Während eine ermüdende Kontinuitätsrhetorik zum auffälligen Merkmal der Schröder-Regierung nach den Bundestagswahlen wurde, sehen nur die wenigsten nach der aktiven deutschen Beteiligung am NATO-Einsatz in Jugoslawien eine wirkliche Fortsetzung der bisherigen Außenpolitik. Die Emanzipation der deutschen Außenpolitik wirft natürlich neue Fragen auf, die insbesondere von den Nachbarn im Licht der deutschen Geschichte heftig diskutiert werden.
Dabei läßt sich das neue außenpolitische Handeln der rot-grünen Koalition m. E. auf drei Faktoren zurückführen: Erstens sieht sich die neue Regierung mit einer viel komplexer gewordenen europäischen Wirklichkeit konfrontiert. Diese Komplexität erlaubt es nicht, auf alte außenpolitische Optionen, wie sie mit der Ostpolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts verbunden waren, zurückzugreifen. Zweitens muß die neue Regierung auf eine wichtige Komponente des außenpolitischen Erbes der letzten Koalition verzichten: die persönliche Färbung der Kohl-Diplomatie. Das »Sauna-Verhältnis« zwischen Kohl und Jelzin machte dies besonders deutlich. Drittens bleibt offen, wie dauerhaft die im Kosovo-Krieg vorgeführte »Emanzipation« Deutschlands sein wird. Das neue deutsche Selbstbewußtsein könnte nämlich vor allem eine Folge der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, des deutschen Vorsitzes im G-8-Club sowie des Umstandes sein, daß eine 16 Jahre von der Macht getrennte SPD und der politische Neuling Bündnis 90/Die Grünen in der Kosovo-Krise ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen wollten.
In Polen wird indes diese dritte Möglichkeit kaum diskutiert, vielmehr ein allgemeiner Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitk hinsichtlich Europas konstatiert, der nicht unbedingt mit dem Regierungswechsel zusammenhängt. Der bisherige permissive Konsens in der deutschen Gesellschaft über die europäische Integration existiert nicht mehr. Die Auseinandersetzungen um die Einführung des Euro, die Korruptionsskandale in der EU oder die deutschen Netto-Zahlungen zeugen davon, daß sich die erwähnte Emanzipation bereits seit der Wende von 1989/90 auf dem Vormarsch befindet.
Vor allem immer häufiger verwendete »Mantra-Wörter« wie »Nationalinteressen« und »Realismus« beunruhigen Deutschlands Nachbarn. Der polnische Außenminister Geremek meinte dazu bei einem Treffen mit Gerhard Schröder: »Realismus ist eine gute Sache, solange er nationale Interessen in Rechnung stellt. Aber wir haben das Gefühl, er müßte mit einem Schuß Romantik kombiniert werden.«
Hinzu kommt, daß der diffuse Charakter der heutigen deutschen Außenpolitik beachtliche Verwirrung stiftet. Durch die deutsche Teilnahme an den NATO-Einsätzen wurde nicht nur der Koalitionsvertrag gebrochen, der das Gewaltmonopol der UNO explizit hervorhebt, es ist gleich mehrfach gegen geltendes Recht verstoßen worden: Der deutsche NATO-Militäreinsatz mißachtete die UN-Charta, das Grundgesetz und den »Zwei-Plus-Vier«-Vertrag. Mit anderen Worten: Der deutschen Außenpolitik fehlt eine erkennbare Linie. Das erhöht die Gefahr von Fehlinterpretationen deutscher Interessen durch seine Nachbarn.
Insofern sind in der polnischen Debatte über die deutsche Emanzipation in der Außenpolitik sowohl positive als auch negative Stimmen zu vernehmen. Zunächst zu ersteren: Da jedes multipolare System zu Konflikten neigt, gilt in Polen die von Deutschland unterstützte NATO als ein wohlwollender, im Lernen begriffener Hegemon, der den internationalen Frieden wahren sollte. Zudem wird ein weiterentwickeltes Völkerrecht als notwendig erachtet. Wie Ulrich Preuß feststellte, existiert im Völkerrecht eine inhärente Spannung zwischen dem Kriegsverbot und der Wahrung der Menschenrechte. Das Verbot der Nichteinmischung dürfe demzufolge nicht zur Unterdrückung ganzer Volksgruppen durch »souveräne« Staaten mißbraucht werden. Nachdrücklich begrüßt werden in Polen die neuen Töne in der deutschen Ostpolitik - namentlich die veränderte Einstufung Rußlands innerhalb der deutschen Interessen-Hierarchie. Die NATO-Einsätze werden so als eine Wende gegen den russischen Atavismus gedeutet. Ohnehin sei es derzeit unmöglich, angesichts der Zersetzung seiner Staatsstrukturen, Rußlands Interessen angemessen zu beachten. Rußland werde daher im außenpolitischen Geschehen zwangsläufig marginalisiert. Und Deutschland - so die Lesart in Polen - ist dabei dank seiner Einbindungsrhetorik und Kredite ein stabilisierender Faktor.
Andererseits weckt die deutsche Emanzipation auch Ängste. Man befürchtet, daß der neue »Realismus« den EU-Beitritt der osteuropäischen Kandidaten unnötig hinausschieben könnte. Schröders Warnung vor »falschen Illusionen« in bezug auf den Termin des Beitritts sowie das Verlangen Deutschlands nach dem Schutz seines Arbeitsmarktes vor Arbeitskräften aus Osteuropa werden als ernste Konfliktquellen betrachtet. Außerdem wecken die Konzentration der deutschen Außenpolitik auf den Balkan und das dortige finanzielle Engagement die Befürchtung, es könne einen Prioritätenwechsel zuungunsten der EU-Osterweiterung geben. Des weiteren wird angenommen, im Falle des Scheiterns der rot-grünen Koalition dürfte die vielleicht aggressive Außenpolitik einer von der CDU/CSU dominierten Regierung für Spannungen zwischen Polen und Deutschland sorgen. Der Einfluß von Vertriebenenverbänden auf die CDU/CSU ist bekannt. Helmut Kohl versprach dieser Klientel einst sogar ein Mitspracherecht bei den Verhandlungen über unseren EU-Beitritt oder den Tschechiens. In Polen rechnen nicht wenige damit, daß zum Zeitpunkt einer EU-Osterweiterung wieder die CDU/CSU die Regierungsgeschäfte wahrnimmt.
Viele Analytiker meinen, es läge im Interesse Deutschlands, eine »gezähmte Macht« (tamed power) zu bleiben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich der Gebrauch von Macht in einer interdependenten westlichen Welt grundsätzlich verändert hat. Es gibt auch andere Stimmen, die soweit gehen, von einer Instrumentalisierung der EU durch Deutschland zu sprechen, mit der das Ziel verfolgt werde, einstige Großmachtpositionen zurückzugewinnen.
Unser Autor ist Politikwissenschaftler und lehrt derzeit politische Theorie an der Universität Potsdam
Bisherige Beiträge in der Reihe "Deutscher Sonderderweg":
Ausgabe 33: Der Sonderweg als Nebengleis
Ausgabe 32: Kriegsliberalismus
Ausgabe 32: Bündnis(un)treue als Popanz
Ausgabe 31: Bündnistreue als letztes Argument
Ausgabe 30: Bündnistreue als Staatsräson
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