Keinen Nachschlag bitte!

Im Gespräch Yves Salesse, in Frankreich Co-Präsident der "Fondation Copernic"*, über die Renaissance einer EU-Verfassung und die Hoffnung auf eine europäische Öffentlichkeit

Für Ende des Monats hat die österreichische Ratspräsidentschaft zu einem EU-Spitzentreffen gebeten, um über das Schicksal der ins Schlingern geratenen Europäischen Verfassung zu beraten. Nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden vor einem Jahr war zunächst eine allgemeine "Denkpause" für richtig befunden worden, bevor über eine fortgesetzte Ratifizierung entschieden werden sollte. Wir haben dazu Befürworter und Kritiker einer EU-Verfassung befragt. In unserer Serie kamen bisher der polnische Europa-Abgeordnete Andrzej Szejna, der Politikwissenschaftler Elmar Altvater sowie Boris Kagarlitzki für die neue Linke Russlands und Alex Foti für das Euromayday-Netzwerk in Mailand zu Wort.

FREITAG: Es gibt die Absicht etlicher EU-Regierungschefs, den 2005 durch die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden in eine Krise geratenen EU-Verfassungsprozess zu revitalisieren. Was halten Sie davon?
YVES SALESSE: Vorerst wissen wir nicht, was da in den Köpfen vorgeht. Wir sind jedenfalls gegen eine "Wiederbelebung", sofern sie darauf beruht, in den entsprechenden Institutionen einen neuen Text durchzuwinken - nach einer etwaigen Debatte im EU-Parlament. Wenn es aber darum geht, eine wirkliche Debatte über Bilanz und Aussichten der europäischen Integration zu organisieren, die in allen Ländern stattfindet und die Bürger einschließt, sind wir einverstanden.

Ist es Ihrer Meinung nach denkbar, dass der bisherige Verfassungsentwurf - eventuell in modifizierter Form - den Franzosen erneut zur Abstimmung vorgelegt wird?
Frankreich und die Niederlande haben per Referendum klar zum Ausdruck gebracht, dass sie den Text ablehnen. Es wäre ein schwerwiegender Fehler zu glauben, einige Änderungen würden reichen, damit Franzosen und Niederländer ja sagen.

Warum?
Weil in Frankreich die Mehrheit ein Europa ablehnt, das dem Primat des Marktes folgt und die Dogmen des Neoliberalismus als oberste Regeln begreift.

Sollte es eine Neufassung des Textes geben?
Die von mir angedeutete Debatte über die europäische Integration kann es nur durch einen neuen, radikal anderen Entwurf geben. Die europäische Idee ist populär - nach zwei globalen Schlächtereien im 20. Jahrhundert, die ihren Ursprung in der Konfrontationen zwischen europäischen Staaten hatten! Glücklicherweise gilt heute das Credo Kooperation statt Konfrontation - Internationalismus statt Chauvinismus. Nur bedient sich die jetzige EU-Integration dieser Motivation in teilweise täuschender Absicht. Unsere Nein-Kampagne hat vor einem Jahr genau diese Täuschung auf die Tagesordnung gesetzt, weil sich die Menschen in einem anti-sozialen und anti-demokratischen Europa nicht wiederfinden. Deswegen brauchen wir einen Verfassungstext, der mit der Matrix der gegenwärtigen Integration bricht.

Falls über eine veränderte Verfassung noch einmal abgestimmt würde, sollte das dann in allen EU-Staaten per Referendum geschehen?
Die Frage ist doch eher, wie ließe sich dieser substanziell neue Text erarbeiten und verabschieden? Doch wohl nicht als Ergebnis erneuter Verhandlung zwischen den Regierungen. Ich plädiere für einen wirklichen konstituierenden Prozess auf europäischer Ebene. Das heißt, zunächst muss eine tiefgehende Debatte organisiert werden, um die Bürger aus allen Staaten der Union einzubeziehen. Diese Debatte könnte die Werte und fundamentalen Prinzipien herausarbeiten, die von den Bevölkerungen als Sockel der Integration gewünscht werden; parallel dazu sollten Repräsentanten dieser Bevölkerungen für eine Versammlung gewählt werden, die damit betraut ist, einen neuen Verfassungsentwurf vorzulegen. Hat man sich auf den geeinigt, sollte der durch Referenden in allen EU-Ländern ratifiziert werden.

Kann eine Verfassung über den künftigen Charakter der EU entscheiden - etwa in der Frage: ausgleichender Sozial- oder neoliberaler Wettbewerbsstaat?
In den EU-Staaten setzt sich zusehends die Erkenntnis durch: Das heutige Europa bringt alles und jeden zueinander in Konkurrenz: die Staaten, die Menschen, die Dienstleistungen, die Löhne und so weiter. Eine Verfassung muss daher sagen, in welcher Logik man sich bewegt. Aber es ist weder an ihr, das ökonomische und soziale Modell zu definieren, noch - wie es heute in den EU-Verträgen der Fall ist - die zu verfolgende Politik.

Sollten durch eine EU-Verfassung die Rechte des Europäischen Parlaments deutlich gestärkt werden? Sollte die EU-Legislative beispielsweise ein Budgetrecht haben, das dem nationaler Parlamente vergleichbar ist?
Ich stehe für eine wirkliche, demokratisch kontrollierte politische Macht, die in der Lage ist, die Kompetenz Europas zu befördern. Das gilt überall dort, wo europäisches Handeln nötig ist, weil der einzelne Staat nicht mit vergleichbarer Wirksamkeit agieren kann.

Natürlich kann die Integration Europas die Existenz der Nationalstaaten nicht außer Acht lassen - nur über sie werden Staatsbürgerschaften definiert. Aber diese Repräsentation der Staaten kann auf verschiedene Weise in die EU-Institutionen übersetzt werden. Leider ist gerade die "Zwischenstaatlichkeit" dem Aufbau einer europäischen Demokratie sehr abträglich, da es immer eine ausreichende Zahl von Regierungen geben wird, um genau dort zu blockieren. Was die Demokratie angeht, so schadet ihr das Prinzip der "Zwischenstaatlichkeit" auf vierfache Weise: Es handelt sich um traditionelle verdeckte Diplomatie; es verstärkt die Verselbstständigung der Exekutiven; es begünstigt eine technokratische Macht; es verschleiert unter dem Deckmantel der nationalen Interessen politische Orientierungen. Das kann nur heißen: Eine demokratisch kontrollierte europäische Macht gebietet es, dieses System aufzugeben. Dies auch deshalb, weil das politische Leben noch immer im Wesentlichen innerhalb der einzelnen EU-Staaten stattfindet. Dort gibt es eine Öffentlichkeit - eine vergleichbare europäische Öffentlichkeit gibt es nicht.

Was könnte man tun, um eine solche Öffentlichkeit zu schaffen?
Man brauchte ein EU-Parlament, das diesen Namen verdient, und eine politisch verantwortliche Exekutive. Dieses Parlament sollte aus zwei Kammern bestehen: Erstens aus einer Versammlung, bestimmt durch eine universelle Verhältniswahl, sie wird das entstehende europäische Volk vertreten. Die Kandidaten müssen auf europäischen Listen antreten, auf jeder Liste müssen jeweils Kandidaten aus mehr als der Hälfte der EU-Mitgliedsländer vertreten sein. Und zweitens aus einer Hohen Kammer, in der die Staaten durch Delegationen vertreten sind, die in jedem Einzelstaat durch Wahlen oder das nationale Parlament bestimmt werden. Die EU-Exekutive wird unter diesen Umständen eine wirkliche Regierung sein, die sich auf eine Parlamentsmehrheit stützt und durch die Parlamentsmehrheit abgesetzt werden kann.

Sollten Kontrollrechte des Europäischen Parlaments gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB) eingeführt werden, inklusive der Möglichkeit, über eine aktive Finanzpolitik auch konjunkturpolitisch wirksam zu werden?
Das EZB-Statut ist unakzeptabel. Die Bank verfügt über eine erhebliche Macht und neigt dazu, diese dank ihrer Unabhängigkeit noch zu vermehren, was durch die Abwesenheit einer wirklichen europäischen politischen Macht begünstigt wird. Ihre Mission wird dominiert durch den Kampf gegen die Inflation, was dazu führt, dass sie als Instrument gegen die Arbeitslosigkeit völlig untauglich ist. Die EZB hat sogar ohne nennenswerten Widerstand eine Neubewertung des Euro gegenüber dem Dollar akzeptiert, was europäischen Unternehmen ernste Probleme bereitet hat. Das gesamte EZB-Statut muss daher in Frage gestellt werden.

Das Gespräch führten Steffen Vogel und Lutz Herden

* Ein Think-Tank linker Politiker und Intellektueller in Frankreich. Yves Salesse ist zugleich der Verfasser des Manifests für ein anderes Europa.


Die EU-Verfassung - Stand der Ratifizierung

EU-StaatRatifizierungsmodus

Noch nicht ratifiziert

DänemarkReferendum

EstlandParlamentsvotum

FinnlandParlamentsvotum

GroßbritannienReferendum und
Parlamentsvotum

IrlandReferendum und
Parlamentsvotum

PolenModus noch offen

PortugalReferendum

SchwedenParlamentsvotum

TschechienReferendum

Bereits ratifiziert

BelgienParlamentsvotum
(Februar 2006)

DeutschlandParlamentsvotum
(Mai 2005)

GriechenlandParlamentsvotum
(April 2005)

ItalienParlamentsvotum
(April 2005)

LettlandParlamentsvotum
(Juni 2005)

LitauenParlamentsvotum
(November 2004)

LuxemburgReferendum und
Parlamentsvotum
(Juli 2005)

MaltaParlamentsvotum
(Juli 2005)

ÖsterreichParlamentsvotum
(Mai 2005)

SlowakeiParlamentsvotum
(Mai 2005)

SlowenienParlamentsvotum
(Februar 2005)

SpanienReferendum und
Parlamentsvotum
(Mai 2005)

UngarnParlamentsvotum
(Dezember 2004)

ZypernParlamentsvotum
(Juni 2005)

Abgelehnt

FrankreichReferendum
(Mai 2005)

NiederlandeReferendum
(Juni 2005)


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