Kesselflicker gesucht

EU/Arabien Es ist erstaunlich, wie wenig die europäischen Frühwarnsysteme den sich abzeichnenden arabischen Flächenbrand vorhergesehen haben. Die Konsequenz heißt Ratlosigkeit

Seit im Nahen Osten der ­Jakobiner aus der Flasche ist, geht der Westen mit Fassungs- und Ratlosigkeit hausieren, scheint unvorbereitet, überfordert, von Ängsten belagert. Offenbar haben die Frühwarnsysteme versagt. Warum nur? Waren sie außer Dienst gestellt, wurden sie als Störfall empfunden, sind sie verschlissen? Zugunsten einer professionellen Außenpolitik und Diplomatie sollte angenommen werden, nichts davon trifft zu. Schließlich wurde besonders in Westeuropa unentwegt die islamistische Subversion beschworen und ein Terroralarm nach dem anderen lanciert. Derartige Expertisen sollten auf fundierter Kenntnis und Analyse mutmaßlicher Gefahrenquellen beruhen. Die lägen vorrangig in Arabien (respektive den jetzigen Aufstandszonen), hören wir unablässig. Schwer vorstellbar, dass bei solcherart Gebot zu geheimdienstlicher und sonstiger Observation übersehen wurde, wie sehr der arabische Kessel unter Hochdruck stand, dass vorerst kein Kesselflicker gut genug ist, den Schaden zu beheben.

Die USA wie auch die EU sind seit Wochen Getriebene der Ereignisse, die ihnen entgleiten. Die geltende Weltordnung gefällt sich in jähen Wendungen und kokettiert mit einem Hauch von Weltanarchie. Plötzlich hagelt es Reisewarnungen. Erst jetzt beginnt die Evakuierung arabischer Filialen europäischer Konzerne, nachdem der Flächenbrand des Aufruhrs nicht mehr schwelt, sondern lodert. Wieder einmal wird klar, dass der Ölpreis nichts weniger verträgt als Staatskrisen in den Förderländern und nonchalant Konjunkturen abwürgt. Langsam wird die Ahnung zur Gewissheit, dass der Aufstand von Tunesien bis Jemen mehr aus den Angeln hebt als autoritäre Anachronismen. Auch das arabische-europäische Verhältnis muss durchs Mahlwerk der Inventur.

Es ging für die EU lange gut beim Spagat zwischen Ideal- und Realpolitik. Hier eigene rechtsstaatliche Standards rühmen, dort die Ben Alis, Mubaraks und Bouteflikas damit verschonen, weil es nichts Bequemeres geben kann, als den Status quo auszukosten. Wer hatte den ernsthaft ändern wollen, solange Gaddafi Öl lieferte und keine Migranten? Es hätte alles so schön sein – und vor ­allem bleiben können.


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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