Zwei Kriege habe ich schon beendet!« Mit dieser Formel wirbt Rußlands kantiger Ex-General Alexander Lebed für seine künftige Präsidentschaft. Jetzt kritisiert er die Unentschlossenheit der eigenen Regierung gegenüber der NATO. Man brauche eine Militärdoktrin, die eindeutig definiere, bis zu welcher Grenze Rußland Aggressionen des Westens hinzunehmen bereit sei. Nur so könne die NATO gestoppt und damit der Weltfrieden erhalten werden.
Niemand im Moskau dieser Tage fühlt sich bemüßigt, solche Sätze zurückzuweisen. Lebed spreche nur aus, was die Mehrheit der Bevölkerung fühle, heißt es im Stabsquartier seiner Bewegung. In der Tat mag der heutige Gouverneur von Krasnojarsk als Seismograph durchschnittlicher rus
licher russischen Befindlichkeit gelten. Afghanistan hat ihn wie viele seiner Landsleute belehrt, daß der Krieg gegen ein Volk, das als Guerilla in den Bergen um seine Selbstbehauptung kämpft, nicht zu gewinnen ist. Zunächst in Moldawien, danach in Tschetschenien hat er aus dieser Einsicht heraus die Einstellung der Kampfhandlungen erwirkt. Aber nicht Pazifismus, sondern Schadensbegrenzung war dabei das wesentliche Motiv. Auch darin ist Lebed typisch, wenn er sagt, Rußland könne seinen Frieden nur innerhalb einer gegebenen ethnischen Vielfalt finden. Das ist Konsens.Die nicht-russischen Völker haben sich nach den ersten unruhigen Jahren mehr oder weniger recht in der neuen Föderation eingerichtet. Soeben ist auch der Versuch der KP gescheitert, die öffentliche Debatte um die Geschichte der vergangenen zehn Jahre per Impeachment zu erzwingen. - Es ist offensichtlich: Die Menschen wollen nicht darüber sprechen. Sie wollen ihren eigenen, privaten Dingen nachgehen. Rußland befindet sich gegenwärtig in einer Phase der Superindividualisierung. Das Bedürfnis nach Entfaltung eines persönlichen Lebens steht im Vordergrund. Der Krieg in und um Jugoslawien bricht in diese Welt ein, aktiviert verdrängte Erinnerungen, zerschlägt die seit 15 Jahren gepflegte Illusion vom zivilisierten europäischen Haus und dem friedlichen Weg zu Wohlstand und Demokratie.Wenn nur die Atombombe bleibt ... Und noch eine zweite Erinnerung kommt hoch: Eben das Wissen darum, daß auch Rußland ein Vielvölkerstaat ist. Die Bombardierung Jugoslawiens wird als Präzedenzfall empfunden, der sich schon morgen gegen Rußland wenden kann. Im Grunde - so die bange Frage- wäre doch der tschetschenische Krieg auch ein Anlaß für das Eingreifen der NATO gewesen? Geschah das vielleicht nur deswegen nicht, weil Rußland seinerzeit noch stark war? Aber was, wenn es morgen noch weiter geschwächt wird? Sind Atombomben dann das Einzige, was ihm zur Verteidigung bleibt?Niemand befürwortet ernsthaft den Einsatz russischer Waffen; nur Dummköpfe oder Provokateure nehmen Milosevic unkritisch in Schutz, aber es erhebt sich auch keine einzige Stimme, um die NATO-Bomben als Lösung des jugoslawischen Krise anzupreisen. Die westorientierten Intellektuellen fühlen sich verraten. Ihre Enttäuschung geht tief. »Danke für die Bomben - der Westen macht unseren Gegnern ein wunderbares Geschenk«, spottet Jewgeni Proschtschetschin, ein typischer Vertreter dieser Szene. Als Vorstand des Moskauer Antifaschistischen Zentrums, als Experte für Anhörungen der Moskauer Stadtduma zum Thema Extremismus, und immer noch Mitglied von Prawoe delo, der Partei der Neoliberalen um Jegor Gaidar, gehört er zu denen, die den Westen an seinen eigenen Versprechen messen. »Beschimpft haben uns die Rechten schon immer«, so Proschtschetschin, »aber jetzt haben sie Argumente. Der Westen hat sein häßliches Gesicht gezeigt. Jede Bombe, die in Jugoslawien fällt, nützt den Kommunisten, Nationalisten und Faschisten bei uns, und übrigens nicht nur bei uns, auch außerhalb Rußlands.«Ungeachtet seiner Kritik an Milosevic fordert Proschtschetschin den sofortigen Stopp des NATO-Bombardements, wenn eine Destabilisierung Europas, Rußlands und der globalen Balance vermieden werden solle. Im Hintergrund seiner Kritik klingt der Verdacht auf, daß die USA derartige Folgen geradezu provozieren könnten. Aber noch mag das niemand glauben! Und vollkommen unfaßbar scheint in diesen Kreisen, weshalb Europa - vor allem Deutschland - sich da mit hineinziehen lassen.Gleiche Urteile, aber andere Schlußfolgerungen sind im gegenwärtigen Establishment zu hören. Wladimir Martinow etwa, PR-Chef des vom Moskauer Bürgermeister Lushkow gegründeten Wahlvereins Otetschestwo (Vaterland) nimmt kein Blatt vor den Mund. Milosevic sei für ihn ein Verbrecher. Die Bomben der NATO aber halte er für eine Herausforderung, die Rußland annehmen müsse, allerdings nicht, indem es den Serben militärische Bündnishilfe leiste. Diesen Weg schließt Martinow wegen der eigenen Schwäche kategorisch aus. Darin weiß er sich auch mit dem föderalen Establishment einig, und die russische Außenpolitik ist ihm hinlänglicher Beweis dafür. Martinow sieht Rußland vielmehr dazu aufgefordert, alle Anstrengungen zu unternehmen, um sich von der Bevormundung durch den Westen, wirtschaftlich wie politisch zu befreien, allerdings ohne dabei die Beziehungen ganz abzubrechen. Das, meint er, sei weder möglich noch wünschenswert. Eine Kolonie des Westens jedoch dürfe Rußland nicht werden. »Sind Deutschland und Frankreich voneineinander abhängig? Nein, sind sie nicht; sie unterhalten gleichberechtigte nützliche Beziehungen zueinander. So muß es auch zwischen Rußland und den Ländern des Westens werden. Das ist die Linie, die Lushkow als Bürgermeister von Moskau verfolgt und - wenn möglich - später als Präsident Rußlands verfolgen wird.«Auf dieser Linie agieren auch Männer wie der Präsident der freien Gewerkschaften Mos kaus, Michail Nagaitzew, oder Anatoli Baranow, PR-Chef der Rüstungsfirma MAPO, die das Kampfflugzeug MIG produziert. Beide waren seinerzeit linke Aktivisten der Perestroika, heute sind sie tragende Stützen des Establishments. Nagaitzew ist auch Mitglied von Otetschestwo; er hat mit dem Bürgermeister einen »Pakt für Arbeit« geschlossen - Baranow ist Sympathisant der KP Rußlands.Gennadij Sjuganow hütet sich ... Schon der Bankenkrach vom 17. August 1998, erst recht aber die Bomben der NATO, meint Nagaitzew, würden Rußland tendenziell zu größerer Unabhängigkeit gegenüber dem Westen verhelfen. Dem Anstieg der heimischen Konsumgüterproduktion infolge des Crashs folge nun eine Belebung der Rüstungsindustrie, wenn auch wegen des angespannten Budgets der Föderation nur in kleinen Schritten. Mit jedem Tag, den die NATO bombe, spöttelt Anatoli Baranow, wachse die Bereitschaft der russischen Elite, wieder in den Rüstungssektor zu investieren. Ein Paradigmenwechsel deute sich an, der darauf ziele zu verhindern, daß Rußland zu einem Reservat Amerikas werde. So sprechen denn auch die Kommunisten mit vaterländischem Pathos vom »NATO-Faschismus«, dem ein starkes Rußland entgegentreten müsse. Alexander Prochanow, Herausgeber der Zeitung Saftra, ein seit Jahren bekannter Kristallisator der patriotischen und nationalbolschewistischen Kräfte, potentieller Bündnispartner der KPRF für die bevorstehenden Duma-Wahlen, gibt die Parole von der »Konterrevolution gegen den Neo-Liberalismus« aus, die jetzt beginnen müsse. Besorgte Soziologen warnen vor einem russischen Versailles, das die verletzten nationalen Gefühle der abgehalfterten Bürokratie und der Intelligenz des Landes zu einem nationalistischen Sturm werden lassen könnte.Allerdings wird auch in diesem Lager nicht so heiß gegessen wie gekocht: KP-Vorsitzender Sjuganow hütet sich, öffentlich zu militärischem Eingreifen gegen die NATO aufzurufen. Letztlich überwiegt - allen hitzigen Eskapaden zum Trotz - der schwierige soziale Alltag verbunden mit der Überzeugung, die NATO könne diesen Krieg nicht gewinnen. Über alle Sorge hinweg leuchtet selbst bei Kritikern des Nationalismus die Hoffnung auf, daß dieser Krieg doch auch sein Gutes habe, wie etwa Alexander Busgalin - parteiloser Reformlinker - es formuliert, nämlich, daß mit der Zerstörung der Illusion vom leichten Import der Demokratie aus dem Westen sich die Besinnung auf die Suche nach einem eigenen demokatischen Weg durchsetzt.
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