Kalaschnikow auf Einzelfeuer

Der Fall Drazan Erdemovic Vom Massenmord zum Völkermord. Das Haager Tribunal schreibt Geschichte

Am 2. März 1996 wird in Novi Sad der bosnische Kroate Drazan Erdemovic festgenommen. Er hat sich kurz zuvor in Belgrad um Kontakt zum Jugoslawien-Tribunal in Den Haag bemüht und einer Journalistin des US-Fernsehkanals ABC von einem Massenmord in Bosnien berichtet, an dem er selber beteiligt gewesen sein will. Vier Tage später wird gegen Erdemovic, der kein jugoslawischer Staatsbürger ist, ein Strafverfahren eröffnet. Es besteht der dringende Tatverdacht, dass er im Juni 1995 in der Nähe der bosnischen Ortschaft Pilice als Soldat der Republika Srpska (VRS) ein Kriegsverbrechen verübt und zusammen mit anderen Militärs seiner Einheit Hunderte Bürger muslimischer Herkunft erschossen hat.

Am 12. März 1996 kommt Graham Blewitt, der zweite Chefankläger des Haager Tribunals, nach Belgrad, um den Gefangenen zu verhören. Am 30. März schließlich wird Erdemovic mit einer jugoslawischen Maschine nach Den Haag geflogen und dem Tribunal übergeben. Am 29. November 1996 bereits ist das Verfahren abgeschlossen: Wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zehn Jahre Haft, lautet das Urteil. Am 5. März 1998 wird das Strafmaß auf fünf Jahre herab gestuft - im August 2000 ist Erdemovic wieder frei. Seither lebt er dank der Zeugenschutzprogramms des Haager Gerichtshofes mit einer neuen Identität versehen in einem westlichen Land und tritt regelmäßig als "geschützter Zeuge" der Staatsanwaltschaft auf, sobald in einem Prozess der Anklagepunkt "Völkermord an den bosnischen Muslimen" verhandelt wird.

Zu erwähnen wäre noch: Das Urteil gegen Drazan Erdemovic vom 29. November 1996 erging nach einem so genannten "verkürzten Verfahren" (guilty plead), das aufgrund des vorliegenden Schuldeingeständnisses lediglich dazu diente, das Strafmaß festzulegen. Mit anderen Worten, ein dem Gericht vorliegendes Geständnis des Angeklagten wurde nicht im Kreuzverhör hinterfragt und auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft - angesichts der Schwere des Verbrechens juristisch ein erstaunlicher Vorgang.

Wozu weitere Zeugen?

Der aus dem mehrheitlich muslimischen Tuzla stammende Drazan Erdemovic erfüllt ab 1990 als Angehöriger der jugoslawischen Volksarmee seine Dienstpflicht als Militärpolizist in Kroatien. Als er im April 1992 nach Tuzla zurückkehrt, bricht auch in Bosnien der Bürgerkrieg aus. Er tritt zunächst in die muslimisch dominierten Streitkräfte Bosnien-Herzegowinas ein, setzt sich aber bald in die Republika Srpska ab, wo er im Frühjahr 1993 einer Spezialeinheit zugeteilt wird, die als "10. Sabotagekompanie" dem Generalstab der bosnisch-serbischen Armee unterstellt ist.

Als Erklärung für seinen Uniformwechsel wird Erdemovic später vor den Haager Richtern pragmatische Gründe nennen - es sei ihm keine andere Wahl geblieben, doch habe er sich nicht von Nationalismus treiben lassen, was auch für jene Einheit gegolten habe, in die er als Sergeant aufgenommen worden sei. Sie rekrutiert zunächst Muslime, Kroaten, Slowenen und nur zwei Serben.

Serbischer Nationalismus macht sich nach den Angaben von Erdemovic erst bemerkbar, als die Einheit zur "10. Sabotagekompanie" umgebildet und ihr Kommando von Leutnant Milorad Pelemis übernommen wird. Danach kommt es immer häufiger zu Einsätzen jenseits der Frontlinie tief in bosnisch-kroatischem und bosnisch-muslimischem Hinterland. Es ist die Zeit, als Erdemovic laut seines Haager Geständnisses in einen Konflikt mit seinem Kompaniechef gerät, der ihn wegen seiner Herkunft aus Tuzla zum einfachen Soldaten degradiert. Er habe sich zudem widersetzt - so Erdemovic - Gefangene zu töten, dann aber gehorcht, da er ansonsten damit rechnen musste, wegen Befehlsverweigerung selbst erschossen zu werden.

Was an seiner Geschichte wahr ist, weiß inzwischen vermutlich nicht einmal mehr der Betroffene selbst. Zu sehr sind seine Darstellungen von narrativen Strategien beeinflusst, die eigener Entlastung dienen. Er habe sich aus Gewissensnot dem Tribunal gestellt, beteuert Erdemovic immer wieder. Bei eingehender Befragung stellt sich freilich heraus, dass er unmittelbar nach den Exekutionen bei Pilice während eines Handgemenges in einer Kneipe im bosnischen Bjeline von einem der Mittäter angeschossen und schwer verletzt wird. Nach mehreren Operationen im Belgrader Militärhospital ist er zwar außer Lebensgefahr, muss aber weiter um sein Leben fürchten. Danach sucht er Kontakt mit dem Tribunal. Weshalb? Aus Reue und Scham? Aus Schuldbewusstsein? Oder um in den Genuss von dessen Zeugenschutz zu kommen, die ihm eine neue Identität in Aussicht zu stellt?

Mehrfach hat Drazan Erdemovic bei seinen Aussagen vor den Haager Richtern alle an den Erschießungen im Juni 1995 Beteiligten beim Namen genannt: Franc Kos, Marko Boskic, Goronja Zoran, Stanko Savanovic, Brano Gojkovic, Alexander Cvetkovic, Golijan Vlastimir. Diese Männer hätten auf Befehl ihres Kommandeurs Milorad Pelemis gehandelt, der wiederum seine Weisungen von Oberst Petar Salapura erhalten habe, dem Chef der Aufklärung beim Generalstab der bosnisch-serbischen Armee. Alle diese Namen liegen der Haager Anklagebehörde seit Erdemovics Überstellung Ende März 1996 vor. Folgerichtig findet es der Vorsitzende Richter Claude Jorda während der ersten Sitzung im Plead-Guilty-Verfahren gegen Erdemovic am 19. November 1996 einigermaßen unverständlich, dass die Ankläger keine weiteren Zeugen aufrufen, dem Angeklagten eine hohe Glaubwürdigkeit attestieren und nicht auf eine Auslieferung der anderen namentlich bekannten Mitglieder des Erschießungskommandos von Pilice drängen. Gibt es keine einzige Anklage gegen jemanden außer Erdemovic? - fragt Claude Jorda. Salomonisch die Antwort von Ankläger Marc Harmon: das Gericht müsse das "perspektivisch sehen". Im Übrigen habe man durchaus vor, andere Anklagen in dieser Sache zu erheben - nur vertrage das keine öffentliche Erörterung.

Wo sind die Leichen?

Auf jeden Fall gilt seit der Verurteilung von Drazan Erdemovic am 29. November 1996 die Zahl von 1.200 am 16. Juni 1995 bei Pilice erschossenen Zivilisten als aktenkundig. Erdemovic wiederholt sie in Den Haag am 5. Juli 1996 während der öffentlichen Anhörung im Verfahren gegen Radovan Karadzic und Ratko Mladic (gegen die in Abwesenheit verhandelt wird), am 19. und 20. November 1996 in seinem eigenen Prozess, am 22. Mai 2000 im Verfahren gegen General Krstic und am 25. August 2003 als Zeuge der Anklage im Prozess gegen Slobodan Milosevic.

Im einzelnen beschreibt der Zeuge immer wieder den gleichen Vorgang: Acht Männer erschießen am 16. Juni 1995 bei Pilice, 40 Kilometer nördlich von Srebrenica, etwa 1.200 Menschen. Der erste Bus mit 50 bis 60 gefesselten muslimischen Gefangenen trifft zwischen zehn und elf Uhr vormittags dort ein. Der Platz der Erschießung liegt etwa 100 Meter vom Fahrzeug entfernt auf einer Lichtung. Die acht Täter stellen sich zwischen Bus und Erschießungsplatz in einer Linie auf und haben zirka 15 Meter Abstand voneinander. Dann werden jeweils zehn Personen aus dem Bus geholt, die zunächst ihre persönlichen Papiere und alle sonstigen Habseligkeiten abgeben müssen, bevor sie zum Erschießungsplatz geführt und in einem Abstand von 20 Metern mit dem Rücken zu den Tätern aufgestellt werden. Die eröffnen Sekunden später das Feuer. Dann kontrolliert man, ob jedes Opfer tot ist; wer noch lebt, wird mit der Pistole erschossen. Danach stellen sich die Todesschützen wieder in einer Linie bis zum Bus auf, während Brano Gojkovic und Vlastimir Golijan die nächste Zehnergruppe aus dem Bus holen.

Ausdrücklich bestätigt Erdemovic in all seinen Aussagen, dass sich dieser Vorgang stets genau so wiederholt habe. Irgendwann hätten Gojkovic und Cvetkovic die Idee gehabt, ein Maschinengewehr M-84 einzusetzen. Damit seien aber die meisten nur verwundet worden, also sei man zur vorherigen Erschießungsmethode zurückgekehrt: Kalaschnikow auf Einzelfeuer.

Zwischendurch habe man getrunken und geraucht, und gegen 15.00 Uhr oder etwas später sei man "fertig gewesen". Mehrmals hat Erdemovic in seinen Ausagen versichert, man habe nach jeder Exekution die Körper einfach liegen lassen. Das bedeutet, am Ende müssen auf der Lichtung bei Pilice bis zu 1.200 Leichen gelegen haben. Weder die Ankläger noch die Richter in Den Haag haben jemals nachgefragt, ob das vorstellbar sei.

Bei zehn Minuten für die Erschießung von zehn Opfern braucht man - so makaber eine solche Schätzung auch sein mag - bei etwa 1.200 Menschen mindestens 20 Stunden. Kein Jurist würde es normalerweise versäumen, diese einfache Rechnung aufzustellen. Nicht so die Haager Richter - für sie war es einleuchtend, dass man 1.200 Menschen in Zehnergruppen in weniger als fünf Stunden erschossen hat, was nur heißen konnte, im Abstand von zweieinhalb Minuten eine neue Gruppe aus dem Bus zu holen, jeden einzelnen die Taschen leeren und seine Papiere abgeben zu lassen, sie 100 Meter weit zur Wiese zu jagen ... Und dann hat man noch zwischendurch pausiert, getrunken und geraucht. In einem auf Wahrheitsfindung angelegten Verfahren würden sich die Richter selbst zum Tatort begeben und vorführen lassen, wie das möglich gewesen sein soll.

Erdemovic selbst weiß nicht genau, wie viele Menschen er getötet hat. Einmal spricht er von zehn, dann wieder von 100 bis 120, ein andermal sollen es 70 gewesen sein. Er weiß auch nicht, wie viele Busse mit Gefangenen ankamen. Sicher scheint er nur bei einer Angabe: 1.000 bis 1.200 Menschen wurden erschossen - eine Zahl, die man ihm trotz aller Widersprüche bereitwillig abnimmt. Nur, wo sind die Leichen geblieben?

John René Ruez, Ermittler der Anklage, erklärt am 19. November 1996 im Zeugenstand, seine Behörde habe nach Erdemovics Anhörung an Ort und Stelle 153 Leichen exhumiert. Man habe außerdem Fesseln, Augenbinden und Identitätspapiere gefunden, aus denen hervorging, dass es sich um Opfer aus Srebrenica gehandelt habe.

Und dann vollzieht auch dieser Ermittler den gleichen Zirkelschluss wie das Gericht, indem er auf den Zeugen Erdemovic verweist, der 20 Busse mit jeweils 60 Gefangenen gezählt haben will. Es müsse demnach 1.200 Opfer gegeben haben. Bliebe nur noch die Frage nach dem Verbleib der Leichen, die Ruez wie folgt beantwortet: Er zeigt ein Luftbild, datiert auf den 17. Juni 1995, auf dem Leichen zu erkennen sind, und weist auf etwas, das möglicherweise der Erdaushub eines Massengrabs sein könne. Dann präsentiert er ein zweites Luftbild, datiert auf den 27. September 1995, mit einem Gelände, auf dem wiederum Spuren von Erdarbeiten zu sehen sind. Es hätten also Ende August/Anfang September an diesem Ort Exhumierungen stattgefunden, weil man versucht habe, Spuren zu verwischen, erklärt Ruez den Richtern. Selber schuld, wer noch an der Zahl von 1.200 Opfern zweifelt.

So sieht die Beweisführung in einem Plead-Guilty-Verfahren aus. Würde man einfach davon ausgehen, dass am 16. Juni 1995 bei Pilice 153 Menschen erschossen wurden, deren Leichen später am Tatort exhumiert wurden, hätte man noch immer ein grausames Kriegsverbrechen der bosnischen Serben aufgedeckt. Nur nimmt sich diese Zahl für einen Völkermord offenbar zu dürftig aus. Also müssen es 1.000 bis 1.200 Opfer gewesen sein, wie der Zeuge versichert.

Entlastung der Täter

Wie sehr man entschlossen ist, an der Erdemovic-Version festzuhalten, geht aus dem Fall Marko Boskic hervor. Im August 2004 wird der bosnische Serbe in Boston (Massachusetts) festgenommen und angeklagt, sich unter falschen Angaben um eine Immigration in die USA beworben zu haben. In all seinen Aussagen hatte Erdemovic in Verbindung mit den Ereignissen von Pilice auch diesen Namen genannt. Doch schon am 28. August 2004 weigert sich die Haager Anklagebehörde, die Auslieferung des Mittäters von Drazan Erdemovic zu fordern. "Wir haben nur ein beschränktes Mandat und beschränkte Ressourcen", erklärt Carla Del Pontes Berater Anton Nikiforov. Man werde Boskic nicht anklagen, man müsse sich auf die führenden Figuren konzentrieren.

Zu einer Durchleuchtung der Ereignisse vom 16. Juni 1995 kommt es erst am 25. August 2003, als Erdemovic im Milosevic-Prozess in den Zeugenstand tritt. Milosevic fragt unter anderem, ob der Zeuge eine Erklärung dafür habe, dass sich außer ihm kein anderer wegen der Exekutionen verantworten müsse. Finde es der Zeuge nicht merkwürdig, dass nur er festgenommen wurde, und zwar von den jugoslawischen Behörden, die ... Hier allerdings unterbricht Richter Richard May die Frage resolut: "It´s not for the witness to answer that" - es ist nicht Sache des Zeugen, auf diese Frage zu antworten.

Franc Kos, Marko Boskic, Goronja Zoran, Stanko Savanovic, Brano Gojkovic, Aleksandar Cvetkovic und Golijan Vlastimir können ruhig schlafen. Keiner darf mit seiner Aussage die Erdemovic-Geschichte stören.



Der jugoslawische Bürgerkrieg 1995

1. Januar 1995 - nach Vermittlung des ehemaligen US-Präsidenten Carter beginnt eine viermonatige Waffenruhe zwischen den muslimisch-kroatischen Kräften und serbischen Einheiten in Bosnien-Herzegowina.

März 1995 - die bosnische Regierung beginnt eine neue Offensive gegen serbische Stellungen.

Ende Mai 1995 - Serben nehmen erstmals UN-Soldaten als Geiseln, um erneute Luftangriffe der NATO auf ihre Stellungen in Bosnien-Herzegowina zu verhindern.

11. Juli 1995 - serbische Verbände erobern die in Bosnien liegende UN-Schutzzone Srebrenica, Tage später auch Zepa. In den darauffolgenden Tagen werden bei Massenexekutionen Tausende muslimische Zivilisten erschossen. Schätzungen gehen von 3.000 bis 8.000 Opfern aus.

4. August 1995 - Kroatien startet die Militäroperation gegen die mehrheitlich von Serben bewohnte Krajina, über 120.000 Menschen fliehen.

30. August 1995 - die NATO beginnt mit der Operation Deliberate Force schwere Luftangriffe auf serbische Stellungen in Bosnien-Herzegowina und deren gesamte militärische Infrastruktur.

September 1995 - Muslime und Kroaten nutzen die Schwächung der Serben zu enormen Geländegewinnen im Westen Bosnien-Herzegowinas.

1. November 1995 - Beginn der Bosnien-Konferenz in Dayton (Ohio) zwischen den Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas, nachdem sich zuvor in Genf deren Außenminister auf Grundelemente einer Verfassung für Bosnien-Herzegowina und dessen territoriale Aufteilung geeinigt haben.

21. November 1995 - der "Vertrag von Dayton" wird nach massivem Verhandlungsdruck der Clinton-Regierung paraphiert.

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