Wer erinnert sich nicht der Zeiten, als sich unzählige weiße, "unbefleckte" Hände gen Himmel reckten, darunter die von José Maria Aznar? Spaniens Premier bei seinem unermüdlichen Einsatz gegen die Gewalt von ETA und für Frieden im Baskenland. Doch dieser Frieden ist wieder einmal bedroht - die im Franco-Widerstand entstandene klandestine Gruppe Euskadi Ta Askatasuna (Baskenland und Freiheit), die in Bilbao und anderswo immer noch respektvoll "bewaffnete Organisation" genannt wird, hat ihren Gewaltverzicht für beendet erklärt. Alleiniger Nutznießer wird die konservative Regierung Spaniens um José Maria Aznar sein, die während des vergangenen Jahres zu keinem Zeitpunkt ihr eventuelles Interesse an einer politischen Lösung des baskisch-spanischen Konflikts signalisierte und die große Chance für einen "irischen Weg" negierte. Innerhalb von ETA setzten sich derweil die Falken durch.
Eine "mögliche Falle" von ETA
Ähnlich einem riesigen Dampfer aus gleißendem Titan - gestrandet an den Ufern des Nervion - symbolisiert das Guggenheim-Museum den Untergang des "baskischen Ruhrgebiets" bei Bilbao. Über 100 Jahre lang Zentrum des Schiffbaus und der Stahlindustrie bestimmen dort heute High-Tech-Unternehmen in ihren Stahl-Beton-Palästen das Bild. Das Klima war günstig, seit sich ETA zum Waffenstillstand verpflichtete. "15 Jahre lang waren wir ruiniert", konstatiert Xabier Arzallus, Chef des regierenden Partido Nacionalista Vasco (PNV) in seiner futuristisch anmutenden Parteizentrale nur einen Katzensprung von Guggenheim entfernt, "wenn sich früher Investoren aus Deutschland, Italien oder England in Spanien engagieren wollten, standen zwei Standorte zur Auswahl: Katalonien und das Baskenland. Wir gingen stets leer aus. Begründung: Bei euch gibt es ETA ..."
Am 18. September 1998 hatte die Untergrundorganisation einseitig einen "unbefristeten Waffenstillstand" verkündet. Kurz darauf trafen sich Parteien, Gewerkschaften und Basisgruppen in Lizarra zum "Forum für den irischen Weg". Sie entwarfen einen Friedensplan für eine endgültige Lösung des über hundertjährigen Konflikts. Bei den Wahlen im Juni 1999 erhielt diese Allianz etwa 60 Prozent - 40 Prozent der Wähler entschieden sich mit dem konservativen Partido Popular (PP) und den Sozialdemokraten des PSOE für "spanische" Parteien, was die Spaltung der Region in zwei Lager bestätigte.
Nichtsdestotrotz bedeutete Lizarra eine Zäsur: Schieden sich in der Vergangenheit die Geister an der Haltung zu ETA, so kreiste der Streit nun um den Friedensprozess und die künftige Verfasstheit des Baskenlandes - das "Selbstbestimmungsrecht" stand auf der Tagesordnung.
Doch Premier Aznar verweigerte Gespräche mit der Lizarra-Gruppe. Zwar trafen sich im Mai Regierungsvertreter mit ETA in Zürich, doch wohl eher aus optischen Gründen. Anschließend wurden zwei der beteiligten ETA-Emissäre sogar verhaftet, so dass die Organisation schließlich bei ihrem letzten Verhandlungsangebot drei Gefangene als Unterhändler nominierte, was Madrid prompt als "Propagandatrick" ablehnte. Aznars Innenminister Mayor Oreja favorisierte ohnehin eine "polizeiliche Lösung" und reduzierte die baskische Frage stets auf ETA. Deren Waffenstillstand war für ihn eine "mögliche Falle", da die dezimierte und angeschlagene Stadtguerilla eine Atempause brauche, um sich reorganisieren zu können.
Insofern war es kein Zufall, dass Arnaldo Otegi, der Sprecher der baskischen Linken um Herri Batasuna (Vereintes Volk/HB) und Euskal Herritarrok (Baskische Bürger), die knapp 20 Prozent Stimmenanteil repräsentieren, schon vor dem schockierenden ETA-Kommuniqué vom 28. November mit "noch härteren Aktionen" der Guardia Civil und Policia Nacional rechneten. Die Regierung setze eben darauf, argumentierten sie, dass die Menschen die Geduld verlieren und der Friedensprozess scheitern wird. Madrids Intention dabei sei klar: "Man fürchtet, eine politische Debatte über unsere Position zu verlieren."
Die harte Haltung Aznars entsprang der naheliegenden Annahme, Verhandlungen innerhalb des Friedensprozesses würden den spanisch-baskischen Konflikt an sich berühren. Die Zeit einer eingeschränkten Teilautonomie von drei baskischen Provinzen, wie sie 1979 das "Statut von Guernica" für Euskadi vorsah, war abgelaufen. Alle Lizarra-Kräfte drängten - unterschiedlich stark, aber einhellig - auf eine "freie Entscheidung" der Bevölkerung über den künftigen Status des Baskenlandes, also ein Referendum.
Mit anderen Worten: Der Friedensprozess stand bis zum 28. November kurz davor, eine historische Dimension zu erreichen. Die Aussagen von zwei seiner Protagonisten lassen daran kaum Zweifel. Xabier Arzallus: "Wir sind ein Volk und eine Nation - was will eine Nation? Will sie nicht Herr über sich selbst sein?" - Und Arnaldo Otegi: "Autonomie ist nicht gleichbedeutend mit Souveränität. Souverän bin ich nur, wenn ich selbst entscheiden kann von gleich zu gleich." Nach zwei Jahrzehnten des Gegeneinanders widerspiegeln diese Positionen einen beachtlichen Grad an Verständigung - erklärbar nicht zuletzt aus den Biographien der beiden Politiker. Otegi - ein ehemaliger ETA-Aktivist, der in den achtziger Jahren wegen Entführung eines Michelin-Managers sechs Jahre hinter Gittern verbrachte - holt auf die Frage, wo er inhaftiert war, zu einer beeindruckenden Aufzählung aus: "Carabanchel, Alcala Melo, Herrera de la Mancha, Almería, Ciudad Real, Huesca." -Arzallus war lange Zeit im deutschen Exil, später im französischen Nordbaskenland.
Baskische Gefangene ins Baskenland
Kurz vor der jüngsten ETA-Erklärung ging die Meldung durch die spanischen Medien, in Iruna (Pamplona) seien vier junge Leute von der Guardia Civil verhaftet, auf das Kommissariat gebracht und nach dem Verhör in ein Hospital transportiert worden - "bestimmt nicht, weil sie geimpft werden sollten", schrieb eine Zeitung. Trotz des Friedensprozesses schien sich an den Folterpraktiken der Guardia Civil kaum etwas geändert zu haben. Aber hatte das Kabinett Aznar nicht wenigstens in der zentralen Frage der politischen Gefangenen Konzessionen gemacht?
Insgesamt waren 105 von mehr als 550 ETA-Häftlingen von - wie es hieß - "Maßnahmen der Regierung" betroffen: 57 wurden freigelassen, weil sie ihre Strafen längst verbüßt hatten, 27 wurden ins Baskenland verlegt, die anderen "angenähert". Das bedeutete, Gefangene aus dem Maghreb wurden von Melilla nach Algeciras geholt. Eine Bootstour über den Golf von Gibraltar kurz. Viele Familien waren so nach wie vor von Freitagabend bis Montagmorgen unterwegs, wenn sie ihre Angehörigen für nur eine Besuchsstunde im tiefen Süden Spaniens sehen wollten. Und hätten nicht die agilen und phantasievollen Basisgruppen der Solidarios con los presos auf abenteuerliche Weise Fotos des mit Handschellen an sein Zellenbett gefesselten schwerkranken Estaban Nieto an die Öffentlichkeit gebracht, wäre er nach 15 Jahren Haft nicht entlassen worden. So konnte Nieto immerhin noch für vier Monate außerhalb der Zuchthausmauern leben - bis zu seinem Krebstod Ende September. Danach entlud sich die Wut in einigen baskischen Städten, und die brennenden Molotow cocktails ließen die Fragilität des Friedens prozesses erkennen. Schon damals befürchteten viele, angesichts der Madrider Sturheit könnte ETA zu den alten Methoden zurückkehren.
Xabier Arzellus Nationalistische Partei war nach den Europawahlen vom 13. Juni ostentativ aus der christdemokratischen Fraktion in Strasbourg aus- und bei der grünen "Regenbogen"-Gruppe eingestiegen, um nicht länger mit Aznars Volkspartei unter einem politischen Dach bleiben zu müssen: "Ich verstehe nicht, warum uns Aznar nicht hilft, den Konflikt zu beenden?" klagte er. "Warum macht er alle möglichen Schwierigkeiten? Soll dieser Prozess kaputt gehen?" - Vor dem 28. November lag ein Generalstreik für Euskal Presoak, Euskal Herrira! (Baskische Gefangene ins Baskenland) in der Luft, die Forderung hing vielerorts als Fahne in Fenstern, an Rathäusern und Kirchtürmen.
Nach der jetzigen Entwicklung ist damit zu rechnen, dass die Allianz von Lizarra auseinanderbricht. Ein "irischer Weg" ist ohne Waffenruhe undenkbar. Die Lizarra-Parteien bauten auf Demokratie und Selbstbestimmung. Solange ETAs Waffen schwiegen, arbeiteten Zeit und Logik dafür. Jetzt könnte das Gegenteil der Fall sein - der baskisch-spanische Konflikt wird wieder auf ein "militärisches Problem" reduziert. Die Hardliner in Madrid und bei ETA können triumphieren.
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