Wenn in Polen an den Grundfesten des Rechtsstaats gefummelt wird, geht es meistens ziemlich schnell. Noch in der Nacht zu Mittwoch versuchte die Partei "Recht und Gerechtigkeit", kurz PiS, mit ihrer Mehrheit jene Justizreform durch den Sejm zu drücken, gegen die EU, polnische Juristen und die Polen auf der Straße Sturm laufen. Als Jarosław Kaczyński ans Rednerpult trat, kam es zum Eklat. Kaczyński wütete geradezu gegen Oppositionspolitiker, die sich auf seinen Zwillingsbruder Lech bezogen, den 2010 verunglückten Präsidenten. “Ich weiß, dass ihr Angst vor der Wahrheit habt”, rief Kaczynski voller Zorn. “Aber wischt euch eure verräterischen Fressen nicht mit dem Namen meines, seligen Angedenkens, Bruders ab. Ihr habt ihn zer
zerstören wollen, ihr habt ihn ermordet!“Woher kommt der Streit? Als der ungarische Premier Viktor Orban seinen Staat im Jahr 2011 umzubauen begann, war er im Besitz einer parlamentarischen Mehrheit, die ihm ermöglichte, auch Änderungen am ungarischen Grundgesetz vorzunehmen. In Polen verfügt sein illiberaler Gesinnungsgenosse Jarosław Kaczyński nicht über eine ausreichend große Majorität zur Änderung der Verfassung. Das hält ihn freilich nicht davon ab, das politische System des Landes nach seinen Vorstellungen umzugestalten.Seit die konservative PiS, bei den Parlaments- und Präsidialwahlen im Jahr 2015 an die Macht gefegt ist, hat sie beträchtliche Mittel erlangt, um das Land im Sinne ihres Vorsitzenden umzuwandeln. Kaczyński, der offiziell bloß als Abgeordneter firmiert, ist tatsächlich die einflussreichste Person in Polen. Er beordert praktisch sowohl Ministerpräsidentin Beata Szydło, als auch Präsident Andrzej Duda, die er beide an ihre Positionen gebracht hat. Jedenfalls war das bisher der Fall.Furcht vor der starken JudikativeKaczyński kontrolliert die Legislative und die Exekutive. Aber er fürchtet die starke und unabhängige Judikative, insbesondere das Verfassungsgericht. Er glaubt, dass sie sich der von ihm geplanten Disziplinierung der dritten Gewalt erneut entgegenstellen. So war es schon einmal, während der kurzen Regierungszeit der Partei für Recht und Gerechtigkeit zwischen 2005 und 2007. Aus diesem Grund begann die Offensive gegen die Rechtstaatlichkeit mt einer totalen Umbildung des Verfassungsgerichts, dem nun ein von der Partei ernannter Richter vorsteht. Dieser in der Geschichte Polens nach 1989 beispiellose Schritt wurde von Rechtswissenschaftlern und Beschäftigten der Justiz heftig kritisiert. Er sorgte für große Bürgerproteste auf den Straßen. Er war auch der Grund dafür, dass die Europäische Kommission das Rechtsstaatsverfahren gegen Polen einleitete.Nachdem das Verfassungsgericht übernommen war, war es Zeit, die politische Kontrolle über die übrige Judikative zu übernehmen. Ein Gesetzesentwurf, der gegenwärtig im polnischen Parlament diskutiert wird, will die Amtszeit aller derzeitigen Verfassungsrichter beenden. Diejenigen, die verbleiben können, würden vom Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, ausgewählt. In diesem neuen System wäre die Machttrennung und -balance stark gemindert. Das höchste Gericht würde abhängig von einem einzigen Politiker – mit extrem weit gefassten Kompetenzen. Derzeit wäre das Zbigniew Ziobro, ein Verbündeter Kaczyńskis. Für Besorgnis in der Öffentlichkeit und eine Welle von Straßenprotesten sorgt nicht nur diese außergewöhnliche Machtkonzentration, sondern auch die Tatsache, dass das Verfassungsgericht die Wahlergebnisse für gültig erklärt. Die nächste Parlamentswahl findet im Jahr 2019 statt.Allerdings stellt sich nun plötzlich Präsident Andrzej Duda gegen seinen Mentor und die PiS. Duda hat gedroht, die geplanten Gesetze nicht zu unterzeichnen, wenn sie nicht den Bedingungen entsprechen, die er als Staatspräsident formulierte. Danach darf ein wichtiges Justizgremium vom Sejm nicht mit einfacher Mehrheit besetzt werden, sondern es braucht eine 3/5-Mehrheit. So viele Stimmen Vorsprung hat die PiS-Partei nicht. Zur Stunde ist unklar, wer sich in dem Machtkampf durchsetzen wird.Ein hoch selektives EmpfindenKaczyńskis eigene Sympathien und seine tiefverwurzelten Überzeugungen sind nicht nur privater Natur. Sie werden als Teil der offiziellen Rechtfertigung benutzt, um die jüngsten hoch kontroversen Änderungen beim Ernennen von Richtern und der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts durchzusetzen. Der Vorsitzende von “Recht und Gerechtigkeit” behauptet, nach Polens Übergang zur Demokratie sei die polnische Justiz nie wirklich überprüft worden. Daher handele es sich bei der juristischen Elite der Dritten Polnischen Republik um die gleichen Leute oder Nachkommen – so Kaczyński – jener Richter, die für das Unterdrückerregime vor 1989 gearbeitet oder von diesem profitiert hätten. Ungeachtet der Tatsachen scheint er einer verdrehten Moral anzuhängen, derzufolge Kinder verantwortlich sind für die Handlungen ihrer Eltern. Interessanterweise ist Kaczyńskis antikommunistisches Empfinden hoch selektiv und bezieht sich nicht auf Leute wie Stanisław Piotrowicz, einen Abgeordneten der Partei für Recht und Gerechtigkeit, der in der Zeit des Kommunismus ein berüchtigter Staatsanwalt war.Spricht man von Tatsachen statt Meinungen, wurden alle Richter des Verfassungsgerichts nach 1989 unter die Lupe genommen. Auf Grundlage eines 1996 eingeführten und 2006 erweiterten Lustrationsgesetztes werden alle amtierenden Richter und Anwärter auf Richterposten an ordentlichen Gerichten überprüft, um festzustellen, ob sie für die kommunistischen Dienste garbeitet oder mit diesen kollaboriert haben. Mit dem unvermeidlichen Fortschreiten der Zeit betreffen Lustrationsgesetze irgendwann nicht mehr jüngere Angestellte des öffentlichen Dienstes, wie jene, die im demokratischen Polen ins Berufsleben eingetreten sind. Ein hervorragendes Beispiel für diesen Generationswechsel im öffentlichen Leben Polens ist Präsident Andrzej Duda, der im Fach Jura promoviert hat und 45 Jahre alt ist. Jener Mann, der sich nun gegen die PiS stellt, jedenfalls sieht es im Moment danach aus.Kaczyńskis Logik zufolge allerdings ist der Großteil der Justiz unabänderlich belastet und automatisch kompromittiert. Sie sollte daher durch neue Eliten ersetzt werden, die nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern ihrer politischen Loyalität zu Kaczyńskis Vision ausgewählt werden sollten. Die Partei für Recht und Gerechtigkeit hat 2005 unter anderem mit der Befeuerung dieses anti-elitistischen und antikommunistischen Sentiments die Wahlen gewonnen. Vor allem Letzteres ist in Polen auch 28 Jahre nach dem Regimewechsel noch stark ausgeprägt – vor allem in der Generation der nach 1989 Geborenen. Zu verdanken ist dieser Umstand einem Jahrzehnt historischer Propaganda durch die Partei für Recht und Gerechtigkeit.Darüber hinaus hat Kaczyńskis Partei sich geschickt die in Polen weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Justiz zunutze gemacht. Während Rechts- und Demokratiewissenschaftler stolz sind auf die vielen Errungenschaften der polnischen Justiz im zurückliegenden Vierteljahrhundert, sind die Erfahrungen durchschnittlicher Polen mit der Justiz häufig negativ. Sich in die Länge ziehende Verfahren, Korruptionsskandale und eine als arrogant empfundene Richterschaft haben sie zu einem einfachen Ziel gemacht. Dennoch sind die Werte der Rechtstaatlichkeit und der liberalen Demokratie in Polen nicht über Nacht vergessen.Das zeigtdiejüngsteWelle der von zivilgesellschaftlichen Gruppen organisierten Proteste von unten.