Ingo Arend

Finanzplatz Groschen Grab

Das Geld liegt auf der Straße. Früher habe ich diesen Spruch immer für eine dieser impertinenten Tüchtigkeitsideologien gehalten, mit denen einen Eltern nerven. Bück Dich, dann wirst Du was. Aber es stimmte wirklich. Immer häufiger habe ich Geld auf der Straße gefunden. Fast alle Größen und Werte. Bis hin zu einem Fünf-Mark-Stück. Mitten auf dem Bürgersteig. Während man in Russland die alten sowjetischen Rubelscheine nach dem Ende der Sowjetunion vergraben hatte, weil sie giftig waren, hat man bei uns einfach alles liegen gelassen. Im Schwimmbad lag ein zerknäulter Zehnmarkschein vor dem Kleiderspind. Auf dem Fabrikhof vor meinem Büro lagen drei Pfennigstücke hintereinanderweg, als ob sie jemand bewusst so drapiert hätte. Wenn einer dieser kleinen, ramponierten Fetische leuchtete, konnte ich nicht recht widerstehen oder weitergehen. Letzthin bin ich sogar vom Fahrrad abgestiegen, weil ich eine Reihe dahingestreuter Pfennigstücke aus den Ritzen zwischen dem Kopfsteinpflaster klauben wollte. So zerschunden, wie diese Findlinge herumlagen, klafften da fiktives und reales Kapital ganz schön auseinander. Aber das muss man sich mal vorstellen. Die härteste Währung der Welt. Da hatten sich manche angewöhnt für zu kriechen. Und hier lag sie einfach im Rinnstein. Wahnsinn.
Wen hätte man zu dem Phänomen befragen können? Erst mal blieb jetzt nichts, als sie aufzuheben und zu retten. Man glaubt es vielleicht nicht: Aber sogar im Papierkorb hatte ich schon Geld gefunden. Es muss, schoss es mir durch den Kopf, als ich die vier, säuberlich neben einer ausgedrückten Kippe gestapelten Groschen aufsammelte, einen Zusammenhang geben zwischen wachsender Verarmung und der wachsenden Geringschätzung geringer Summen. Im Supermarkt hatte man sich schon fast geschämt, wenn man auf die Herausgabe eines Pfennigs wartete. Als ich mich kürzlich bücken wollte, um einem jungen Mann, dem ein Zehnpfennigstück zu Boden geglitten war, aufzuheben, wehrte der kurzangebunden ab: "Lass´ ruhig liegen". Ich bin dann nach zehn Minuten an die Stelle zurückgekommen und habe den Groschen aufgehoben. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist der Mark nicht wert, habe ich mir gedacht und mich natürlich im gleichen Moment geschämt, weil das ja auch so ein Spießerspruch ist, und habe mich dann schnell davon gedrückt. Unwillkürlich musste ich an die Zehn-Pfennig-Stücke denken, die mir immer auf der Schneide eines Messers entgegengerutscht kamen, wenn ich als kleiner Junge nächtens mein Sparschwein zu plündern versuchte, das in einem Küchenschrank versteckt war. Was war das noch für eine Verheißung. Seltsamer Geldverkehr war das in Deutschland. Eine Nation von Geldgebern verteilte kleine Münzen auf der Straße wie Streuobst. Einmal habe ich so einen arg zerschrammten Kupferling aufgehoben und in seinen angestammten Kreislauf zurückgeführt. Wie man einen Goldfisch wieder ins Aquarium legt, wenn er versehentlich rausgesprungen ist und sich auf dem Teppich trocken zappelt. Was war ich überrascht, als ein Typ in der U-Bahn einen Pfennig, der neben mir auf dem Boden lag, aufhob und lächelnd neben mich und ihn auf den Sitz legte.
Kurz und gut: Bei der unerklärlichen Geringschätzung unseres wichtigsten Fetischs war es wirklich höchste Zeit, dass neues Geld ausgegeben wurde. Das hat dem ehrenwerten Pfennig aber endgültig das Genick gebrochen. Der Euro war des Groschen Grab. Neulich sah ich einen der letzten seiner Spezies an der U-Bahnsteigkante liegen. Wie kam der da hin? Ausgesetzt? Von seinen früheren Besitzern? Einer von den 19 Milliarden Mark- und Pfennigstücken, die nach Schätzungen der Bundesbank im Laufe der Jahre verlorengegangen oder von Sammlern aufgehoben worden sind. Der Pfennig lag mit dem Gesicht nach unten im Dreck. Von oben blickte man nur noch auf das zertretene deutsche Eichenlaub. So, wie die ramponierte Kleinmünze da im Staube Brandenburgs lag, machte sie keine so tolle Performance wie ihre virtuellen Kapitalgeschwister. Hier unten war sie nur noch ein Stück unnützes Metall. Ein Verlierer der Globalisierung. Heimatlos. Der einsame Kupferling schämte sich, weil er nun gar keine Funktion mehr hatte. Selbst Geldwäsche hätte da nicht mehr geholfen. Mit dem Pfennigabsatz hätte man ihn zertreten können. Da habe ich zum ersten Mal wirkliches Mitleid empfunden. Und ihn zum ersten Mal nur aus Pietät aufgehoben. Vielleicht überlebt er ja wenigstens in der Umgangssprache. Vielleicht wollen ja in Zukunft alle noch ihre Schulden auf Heller und Pfennig tilgen. Euro und Cent habe ich bislang noch nirgends auf der Straße liegen sehen. Noch blinken die beiden zu verführerisch. Noch sind sie doppelt so viel wert. Aber das haben wir bestimmt auch bald wieder vergessen.

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