Ein Kernpunkt in den Debatten um die Globalisierung sind die schwindenden Möglichkeiten des Nationalstaats. Der Regulierungsrahmen, den er bietet, ist für viele übernationale und globale Prozesse inzwischen zu eng. Neue und angemessenere Möglichkeiten der politischen Steuerung bilden sich erst langsam und mühevoll heraus. Dass hier ein großes Defizit besteht, ist Konsens unter vielen Diskussionsteilnehmern.
Es gibt aber auch ein Defizit, das die Wahrnehmungsweise von Globalisierungsprozessen betrifft. Wir reden von Globalisierung und übersehen häufig, wie tief wir tatsächlich noch vom Nationalstaatsdenken geprägt sind, wie sehr wir noch im "Bewusstseinskasten" des Nationalstaats feststecken. Wer nach neuen übernationalen und globalen Regulierungsmöglichkeiten sucht, sollte auch eine weitergehende De-Nationalisierung der Vorstellungswelt ins Auge fassen.
Hierfür lohnt ein Blick in den historischen Weltatlas. Der birgt nämlich, was die Staaten und Grenzen angeht, reichlich Verfremdungspotenzial. Er zeigt Territorien in politischen Konstellationen, die wir uns heute kaum mehr vorstellen können. Und die abstrakte Karte sensibilisiert für die Unterschiede der konkreten Lebenssituationen in den verschiedenen Reichen und Staaten. Wie es wohl war, auf der einen oder anderen Seite des Limes zu leben? Oder im Reich Karls des Großen? Welche unterschiedlichen kulturellen Perspektiven hat ein Großstaat wie die k.u.k.-Monarchie zusammengebracht?
Die Vielfalt und die Unterschiede, die hier anklingen, machen sensibel für eine "Metaebene", für die Bedingungen des Sehens, die wir als solche selbst nicht sehen, die aber stillschweigend unseren Blick formieren. In einer Sprache, die große Denker von Kant bis Derrida in Aufregung hält, könnte man sagen: Es sind historisch-transzendentale "Anschauungsformen". Die Staaten und ihre Grenzen sind im Alltagsleben ebenso in den ökonomischen, politischen und kulturellen Großprojekten ihrer Zeit auch Anschauungsformen oder implizite Konzepte. Sie organisieren nicht einfach nur eine Welt von Dingen und Prozessen, sondern wesentlich auch den Blick auf das, was geschieht.
Historisch-transzendentale "Anschauungsformen" sind sozusagen die "Brillen", durch die wir Geschichte, vor allem aber die Gegenwart betrachten. Sie funktionieren wie ein Mittel der Orientierung, das etwas bestimmtes sichtbar werden lässt. Als Staatsbürger, als Tourist, als Verkehrsteilnehmer, als Mutter, Vater, Schüler, Lehrer, als Kunstrezipient, als Pensionär - es gibt kaum eine soziale Rolle, kaum eine Handlung oder Erwartung, die vom nationalstaatlichen Rahmen nicht tief tangiert wird. Wenn wir von Globalisierung und De-Nationalisierung reden, dann sollten wir diese Dimension, für die sonst meist die Philosophen und Mentalitätsforscher zuständig sind, mitbedenken: Globalisierung und De-Nationalisierung erfordern eine grundsätzliche Verschiebung in unserer Wahrnehmung der Welt, die tiefer greift, als wir vermuten.
Die Abfolge der untergegangenen Reiche und die Vielzahl von Blickwinkeln, die ein historischer Atlas verzeichnet, kann auch eine kritische Sicht der Jetztzeit befördern. Wer in den historischen Karten weiter zurückblättert, zum Beispiel bis zur frühsteinzeitlichen Kältephase, landet womöglich am härtesten in der Gegenwart. Er sieht Kontinente mit Randzonen, die inzwischen unter Wasser liegen, oder auch die Landbrücke zwischen Sizilien und Festland-Italien.
Die meisten von uns sind aufgewachsen mit der Karte, die bis 1989 galt - und die schon merkwürdig weit abgerückt erscheint. Wir wähnen uns im Besitz einer neuen Karte - vielleicht zu fraglos angesichts der tatsächlichen Umbrüche, in denen wir stehen. Linke Kritik heute greift noch zu wenig, weil sie die neue Karte mit überkommenen Sehgewohnheiten betrachtet - und auch deshalb noch nicht die Kritik von "heute" ist. Die Linke wird erst dann in der Gegenwart ankommen, wenn ihr Zukunftsentwurf die Gegenwartspotenziale in ihrem übernationalen Rahmen wirklich ein-begreift.
Die Gründe für den Fortbestand einer überkommenen politischen Vorstellungswelt liegen unter anderem in den neunziger Jahren, als es in Deutschland trotz aller Umbrüche eine Stillstandspolitik gab, die Kontinuität fingierte. Manche fanden das beruhigend, für viele war es eine Art komatöser Zustand. Weitgehender Stillstand in der Bildungs-, Wissenschafts-, Familien-, Umwelt- oder Verbraucherpolitik, die prekäre Finanzierung der deutschen Einheit durch den Griff in die Sozialkassen, die Unterschätzung der neuen globalen Herausforderungen - man lebte mit dem Bild einer bloß erweiterten Bundesrepublik, dem Bild der alten Fernsehwetterkarte, aus der lediglich die innerdeutsche Grenze getilgt war.
Aber auch der Appell an die Bewegungsbilder der siebziger Jahre, an die klassischen Reformkonzepte dieser Zeit, liefert keinen brauchbaren Gegenentwurf. Die vorvergangenen Politikkonzepte geben keine hinreichenden Antworten auf die neuen Probleme, auf die Globalisierung, auf den demographischen Wandel, in dessen Verlauf sich der Aufbau unserer Gesellschaft grundlegend verändert. Sie übersehen das Ausmaß der Gefahren für Klima und Umwelt. Und sie gehen an der tiefgreifenden Pluralisierung vorbei, die unsere Gesellschaft erfahren hat.
Eine reformierte Linke auf der Höhe der Zeit darf sich gerade diesen Prozessen nicht verschließen. Dabei muss sie deren Ambivalenz bedenken, sie muss aber auch viel stärker als bisher die neuen Chancen wahrnehmen (wie auch Dietmar Lingemann im Freitag 34/05 darlegte). Die Akzente der Diskussion liegen heute noch immer zu einseitig auf der Abwehr, auf der illusorischen Re-Nationalisierung, und nicht auf der tatsächlichen Gestaltung der Umbrüche der Zeit.
Linke Politik heute darf die übernationale, globale Perspektive nicht nur als Lippenbekenntnis mit sich herumführen, um sich dann doch wieder im nationalen Handlungsrahmen als dem alles überragenden einzuschließen. Sie muss etwas von dem wiedergewinnen, was einmal im "Hoch" auf die "Internationale Solidarität" zumindest angelegt war. Gleichzeitig muss sie sich vom überkommenen Einheitsdenken und vom Anspruch auf ein Handeln "im Gleichschritt" befreien. Sie muss Solidarität und Gerechtigkeit weit komplexer definieren als noch vor 30 Jahren. Es geht um ein Denken und Handeln in Kategorien von "diversity" und Nachhaltigkeit - hier liegen zentrale Leitbilder der Linken in der heutigen Zeit.
Dem überkommenen Nationalsstaatsdenken entspricht oft passgenau eine verengte Wahrnehmung der Globalisierung selbst. Die Linke sieht hier zu häufig nur die basalen ökonomischen Prozesse, wie man sie mit traditionellen Mitteln beschreiben kann. Es geht aber um tiefgreifende Verschiebungen im ganzen ökonomisch-kulturell-informationellen "setting": Das Internet verbindet heute Hunderte Millionen Menschen in "Echtzeit". Ein Spaziergang durch eine mittlere Großstadt zeigt eine Vielfalt von Lebensstilen und Kulturen, der man vor wenigen Jahrzehnten wohl nur bei einer Weltreise ansichtig wurde. Die Kooperation von Menschen mit sehr unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund wird zu einer entscheidenden Produktivkraft in der globalisierten Welt.
Die Fehlwahrnehmung dieser Vorgänge in der Linken ist groß. Himmelschreiend ist sie auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Wer heute seinen Hauptfeind in "Multi-Kulti" ausmacht und eine dem alten Nationalstaatsdenken verhaftete "Deutsche Leitkultur" revitalisieren will, appelliert an ein sozial Imaginäres, das zunehmend weniger Anschluss findet - weder an die "harten" noch an die "weichen" Faktizitäten der Zeit. Der "nationale" Appell wird zum Gegenstück eines hilflosen Abwehrversuchs der ökonomischen Globalisierung. Ökonomie, Kultur und ihr Zusammenhang werden dabei nicht neu gedacht, sondern universell verkürzt. Ein Retro-Gemisch aus Maschinenstürmerei und deutschnationalem Überbau ist kein brauchbares Konzept.
Und ein linkes Konzept ist es erst recht nicht. Wer Oskar Lafontaines Wahlkampf beobachtet und sein letztes Buch genau gelesen hat, weiß, wie viel hier unter dem Logo "links" durcheinander gehen kann. Wer im Kleingedruckten Ludwig Klages als Verbündeten im Kampf gegen die "Schlammfluten der Fremdwörterei" herbeizitiert, von dem ist fraglich, ob er wirklich für das ökonomisch- soziale und politisch-kulturelle Projekt einer human und gerecht gestalteten Globalisierung steht.
Wenn die Linke noch zu sehr durch die Brille des Nationalstaats blickt, dann bezieht sie sich untergründig auf klassisch-philosophische Konzepte, die ebenfalls hinfällig sind. Der Nationalstaat lässt sich heute nicht mehr als "Einheit von Volk und Staat" konstruieren. Auch Anklänge an ein Konzept des "geschlossenen Handelsstaats", wie einst Johann Gottlieb Fichte es klassisch vertrat, sind für den "Exportweltmeister" Bundesrepublik obsolet. Solche Konzepte führen ein Nachleben in einem Denken, das die Inkongruenz zwischen dem Nationalstaat und seinen ihm immer mehr entwachsenden Regulierungsgegenständen nicht wahrhaben will. Kapital- und Warenströme, Migrationsströme, globale Klimaveränderungen, kulturelle Hybridisierungstendenzen, terroristische Netzwerke - sie alle liegen quer zur nationalstaatlichen Logik. Weder der melancholische Rückzug aus einer scheinbar nicht mehr regulierbaren Welt noch die scheinbar heroische Rückwendung auf verflossene nationalstaatliche Kompetenzen helfen hier weiter. Was ansteht, ist ein politisch-kultureller Lernschritt, der die Inkongruenz, die eingetreten ist, nicht nur ausspricht, sondern sie sehr grundlegend in der Definition neuer, übernationaler Bezugsebenen angeht.
Hier liegt auch eine wesentliche Aufgabe für eine erneuerte europäische Linke. Was mit Blick auf diese Ebene vermieden werden muss, wird deutlich an einem weiteren Retro-Konzept. Die konservative Verschiebung oder Erweiterung der nationalen Perspektive auf das "Christliche Abendland" als Rahmen für ein "Europa der Vaterländer" taugt nicht als Leitbild. Es will imaginierte Einheiten vergangener Jahrhunderte auf Dauer stellen. Europa kann sich - genauso wenig wie Deutschland - religiös und kulturell exklusiv definieren.
Die Linke muss an dieser Stelle hervorkehren, dass Europa der Raum für den gleichberechtigten Dialog zwischen Religionen und Kulturen ist - und nicht der autoritäre Ordnungsrahmen für deren Hierarchisierung. Demokratie, Toleranz und Menschenrechte sind die Grundlagen in einem lebendigen Spiel der Differenzen, das gerade den europäischen Einigungsprozess zu einem höchst innovativen Unterfangen macht.
Die EU-Mitgliedschaft einer sich auf dieser Grundlage modernisierenden Türkei kann dabei ein weiterer historischer Schritt sein. Die Türken stehen nicht vor Wien, sondern an der Schwelle zu einer tiefgreifenden Modernisierung ihres Landes. Die Entwicklung der Türkei wird entscheidende Bedeutung für die langfristigen Beziehungen Europas zur arabischen und islamischen Welt haben. Wer die Türkei von vornherein ausgrenzt, läuft mit ideologischen Scheuklappen in eine Falle, die "clash of civilizations" heißt.
Der Abbau des überkommenen nationalstaatlichen Denkens meint für die Linke auch nicht einfach De-Regulierung, sondern vielmehr Aufbau neuer, übergreifender Regulierungsformen - hier liegt die Gestaltungsaufgabe. Längst schon sind entsprechende Prozesse im Gang. Mit Blick auf den Klimaschutz hat das Kyoto-Protokoll, das von der rot-grünen Regierung mit vorangetrieben wurde, eine herausragende Bedeutung. Mit Blick auf die soziale Gestaltung der Globalisierung sind Instrumente und Vereinbarungen wie die Sozialcharta des Europarates, Rahmenvereinbarungen in großen Unternehmen, die an allen Standorten gelten, die OECD-Leitlinien für internationale tätige Unternehmen oder die Global-Compact-Initiative von Kofi Annan zu nennen. Sehr unterschiedliche Regelungen kommen hier zum Zug - Selbstverpflichtungen ebenso wie Verträge und "hard law", deren Bestimmungen juristisch bereits durchsetzbar sind - oder durchsetzbar gemacht werden müssen. Die Linke muss daran mitarbeiten, dass das Netz, das sich hier bildet, so eng und verlässlich wird, dass es den Namen einer neuen Sozialordnung wirklich verdient.
Mit dem Abbau des engen nationalstaatlichen Denkens stellen sich auch neue Fragen der Legitimation: Wie kann ein demokratischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess aussehen, wenn er den Rahmen des Nationalstaats und seiner gewählten Repräsentanten übersteigt? Wie ist ein komplexes Regieren möglich, das viele sehr unterschiedliche Akteure einbegreift? Welche Art von kritischer Öffentlichkeit kann die komplizierten Prozesse der Europäisierung und Globalisierung begleiten? Wie ist das Zusammenspiel zwischen Politik und Zivilgesellschaft, zwischen Staat und NGOs zu gestalten, wenn Entscheidungsprozesse zunehmend anonym werden, wenn die Verantwortung einzelner handelnder Personen hinter Hyper-Institutionen verschwindet, wenn es keinen klaren Ort der Entscheidung mehr gibt, sondern nur noch ein irisierendes Verweisungsspiel?
Die Linke muss mit einer größeren Vielheit leben lernen. Und sie muss die daraus resultierende Komplexität auch ihren Wählern zumuten. Sie darf nicht in die Freund-Feind-Schemata rechter Demagogie verfallen. Die Orte linker Politik sind immer weniger die homogenen Milieus vergangener Jahrzehnte. Vielheit und soziale Komplexität sind die Signaturen der Zeit. Hierauf muss die Linke mit einer "Politik der Anerkennung" reagieren, die unterschiedliche Politikfelder durchzieht, einer Politik, die inklusiv, und nicht exklusiv ist, die Vielheit schützt, unterschiedliche Perspektiven zur Geltung bringt und dabei eine schmalere, nicht-substantialistische, dialogische Variante der Imagination von sozialer Einheit impliziert. Linke Politik heute verlässt ihren alten Bewusstseinskasten Nationalstaat, in dem sie zu lange festsaß. Sie bringt zur Geltung, dass die herkömmliche Trennung von Innen und Außen immer weniger haltbar ist.
Claudia Roth ist Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Sie war Fraktionsvorsitzende der grünen Fraktion im Europaparlament und Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung.
Reinhard Olschanski promovierte zur Phänomenologie der Mißachtung. Diverse Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag.
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