Julia Przylebska war ihre Rolle als Marionette am Gesicht abzulesen. Während sich die Vorsitzende Richterin des Verfassungsgerichts die Statements der Antragsteller anhörte, die für ein verschärftes Abtreibungsrecht plädierten, war sie mit ihren Gedanken sichtlich woanders. Nach einigen pflichtschuldigen Nachfragen verkündete Przylebska nach 40 Minuten das Urteil. 40 Minuten, um über eines der umstrittensten Themen der vergangenen Jahrzehnte zu entscheiden. Die Richterin verlas, was ganz im Sinne von Jarosław Kaczyński, des autoritären Chefs der Regierungspartei PiS, gewesen sein dürfte. Grundtenor: Wenn das bisherige Verfassungsrecht einräumt, dass bei einem schwer geschädigten Fötus Schwangerschaften abgebrochen werden
den können, ist das verfassungswidrig.Daraufhin protestierten landesweit Hunderttausende, obwohl die PiS-Regierung noch am gleichen Tag die Ausgangsbeschränkungen verschärfte. In vielen Städten kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, auch wenn Straßenschlachten ausblieben. Vor vielen Kirchen gab es lauten Protest, denn die katholischen Bischöfe hatten das Votum der obersten Richter seit langem gefordert und es nun voller Freude begrüßt. Mehr noch: Es war die Bischofskonferenz, die immer wieder Druck auf die PiS ausübte – so sehr, dass selbst in der Partei etliche Abgeordnete nicht mehr dem Diktum Kaczyńskis folgen wollten, der bislang am „Kompromiss“ in der Abtreibungsfrage festhielt, dann aber umschwenkte. Dass es gerade jetzt zu einem solchen Richterspruch kam, war kein Zufall. Eine Klage gegen das geltende Abtreibungsrecht hatten PiS- und andere Parlamentarier zunächst 2017 und erneut Ende 2019 eingereicht. Darüber im Oktober 2020 zu entscheiden, sollte offenbar interne Machtkämpfe mit dem Rechtsaußen-Flügel der PiS entschärfen und vom Unvermögen ablenken, die ausufernde Pandemie wieder unter Kontrolle zu bringen. Polen verzeichnet derzeit eine massive Zunahme an Neuinfektionen, ebenso von Todesopfern. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps – Krankenwagen mit Covid-Patienten werden von den Spitälern abgewiesen. Die Behandlung anderer Schwerkranker, etwa von Krebspatienten, muss eingeschränkt werden. So wächst der Unmut über die PiS, die es in fahrlässiger Weise versäumt hat, die Hospitäler so auszurüsten, dass sie auf die durchaus absehbare Ansteckungswelle reagieren können. Sich zum Ausgleich für dieses Versagen mit schroffer Rhetorik als Gegner der EU zu inszenieren, sorgt im Moment kaum für Entlastung.Berlin hält sich zurückKaczyński drohte mit einem Veto gegen den EU-Haushalt 2021-2027, obgleich sein Land einer der großen Nutznießer des Corona-Hilfsfonds sein soll. „Wir werden unsere Identität, unsere Freiheit und Souveränität um jeden Preis verteidigen. Wir lassen uns nicht mit Geld terrorisieren“, so der PiS-Vorsitzende Anfang Oktober, als ein Bericht der EU-Kommission vorlag, der die Mängel des polnischen Justizsystems monierte und anklingen ließ, das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit könne beim Verteilen der EU-Gelder von Belang sein. Doch schert sich die PiS nicht weiter darum. Kein Wunder, wenn Berlin viel Vorsicht walten lässt, sodass der Rechtsstaatsmechanismus nicht wirksam greift. Dies führt dazu, dass eine neu geschaffene Disziplinarkammer am Obersten Gericht in Warschau, deren Bestehen der Europäische Gerichtshof (EUGH) beanstandet und im April angeordnet hat, deren Arbeit solle vorerst ruhen, weiterhin unliebsame Richter diszipliniert.Das Justizsystem verkommt zum willfährigen Machtinstrument – mit dem Obersten Gericht und dem Verfassungstribunal an der Spitze. Die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte in Warschau erklärte bereits, es handele sich beim Schwangerschaftsurteil des Verfassungsgerichts um keinen gültigen Beschluss, da drei Richter von der PiS unter strittigen Umständen an das Tribunal berufen worden seien. Während andere Juristen die Legitimität des Votums ebenfalls bezweifeln, wird zugleich vor einem Justizchaos gewarnt, das nicht nur betroffene Frauen, sondern auch viele Ärzte und Klinikleitungen verunsichert.Die innere Konfrontation in Polen könnte mit einem höheren Preis erkauft sein als mit einem politisch missbrauchten Justizsystem und verzweifelten Frauen. Dass die Menschen auf die Straßen gehen und sich nicht um Pandemie-Auflagen scheren, war absehbar. Jarosław Kaczyński ist zu intelligent und weitsichtig, um all das nicht vorhergesehen zu haben. Vermutlich hat er alles genauso kalkuliert – bis hin zur Gewalt auf den Straßen. Damit lässt sich eine zuletzt zerstrittene Regierung auf mehr Konsens einschwören und der vergleichsweise moderate Ministerpräsident Mateusz Morawiecki stärken. Es zeichnet sich ab, dass die Wut vieler Polen auf die PiS noch wächst, sich aber gleichzeitig Millionen Anhänger hinter die Partei stellen. Ihre Empörung gilt Landsleuten, die Kirchenwände beschmieren und trotz Corona auf den Straßen des Landes ohne Maske und geforderten Sicherheitsabstand protestieren. Die staatlichen Medien flankieren das mit einer Hasskampagne und suggerieren (nicht zu Unrecht), dass die Kundgebungen zu einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen führen werden. Als zu Wochenbeginn landesweit Straßen blockiert wurden, fühlte sich ein Autofahrer in Warschau derart provoziert, dass er zwei Personen anfuhr und verletzte. Dennoch dürften selbst ein im Raum stehender vollständiger Lockdown und eine Ausrufung des Notstandes kaum dazu führen, dass der Widerstand gegen ein vorsintflutliches Abtreibungsrecht verebbt, eher im Gegenteil. Zuweilen scheint es, als würde ein Funke genügen, damit Gegner und Befürworter aufeinander losgehen. Einiges spricht dafür, dass eine solche Eskalation der Regierung nicht ungelegen käme.