesundheitsschutz umgesetzt wird. Ohne Druck sind wirksame Maßnahmen oft nicht durchzusetzen, denn es geht um Dinge, die Unternehmen viel Geld kosten.
Man sei „wirklich gut vorbereitet“, versicherte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) über Monate angesichts der anrollenden Corona-Pandemie. Tatsächlich fehlten so elementare Dinge wie Schutzmasken für das medizinische Personal. An der Charité und im Berliner Krankenhauskonzern Vivantes starteten gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte deshalb Ende März eine Kampagne. Ihre Forderungen: ausreichender Schutz für Beschäftigte und Patienten, mehr Personal und ein Belastungszuschlag.
Sie gingen mit Plan vor. Erster Schritt: ein offener Brief an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller und Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (beide SPD). „Das schlug medial total ein“, sagt Dana Lützkendorf, Intensivpflegekraft und Verdi-Sprecherin an der Charité. Im Anschluss ging es darum, Unterstützung zu mobilisieren. „In normalen Zeiten wären wir mit einer kleinen Gruppe von Aktiven durch die Stationen gelaufen und hätten Unterschriften gesammelt“, erzählt Lützkendorf. „Aber das geht ja im Moment nicht.“
Videokonferenz für alle
Also musste man auf jeder Station eine Person finden, die in ihrem Team Unterschriften sammelt, einscannt und an das Organizing-Team schickt. Und so wurden Hunderte Telefongespräche geführt, SMS und E-Mails verschickt. Gewerkschaftliche Aktive vernetzten sich über Whatsapp, Telegram und Zoom. Schließlich kamen Anfang April in einer Woche mehr als 4.500 Unterschriften zusammen – von Pflegekräften, Ärzten, aus Laboren und Servicegesellschaften. Alle Berliner Abgeordneten, abgesehen von denen der AfD, Senatorin Kalayci und Regierungschef Müller wurden zu einer Videokonferenz eingeladen, um über die Forderungen zu diskutieren. Und alle Beschäftigten hatten die Möglichkeit – zumindest als Zuschauer –, dabei zu sein.
Ein Unternehmen ganz anderer Art ist John Deere in Mannheim. 4.000 Leute arbeiten im größten deutschen Werk des Landmaschinenherstellers aus Illinois. Normalerweise rollt dort alle drei Minuten ein grün-gelber Traktor vom Band. Als am 23. März Bund und Länder den Lockdown verhängten, war damit Schluss. „Wir haben gesagt: Keine Produktion um jeden Preis, Gesundheit geht vor“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende Torsten Jann. Von drei auf acht Minuten wurde der Takt am Montageband entschleunigt – obwohl die Auftragsbücher voll sind. „Wir haben die Fertigung entzerrt, die Arbeitszeit verkürzt und eine zusätzliche Schicht eingeführt, damit weniger Leute am Band arbeiten.“ Es gibt Schutzmasken und Handschuhe für alle, Abstandsmarkierungen auf dem Fußboden. Die in der Gruppenarbeit vorgeschriebenen Teamgespräche wurden ausgesetzt, werden aber weitergezahlt.
Eine Vereinbarung, die John Deere richtig Geld kostet. „Wir haben das einvernehmlich mit dem Arbeitgeber regeln können – weil wir ein gut organisierter Laden sind“, sagt Jann. Zwei Drittel der Beschäftigten sind Mitglieder in der IG Metall, und das Unternehmen wollte offensichtlich keinen Konflikt riskieren. Am Ende stand ein Konzept, das nicht am grünen Tisch von einer Handvoll Experten erdacht worden war, sondern unter Einbeziehung der gewählten Gruppensprecher und gewerkschaftlichen Vertrauensleute zustande kam, betont Jann. „Die Leute wissen: Sie haben das letzte Wort.“
„Als wir Mitte März erfahren haben, dass alle Geschäfte schließen müssen, haben wir sofort zum Hörer gegriffen und uns mit fast allen Betriebsräten auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt“, erzählt Saskia Stock. Sie ist Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats beim schwedischen Modehaus H&M und vertritt damit die Interessen der etwa 18.500 Beschäftigten in Deutschland. Direkt nach der Schließung drängte H&M auf eine Kurzarbeiterregelung. Doch die Löhne bei H&M sind niedrig, zudem arbeitet ein Großteil der Beschäftigten in Teilzeit, oft auf „flexibler Stundenbasis“. In den Arbeitsverträgen stehen 15 oder 20 Stunden, obwohl sie real viel mehr arbeiten. Die Bemessungsgrundlage für das Kurzarbeitergeld wäre aber der Arbeitsvertrag. „Damit wäre nicht einmal das Überleben gesichert“, sagt Stock.
Im notorisch schlecht organisierten Einzelhandel ist H&M eine gewerkschaftliche Hochburg. „Wir haben einfach versucht, Druck aufzubauen“, sagt Stock. Das Angebot: Der Gesamtbetriebsrat ist bereit zu verhandeln, aber nur, wenn am Ende eine gute Regelung für die Beschäftigten rauskommt. Bei Ablehnung wäre H&M gezwungen gewesen, sich Filiale für Filiale mit jedem der 200 kampferprobten Betriebsräte einzeln zu einigen. „Das hätte ewig gedauert und wäre entsprechend teuer geworden“, so die GBR-Vorsitzende.
H&M musste nachgeben
H&M knickte ein. Das Ergebnis hat Leuchtturmcharakter für die gesamte Branche: Für März stockt H&M das Kurzarbeitergeld auf 100 Prozent auf, von April bis Mai auf 90 Prozent. Und für die Tausenden von Beschäftigten mit flexiblen Verträgen bilden nicht die vertraglichen Mindeststunden die Berechnungsgrundlage, sondern der Durchschnitt der monatlichen Arbeitszeit der letzten vier Monate. Zudem verpflichtet sich H&M, bis mindestens 31. Mai auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. Das Kurzarbeitergeld hat die Große Koalition nach wochenlangem Druck der Gewerkschaften inzwischen von bisher 60 bzw. 67 Prozent für Eltern auf 70/77 Prozent nach drei und 80/87 Prozent nach sechs Monaten erhöht.
Die Beispiele zeigen: Trotz verschärfter Spielregeln in der Pandemie können Gewerkschaften Initiative ergreifen und in die Offensive kommen. Das geht aber nur mit einer Haltung, die nicht auf Hinterzimmerverhandlungen setzt, sondern Belegschaften einbezieht, die Aktiven in den Betrieben ins Zentrum rückt, planvoll und kampagnenmäßig vorgeht und den Konflikt nicht scheut. „Gerade jetzt müssen wir unsere Forderungen lautstark vertreten, Strukturen aufbauen und handeln“, sagt Lützkendorf. „Es funktioniert, wenn die Forderungen von der Basis kommen. Es funktioniert nicht mit irgendwelchen Sachen, die sich die Gewerkschaft ausgedacht hat.“ Wird diese Herangehensweise in den Gewerkschaften während der Corona-Krise stärker gemacht, ist die Frage, wer am Ende die Rechnung zahlt, vielleicht doch noch nicht entschieden.
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