Insel der Seligen

Litauen Ein Stadtstaat in Vilnius trotzt der Wirtschaftskrise. Die Freie Republik Uzupis übt mit Bioläden und Künstlerflair eine große Anziehungskraft auf Besucher aus

Vorbei an bunt bemalten Backsteinhäusern, Steinskulpturen und Hinterhöfen windet sich der kleine Vilna-Fluss unter sieben Brücken hindurch. Er trennt das Künstlerviertel „Uzupis“ von der Altstadt in Vilnius. „Uzupis“, das bedeutet auf litauisch soviel wie „auf der anderen Seite des Flusses“. Und „Uzupis“ heißt auch die erste Freie Republik, die mitten in der litauischen Hauptstadt ihre Gäste mit einem eigenen Ortsschild in fünf Sprachen empfängt. In diesen Tagen bekommt der Name noch eine andere Bedeutung: auf der anderen Seite der Krise. Während im Zentrum von Vilnius Geschäfte schließen müssen und die Rezession Menschen auf die Straßen treibt, steht die Freie Republik Uzupis für Aufschwung und nachhaltiges Wirtschaften.

Regieren im Café

Heimlicher Regierungssitz ist das Café Uzupio. Dort hat der Filmemacher Romas Lileikis vor zwölf Jahren die Freie Republik aus der Taufe gehoben. Seitdem ist er „Präsident“ von Uzupis und lädt beim morgendlichen Kaffee zu Gesprächen ein. „Als wir unsere Freie Republik ausgerufen haben, war Uzupis als kriminell berüchtigt, eines der gefährlichsten Viertel der Stadt“, erinnert er sich. „Wir aber wollten Wärme und Geborgenheit schaffen.“ Heute regiert in Uzupis nicht Geld, sondern freundschaftliches Miteinander.
Die Einwohner feiern häufig zusammen und längst hat der Ort eine Anziehungskraft für Leute aus ganz Litauen. Jeder will einmal die Verfassung der Freien Republik sehen, die aus der Feder von Romas Lileikis stammt. Ihre 41 Paragrafen wurden in Metall graviert und hängen vis à vis der Bar im Café Uzupio. In den meisten Punkten spricht sich dieses Grundgesetz für etwas aus, statt Verbote zu erteilen: für die Kreativität, für die Freiheit der Gedanken, für die Liebe.

Am wichtigsten aber seien ihm die letzten Paragrafen, sagt Romas Lileikis, der Präsident. „Triumphiere nicht über andere, verteidige dich nicht, aber gib niemals auf.“ Worte, die besonders in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs eine neue Bedeutung bekommen. Zu Beginn der Bankenkrise hat Lileikis sogar einen Brief vom ehemaligen Staatspräsidenten Valdas Adamkus erhalten: „Mögen das Licht von Uzupis und Ihre Zuversicht allen Menschen in Litauen Hoffnung geben“, habe Valdas Adamkus geschrieben.

Keine Angst

Statt zu hoffen, haben die Bewohner von Uzupis indes selbst angepackt. So gibt es seit kurzem einen wöchentlichen Ökomarkt, der sich großen Zuspruchs erfreut. Die 30-jährige Jurgita hat nach der Gründung der „Freien Republik“ direkt am Ortseingang einen Friseursalon eröffnet. Viele ihrer Schulfreunde sind längst in der Drogenszene verschwunden, Jurgita aber genießt den Aufschwung ihres Viertels und hat vor schlechten Zeiten keine Angst. Die Friseurin hat inzwischen Kunden, die von weither zu ihr kommen, nur weil ihr Laden in Uzupis ist. „Viele sind sogar neidisch auf uns, weil wir so viele Feste feiern und diese enge Gemeinschaft haben,“ sagt sie.

Nur einen Steinwurf von Jurgitas Friseursalon entfernt liegt ein kleiner Platz, auf dem sich hoch über einem Obelisken das Wahrzeichen des Viertels erhebt: ein goldener Engel. Er sei das Symbol des Miteinanders der Menschen und Kulturen, sagt Romas Lileikis. Rund um den Engel haben sich zahlreiche Restaurants und Bars niedergelassen, in der Nachbarschaft Schmuckboutiquen, Galerien und Bioläden, die eine Kunstmeile komplettieren.

Seele der Altstadt

Zane Kocina hat in einem mittelalterlichen Kantorhaus einen Laden für Biokosmetik und unbehandelte Kinderkleidung eröffnet. Zwischen freigelegten Dachbalken, Sandsteinmauern und grober Leinendekoration streuen barocke Kronleuchter ein warmes Licht. Die Freie Republik Uzupis könne gerade jetzt ein Zeichen gegen Massenproduktionen setzen, sagt Kocina. Der Stadtstaat dürfte ihrer Ansicht nach sogar als Gewinner aus der Krise gehen. „Ich glaube fest daran, dass die Leute ab jetzt darauf achten werden, wofür sie ihr schwer verdientes Geld ausgeben“, erklärt die Händlerin.

Geld mache ohnehin niemanden glücklich, glaubt der Präsident Romas Lileikis. „Wir hier in Uzupis sind auf der anderen Seite der Krise.“ Wichtig sei die künstlerische Freiheit eines jeden, sich selbst zu entfalten. Das lockt auch die Gäste immer wieder in den Stadtteil „hinter dem Fluss“. Kein Brautpaar, das sich nicht in den Straßen von Uzupis fotografieren lassen will. „Hier in Uzupis lebt die Seele unserer Altstadt“, sagt eine Litauerin auf dem Weg in die Pizzeria. „Ich wohne weit weg und komme oft nur für einen Kaffee. Hier trifft sich die Bohème, Künstler und Leute, die einfach anders leben wollen. Das genieße ich.“

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