In die Richtung, aus der Tausende kamen ...

Über die Mauer von West nach Ost Laudatio auf den Brechtforscher, Theaterkritiker und -wissenschaftler Ernst Schumacher

Im Oktober übergab Ernst Schumacher in einer feierlichen Zeremonie sein Archiv der Berliner Akademie der Künste - aus der er Anfang der Neunziger hatte austreten müssen, um den Weg für die Wiedervereinigung von Ost und West-Akademie zu ebnen. Schumacher, bis heute gelegentlicher Autor im Freitag, war bereits seit Beginn der sechziger Jahre für den Sonntag tätig. Wir dokumentieren die Laudatio von Frank Hörnigk, Professor für Neue Deutsche Literatur an der Humboldtuniversität in Berlin.

Die Eröffnung des Ernst-Schumacher-Archivs ist ein in mehrfacher Hinsicht bedeutsames Ereignis: Ein anerkanntes wissenschaftliches, publizistisches, aber auch literarisches Werk geht ein in die Archivbestände dieser Akademie - und erhält damit wohl auch den Status des Historischen. Mit der Aufnahme des Ernst Schumacher-Archivs in ihre Bestände setzt die Akademie der Künste durchaus mehr als ein formales Zeichen regelgerechter Praxis, denn dieses Archiv hat Zeugnischarakter auch als ein hinterlegtes Dokument der konfliktreichen Geschichte dieser Akademie nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: vor genau zehn Jahren war Ernst Schumacher nach einer mehr als zwanzigjährigen Mitgliedschaft (zusammen mit anderen) aus der Akademie herausgewählt worden: sein persönlicher "Beitrag" zur danach ermöglichten "Vereinigung" der beiden Berliner Akademien war erbracht - und eine der tiefsten Kränkungen seines politischen Lebens vollzogen.

Mit der Eröffnung des Archivs von Ernst Schumacher ist - so jedenfalls möchte der Laudator es gern verstehen - heute sowohl ein Zeichen kritischen Selbstbedenkens der Akademie als auch ein ebenso unübersehbares Zeichen kritischen Einverständnisses seitens Ernst Schumachers gesetzt. Eine Bekundung gegenseitiger Achtung also, die beide für sich in Anspruch nehmen können, und ein Zeichen der Hoffnung.

Geboren am 12. September 1921 in dem oberbayerischen Dorf Urspring am Lech, ist Ernst Schumacher in einem katholisch geprägten, bäuerlich einfachen Elternhaus aufgewachsen. Der spätere Besuch des Gymnasiums wird nur durch die Förderung seines Onkels, eines katholischen Pfarrers ermöglicht, dem er - so hat er es wiederholt betont - weit mehr verdankt als nur die wichtige ökonomische Unterstützung! Denn er erlebt in der Person dieses Karl Schumacher zum ersten Mal in seinem Leben die im religiösen Glauben begründete Ablehnung gegen eine weltliche Macht in Gestalt des heraufziehenden Nationalsozialismus in Deutschland. Eine widerständige Haltung, die ihn beeindruckt - und beeinflusst hat auch in seiner eigenen Stellung gegenüber dem Nationalsozialismus. Dennoch: er lebt in dieser konkreten Welt und wird von ihren Verhältnissen bestimmt. Mit Zwanzig nimmt er als Soldat der deutschen Wehrmacht an Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion teil, (es wurde seine erste Universität, der er nur schwerverwundet entkam; seine zweite - danach - war München, wo er dann noch während des Krieges sein Studium der Germanistik, Altphilologie und Kunstwissenschaften aufnahm). Es sind Jahrzehnte-Zäsuren, die folgen: Mit dreißig das Promotionsunternehmen in Leipzig bei Hans Mayer und Ernst Bloch mit einer dann dort auch verteidigten Dissertation über die frühen Stücke Brechts; noch einmal zehn Jahre später, 1961, nach dem Bau der Berliner Mauer (Schumacher ist jetzt Vierzig), der endgültige Umzug von West nach Ost, um in der DDR in den fast drei Jahrzehnten, die darauf folgten, den von ihm dort angestrebten/erhofften Platz als politisch öffentlich wirksamer Publizist, Theaterkritiker und Hochschullehrer zu finden. Die Symbolkraft dieses Übertritts von München (West) nach Berlin (Ost) bleibt zu erinnern: Schumacher ging in die Richtung, aus der Hunderttausende kamen.

Die Mauer war eine der entscheidendsten Zäsuren im Leben für die Generationen, zu denen auch Ernst Schumacher gehört. Die Entscheidung, über sie hinweg von einem Deutschland ins andere zu wechseln, war in jedem Fall eine Entscheidung, die für alle Betroffenen lebensgeschichtlich unumkehrbar und endgültig erscheinen musste.

Er war fast siebzig - als die Mauer fiel - und die Geschichte ihn einholte! Heute, mit 82, schließt sich (auch mit der Übergabe seines Archivs an diese Akademie) so etwas wie ein Kreis: eine Lebensleistung und eine Biographie sind nun zu besichtigen, und werden damit dem historischen Urteil überlassen. Zwischen ihren äußeren Daten liegen mehr als 60 Jahre bewusst wahrgenommener und reflektierter politischer Geschichte in Deutschland, ein Leben unter dem Primat des Politischen.


Seine Erschütterungen wie Hoffnungen der frühen Jahre sind wohl am nachdrücklichsten in den Gedichten angesprochen, die Ernst Schumacher unmittelbar nach Kriegsende noch ganz unter dem Zeichen der bekennenden Kirche und des in der katholischen Soziallehre verankerten Gebots christlicher Nächstenliebe schrieb. Unter dem unmittelbaren Erfahrungsdruck der alles beherrschenden Katastrophe des Krieges und seiner Folgen brauchte es danach gegebenenfalls nur einen Schritt bis hin zu jenem "kategorischen Imperativ", mit dem der junge Marx schon hundert Jahre zuvor in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie seine eigene Konsequenz gezogen und formuliert hatte, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen" ist. Für Ernst Schumacher jedenfalls schien sich hier ein Weg zu eröffnen, neue Maßstäbe auch des eigenen Denkens und Handelns zu gewinnen und sie mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe in Praxi vereinen zu können.

Die Desillusionierung dieser Annahme war tiefgreifend: erlebt wurde sie in den Jahren seiner journalistischen Praxis zunächst in der katholisch orientierten Jugendzeitung Ende und Anfang in Augsburg und später - nach 1949 - in der Wochenzeitschrift Deutsche Woche in München. Das Feld der Auseinandersetzung war der Kampf um die Einheit Deutschlands, gegen eine durch den beginnenden Kalten Krieg nachhaltig begünstigte politische Strategie der Siegermächte, die immer stärker auf die Spaltung Deutschlands zielte. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und nachfolgend der Deutschen Demokratischen Republik im Mai beziehungsweise im Oktober 1949 wurde dieses Ziel durchgesetzt und zugleich von den politischen Klassen in Ost und West, auch von den christlichen Parteien, verinnerlicht und mitgetragen. Die Versuche einer Minderheit auf beiden Seiten, diesen Prozess aufzuhalten und später, Anfang der fünfziger Jahre, ihn noch einmal rückgängig machen zu können, waren gescheitert. Die deutsche Teilung war vollzogen.

Schumacher erlebte diese Entwicklung als eine schwere persönliche und zugleich geistige Niederlage; sein "Rückzug" auf Brecht, der 1948 nach Deutschland zurückgekommen war - und sich für den Osten, für das sozialistische Experiment entschieden hatte, ist nicht zuletzt wohl durch diesen Erfahrungshintergrund maßgeblich motiviert. Dass er sich dabei zuerst dem Brecht´schen Frühwerk bis 1933 zuwandte, kann von heute aus interpretiert werden als ein Zeichen, über "Die Erbschaft dieser Zeit" selbstbestimmt theoretisch nachzudenken - und dabei Brecht wie Bloch direkt nachzufolgen. Ein wiederum eminent politischer Vorgang, der Schumacher endgültig zu Marx führte - in den Farben von Brecht und Bloch - und entschieden an die Seite einer vermeintlich realen sozialistischen Alternative gesellschaftlicher Verhältnisse in der DDR.

Seine Dissertation 1953 in Leipzig zu verteidigen, und das bei Mayer, Bloch und Engelberg, war eine Demonstration - und ein Bekenntnis zugleich; sie nicht in München schreiben und verteidigen zu können zu dieser Zeit - zu diesem Autor und mit diesen Positionen - war es auch.

Es folgten die Jahre bis 1961 als Jahre der persönlichen Behauptung und Profilierung als politischer Publizist, zunehmend auch als Feuilleton-Autor, als Brechtforscher, Auslandskorrespondent der Deutschen Woche, Rundfunkjournalist zwischen München und Ostberlin: eine deutsche Biographie ganz singulärer Erscheinung mitten im Kalten Krieg; verdächtigt, juristisch verfolgt und politisch immer wieder diskriminiert, hielt Schumacher sich durch. Seine persönliche Konsequenz aus den zunehmenden ideologischen Konfrontationen nach 1961 zog er, indem er sich endgültig für die Übersiedlung in die DDR entschied.

Er liebt es, auch in diesem Fall an Brechts Beispiel zu erinnern, wenngleich es ein anderes Land und eine andere Zeit waren als das "Ostdeutschland" Brechts im Jahre 1948, in das er ging. Allerdings musste er schon bald - wie sein Lehrer Brecht - erfahren, dass auch seine Art dialektischen Denkens, eine Weltoffenheit in Kunstdingen oder die Vorstellungen von offener Gesellschaft nun von einer anderen, einer "inneren" politischen Perspektive beurteilt - und erneut "auffällig" wurden. Dennoch: der Maßstab seiner theoretischen Positionen, seine Kompetenz und Nichtanpassungsbereitschaft in den wirklich wichtigen Fragen der Kunst ließen ihn gleichwohl im Laufe der dann folgenden Jahre - und erst von Ostberlin aus - zu einer nicht mehr überhörbaren öffentlichen Instanz in ganz Deutschland werden.

Seine Arbeiten über Bertolt Brecht wurden nicht nur in der DDR als Standardwerke anerkannt; seine Dissertation, vor jetzt genau 50 Jahren verteidigt, dokumentiert einen der frühesten Belege der akademischen Auseinandersetzung mit dem Werk Brechts. Theatergeschichte hat er daneben vor allem aber auch als Theaterkritiker geschrieben. Seine Texte sind dabei immer über den Tag hinaus lesbar geblieben, wie nicht zuletzt an den vorliegenden Bänden seiner Berliner Kritiken überprüfbar bleibt. Es sind Dokumente einer aktiven Zeugenschaft und eines Engagements anhaltender Dauer - und gerade darin als bedeutende Zeitdokumente von Gewicht.


Erlauben Sie mir eine persönliche Erinnerung zu einer der für mich nachhaltigsten Begegnungen mit Ernst Schumacher in den letzten Jahren aufzurufen, die vielleicht besser als jeder Versuch summarischer Auflistungen eine Ahnung davon vermitteln könnte, welcher Erfahrungsraum hinter den Daten dieser Biographie steht - und für welche Art des Umgangs mit Geschichte ihm zu danken ist.

Es war 1998, als er sich nur zögernd überreden ließ, im Rahmen einer universitätsoffenen Ringvorlesung zum Brechtjubiläum im Audimax der Humboldt-Universität einen Vortrag zu halten. Der Ort war ihm nicht fremd - seit 1966 bis zu seiner Emeritierung 1987 war seine Wirkungsstätte als Professor für Theorie der Darstellenden Kunst das Theaterwissenschaftliche Institut gerade dieser Universität - nur: es waren ja nicht einfach nur elf Jahre vergangen zwischen seinem Abschied von der Universität und dieser Rückkehr im Mai des Jahres 1998, auch die Universität war eine andere geworden. Ernst Schumacher fühlte sich fremd. Und so begann er vorsichtig abwägend den vor ihm sitzenden Studenten zu sagen, dass sie bedenken mögen, wenn er jetzt über Brecht und seinem Weg zu ihm - und damit zum Marxismus - sprechen würde, dieser Weg von einem katholischen Familienhintergrund in Oberbayern aus zuerst über die Erfahrung als Soldat an der Ostfront 1942 und eine dort erlittene schwere Kriegsverwundung geführt habe - und er damals ungefähr so alt gewesen wäre wie sie, die jetzt vor ihm saßen. Es war ein eindrucksvoller Moment: eine Ansprache im Bekenntnis zu seiner eigenen Geschichte, eingeschlossen darin die Erfahrung des historischen Scheiterns einer Gesellschaft samt ihrer ideologischen Denkkonstrukte, von deren Überlegenheit er selbst (wie auch sein Lehrer Brecht) immer überzeugt gewesen waren, die nun aber aus dem Abstand der Jahre und mit der Weisheit seines Alters für Ernst Schumacher unbedingt kritisch und selbstkritisch zu befragen waren angesichts der finalen Fatalität so vieler Hoffnungen. Der Ton, den er damals vor den Zwanzigjährigen fand, die ihm zuhörten, war alles andere als resignativ, wurde zunehmend eher sarkastisch, für einen Moment sogar subversiv: denn hier könnte eine andere, noch nicht gekannte Perspektive der Kritik an den siegreichen "alten" Verhältnissen sichtbar werden - ein Funke neuer Aktualität auch für Brechts Werk - und eine List der Geschichte. Gerade deshalb müssten die Erfahrungen und Gründe der Niederlage des Sozialismus für die "Nachgeborenen" erkundbar gehalten werden, befragbar bleiben für ein nur noch von ihnen zu erwartendes kritisches Denken. Das vor allem war die Botschaft dieses Vortrags aus dem Jahr 1998, verbunden mit der Aufforderung, Brecht neu zu studieren!

Für die Generation, aus deren Erfahrungszusammenhang Ernst Schumacher spricht, erscheint solches Denken tatsächlich in einem historisch-kritischen Sinne bedeutsam - weil in der Konsequenz seiner ästhetischen Überzeugungen, in seinen Vorstellungen von einem Theater der Zukunft nicht zuletzt auch ein Lernfall für das geschichtliche Scheitern einer großen Utopie erkennbar wird. Sein Credo galt vor allem jenem Theatermodell, das sich im Sinne Brechts politisch verstand, auf die Veränderung aller Verhältnisse zielend. Für dieses Theater hat er gestritten - und sich dabei konsequent auch als politischer Mensch, als scharfsinniger Beobachter und Kommentator zu erkennen gegeben.

Wer sich solche unabhängige Kritikfähigkeit erhalten konnte, hat unbedingt auch ein großes Maß an innerer Freiheit neu hinzugewonnen. Ich nenne es einen Zugewinn an Selbstgewissheit, in seiner eigenen Person das Recht individueller Geschichte zu behaupten. Wer Ernst Schumacher kennt, wird diese Eigenschaft immer auch zusammendenken mit seiner bayerischen Herkunft: Immer lacht aus ihm auch Karl Valentin mit.

"Ich hatte keiner irgendwie beschaffenen Forderung des Tages mehr zu genügen, mich keinem historischen Datum mehr zu stellen. Ich machte mich auch völlig frei von selbstzensorischen Opportunitäten..." zitiere ich aus dem Vorwort zu seinem jüngsten, noch unveröffentlichten Buchmanuskript und füge lediglich hinzu, dass in solcher Selbsterfahrung eine Befreiung auch von den ideologischen Zwängen beschrieben ist, die weit hineinreichen in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Rolle der Intellektuellen in ihr. Für den, der da spricht, sind diese Zeiten vorbei - sie sind nicht glücklicher geworden, aber anders.


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