Die SPD-Strategie „Informieren, Vernetzen, Mobilisieren“ funktioniert nicht. Es hapert schon am Interesse. Da fließt wenig. Aktiv ist vor allem die Kampagnenzentrale, die Bürger bleiben passiv. Das liegt sicherlich nicht nur an den Parteien, sondern auch an uns Polit-Konsumenten, denn je näher der Wahltag rückt, desto mehr Pressemitteilungen, Mails, Veranstaltungseinladungen, Materialangebote, Terminhinweise liegen in meinem virtuellen Briefkasten. Aber ich will mich nicht so recht bewegen lassen. Vieles liest sich, als habe ein Roboter all diese digitalen Buchstaben zusammengesetzt, eine hyperaktive virtuelle Phrasendreschmaschine. Ich fühle mich trotz großen Interesses an Politik und Sozialdemokratie nicht angesprochen.
Keine Mail, keine Aktion, bei der ich mitmachen soll, erklärt mir mitreißend, zeigt mir eindringlich, warum ich mich für die SPD einsetzen soll. Die Dringlichkeit erklärt sich durch sich selbst, eine Tautologie. Das höchste aller Ziele: Schwarz-Gelb verhindern! Das heißt übersetzt: Ich soll ehrenamtlich als Unterstützer in meiner freien Zeit dafür kämpfen, mich auch nach der Wahl erneut in einer Großen Koalition einrichten zu müssen. Das ist zwar nicht das letzte, aber doch das vorletzte, was ein Genosse will. Der Unterstützer-Newsletter vom 23. September drückt es so aus: „Die Alternativen sind klar: Schwarz-gelber Kahlschlag oder starke SPD.“ Und auch der Unterstützer Günter Grass verweist nur auf die historische Leistung der SPD, spricht vage von Unterschieden, von der aus der Krise resultierenden Notwendigkeit, Schwarz-Gelb zu verhindern – und nennt in einem Interview kurz vor dem Wahltermin kein einziges Mal den Spitzenkandidaten.
Wer mit der SPD sein Geld verdient, persönliche, politische bzw. Karriere-Ziele verfolgt oder Angestellter der Partei ist, findet das eigene Engagement natürlich zwingend. Aber für einen ehrenamtlichen Unterstützer fehlt dieses Zwingende, dieses inhaltlich Notwendige. Die SPD-Kampagne rüttelt mich nicht auf. Reißt mich nicht vom Hocker.
Am 13. September gucke ich mit 14 Millionen Menschen gemeinsam das „Duell“ zwischen Merkel und Steinmeier im Fernsehen. Das sind sechs Millionen weniger Zuschauer als erwartet. „Nicht weggucken – Dabei sein!“ lautete das Pop-Up auf spd.de, „zum TV-Duell hier klicken“, dann öffnete sich die Detailseite „Public Viewing am 13. 9. – das TV-Duell gemeinsam erleben“ und eine Karte, die die von der SPD veranstalteten öffentlich zugänglichen Fernsehabende visualisiert. Fernsehen als Aktion. Guter Service, aber das Angebot bleibt übersichtlich, allzu viele Public Viewings gibt es gar nicht. Aber im Internet ist die Beteiligung der Menschen überraschend groß. Dabei hatten die Sender anfangs noch geplant, gar keine Online-Live-Streamings des TV-Duells ins Netz zu stellen. Bild online analysiert am 14. September: „Das TV-Duell war zwar im Fernsehen ein Flop – aber ein echter Renner im Internet.“ Die Wähler, so Bild online, „wollten nicht einfach nur zugucken. Sie wollten kommentieren, mitreden, kritisieren, diskutieren“. Wegen all der Blogs und Foren, in denen man live kommentieren konnte, „brachen Websites unter dem Ansturm der User zusammen.“ Verwunderlich, dass ausgerechnet auf den SPD-Seiten der Ansturm ausblieb: Der Schwarz-Gelb-Watch-Blog, der die Genossen und Unterstützer zum Duett-Kommentieren einlud, verzeichnet kaum Beiträge von Lesern. Das Live-Blog von wahl.de dagegen ist laut Bild online zwei Minuten nach Duell-Beginn „tot“: 8.000 Zugriffe pro Sekunde sind nicht so leicht wegzustecken.
Merkel kneift. Steinmeier auch
Auch eine crossmediale Online-TV-Sendung von ZDF, Zeit Online und meinVZ stößt auf viel Zuspruch, gerade bei jüngeren Wählern: Für „Erst fragen, dann wählen“ haben Online- und Fernsehzuschauer rund 3.000 Fragen geschickt. Außer der Kanzlerin sind alle Spitzenkandidaten gekommen. Das Blog Homopoliticus sieht in so einem Format, bei dem die Wähler im Studio und die Chatter auf allen Kanälen sich direkt einmischen und die Politiker zwingen können, konkret zu werden, „die Zukunft des politischen Fernsehens“ .
Wie sehr hätte ich den engagierten Onlinern im Willy-Brandt-Haus gewünscht, dass Steinmeier nur ein einziges Mal beim TV-Duell die Welt des Internets ins Fernsehen gezogen hätte, zum Beispiel so: „Ach übrigens, auf wahlkampf09.de können sie sich als Unterstützer eintragen, Herr Plasberg. Sagen Sie’s weiter.“ Stattdessen opfert er die Berliner Runde. Gerade noch hat Steinmeier „persönlich“ mir über den meineSPD.net-Verteiler eine Mail mit dem Betreff „Lasst uns um jede Stimme kämpfen“ geschickt. Auf Facebook machen sich seine Anhänger lustig über das „Kneifen“ der Kanzlerin, die sich der Teilnahme an der „Berliner Runde“ mit den sechs Spitzenkandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien seit März mit Hinweis auf Terminprobleme verweigert . „Merkel drückt sich – wir nicht“, heißt es auf Facebook. Doch „wir“ drücken uns dann doch noch: Einen Tag vor der geplanten Sendung zieht Steinmeier überraschend seine Zusage zurück. Das ZDF sagt daraufhin die ganze Sendung ab. Die Fans von Steinmeiers Profil erhalten per Mail eine knappe Nachricht: „...Veranstaltung in „Berliner Runde“ abgesagt.“ Die Erklärung dazu lesen sie auf Facebook:
„Liebe Unterstützerin, lieber Unterstützer, Angela Merkel hat gekniffen. Sie wollte sich im ZDF nicht den Spitzenkandidaten der anderen Parteien stellen. Seit März hat das ZDF versucht, mit der CDU einen Termin für die Sendung zu vereinbaren. Zuletzt wurde Angela Merkel sogar freie Terminwahl eingeräumt. Ohne Erfolg, denn Merkel scheut die inhaltliche Auseinandersetzung. ...“
Man fragt sich, welcher „Strategie“-Wechsel oder welcher Berater dahinter stecken mag. Und warum Steinmeier diese Chance verschenkt, im Fernsehen zur besten Sendezeit zu punkten, nachdem im Internet für die Sendung mobilisiert wurde. Er könnte ja, denkt man sich, gerade aus der Abwesenheit der Kanzlerin, aus der Leerstelle Merkel inhaltlich und strategisch Vorteil ziehen. Noch ist ja Wahlkampf… Oder hat sie ihn am Ende selbst um die Absage gebeten, die Frau Bundeskanzlerin persönlich? Ihren Vize?
Die SPD hält sich zurück
Am Montag, 21. September, fallen „Die Favoriten“ in der ARD ebenfalls ins Wasser, weil Merkel und Steinmeier auch hier nicht mitmachen wollen oder weil die Sender nicht genug Druck auf sie ausgeübt haben. Denn ein öffentlich-rechtlich finanzierter Fernsehsender wäre ja durchaus in der Lage, Bedingungen zu stellen: Wenn keine Debatte mit der Opposition – dann auch kein TV-Duett der Koalition. Hat er aber nicht. Man lächelt lieber weiter in Richtung Macht, das Zähneknirschen dabei kaum hörbar. „Die Verweigerung von Kanzlerin und Kanzlerkandidat beschädigt die demokratische Kultur“, wettert zwar ZDF-Chef Nikolaus Brender, doch die ARD macht das Fass nicht auf, sondern sendet wenige Tage vor der Wahl ein Best-Of aus früheren Elefantenrunden. Nostalgie in Sepia anstatt heller Aufruhr. Merkel hat keine Zeit für Debatten mit den aktuellen politischen Gegnern, fährt lieber winkend im Rheingold-Express „auf Adenauers Spuren“ vorbei, und der TV-Bürger soll sich derweil mit längst vergangenen Debatten begnügen.
Im SPD-Netz erfährt man nichts über die TV-Absenzen. „Für ein weltoffenes und tolerantes Land“ lautet die Überschrift des Steinmeier-Blogs am 16.9. um 23 Uhr: „Heute die letzte Kabinettssitzung vor der Bundestagswahl. Ich finde, wir haben in der Großen Koalition gute Arbeit für unser Land geleistet. (…) Aber: An vielen Stellen sind wir in der Koalition hinter unseren Möglichkeiten geblieben. (…) Deshalb brauchen wir jetzt neue Mehrheiten.“ Kein Wort über seine TV-Absage. Steinmeier bloggt munter von seiner Kundgebung in München und schließt: „Ein vergnüglicher Ausklang bei Leberkäs, Bier und Gesprächen.“
Zum Trost präsentiert wahlkampf09.de den Film „Nordkurve Folge 4“, ein sympathisches Format, in der die Leiterin der Abteilung Planung/Kommunikation und ihr Mitarbeiter erzählen, wie viel Spaß ihnen der Wahlkampf macht: „Das Faszinierende an der Arbeit in der Nordkurve, was einen auch immer wieder von Neuem begeistert, ist eigentlich das Ergebnis.“
Oberste Priorität: freundlich bleiben
Doch die höchsten Politiker im Staate, unsere Minister, sagen nichts, antworten einfach nicht, etwa auf die Fragen von Anne Will nach konkreten Bereichen, in denen gespart werden soll. Steinbrück und zu Guttenberg sagen uns vor der Wahl nicht, was sie uns nach der Wahl nehmen wollen. Sie verhindern, dass die Bürger eine Entscheidung auf Grundlage von Fakten und Zahlen treffen können. Und, noch perfider: Sie begründen dies mit dem Hinweis auf die anstehende Wahl! Gerade Steinbrück scheint ein neues Hobby gefunden zu haben: Hase und Igel mit der Presse spielen. „Ich schließe nichts ein, und ich schließe nichts aus.“ Genial. Er werde auf keinen Fall der Depp sein, der den Gegnern Munition liefert. Als handle es sich bei Steuergesetzen und Finanzplanung um Herrschaftswissen, das zwar manchmal ein bisschen von Trüffelschweinchen (Journalisten) ausgebuddelt und angeschnüffelt wird, von dem die Öffentlichkeit jedoch immer nur Häppchen serviert bekommt, ihre Medien als Politikvermittler angewiesen auf Zuckerbrote und Peitschen aus der Politik, auf instrumentalisierbare Schlagzeilen. Ein Teufelskreis. Es gibt keine Auskunftspflicht – vor der Wahl. Als sei „die Öffentlichkeit“ zur Hülle geworden, weil jede weitreichende Entscheidung hinter verschlossenen Türen getroffen wird, und der Wahlkampf wäre nur ein Teil dieses gefährlichen Spiels, bestehend aus Meinungsumfragen, Fokusgruppen, Trendscouts, Politischer Kommunikation, Experten, Beratern, Scheindebatten, Absichtserklärungen – aber nicht aus Informationen.
Auch im Netz spricht man nicht ernsthaft mit denjenigen, die man vorgibt, als Wähler und Bürger ernst zu nehmen. Das schlagende Argument: Das machen alle so. Wenn alle nicht die Wahrheit sagen, darf ich, Spitzenpolitiker mit Entscheidungsgewalt, es auf keinen Fall tun, denn die Wahrheit will keiner hören. Sonst bin ich draußen. Aber warum sind viele Medien insgesamt so handzahm, als sei es erste journalistische Priorität, freundlich zu bleiben? Als Zuschauer, zu dem man ja mehr oder weniger degradiert wird, wünscht man sich mehr ehrlichen Streit. Dass die Medienmenschen wenigstens mit dem verdammten Lächeln aufhörten und belastbare Informationen einfordern. Damit wir mündigen freien Bürger wirklich informiert zur Wahl gehen können.
Tchibo wirbt mit einer Anzeige in Bild am Sonntag für „Feine Milde“ mit Merkel und Steinmeier: Beide umfassen eine Kaffeetasse, der Claim: „Unser Konjunkturpaket“.
Steinmeier chattet
Einen Internet-Renner hat die SPD aber doch zu bieten: Steinmeier nimmt an mehreren Live-Chats teil, und das Interesse ist groß. Beim Video-Chat mit Steinmeier am 10. September auf MyVideo purzeln die Fragen so hurtig, dass man beim Lesen gar nicht mitkommt: „Was halten Sie von der Wiederanschaffung des 13. Schuljahrs?“, „Wie positionieren Sie sich zur Linkspartei. Schließen Sie eine Koalition aus?“ „Hallöle, Wie sehen sie die langfristige Zukunft des Studenten-Bafögs“, NPD-Verbot, Managerboni, Kroatien und EU, „Wann kommt die deutsche Berufsarmee“, Abgeordnetendiäten zu hoch, Löhne zu niedrig, Lafontaine, Frauenquote ... Steinmeier antwortet routiniert und freundlich, der Chat wirkt offen und nah dran am jungen Bürger, der seinen Daumen hoch (grün) oder runter (rot) klicken kann. Grün bedeutet „Einsame Spitze“, rot heißt „Absolut daneben“.
Komplett Frank Walter Steinmeier im Live-Chat vom … - MyVideo
In seinem Blog freut Steinmeier sich über rund 30.000 Teilnehmer seines Video-Live-Chats – und über den Europameistertitel der deutschen Fußballfrauen: „Ich jubel im Auto. Ich werde die Stimmung mitnehmen, wenn ich gleich in Osnabrück auf dem Marktplatz meine Rede halte.“ Der Chat wird danach 400.000 Mal abgerufen, eine ähnliche Zahl erreichen dort sonst nur Popstar-Chats.
Die Rubriken „Thema“ und „Behauptung“ im unteren Bereich der Webseite wahlkampf09.de bleiben indes völlig unbehelligt von der aktuellen Lage, von der Afghanistan-Debatte, oder der Atomkraftdemo. Hier steht seit Wochen dasselbe. Erst wenige Tage vor der Wahl werden die Boxen ganz entfernt zugunsten einer Schlussmobilisierungskampagne. Sie verlinkt auf spd.de und macht plötzlich alle zu Genossen, so dass der Kanzlerkandidat seine Anhänger im Netz am Ende nun doch per Du anspricht: „Bitte hilf mit: Sieben Stimmen sind nicht schwer! Liebe Genossin, lieber Genosse, bitte drucke das unten stehende PDF-Dokument meines Briefes und verteile den Brief in Deiner Umgebung. Übergib ihn Deinen Nachbarn, mit oder ohne Briefumschlag. Wenn alle Genossinnen und Genossen das tun, erreichen wir 3,5 Millionen Haushalte. Das ist ganz einfach und kostet Dich kaum Zeit. Aber es hilft unserer SPD in diesem schweren Wahlkampf, und es hilft mir. CDU/CSU und FDP haben sehr viele sehr reiche Großspender. Wir haben uns!“
Acht Ziele für die SPD
Die SPD-Websites erhalten, wie auch die Wahlkampfangebote der anderen Parteien, noch einen Rebrush, einen neuen Anstrich. Es gibt .leichte Umstellung der Themen, Konzentration auf wenige Linkboxen, Einbindung der Promi-Unterstützer auf wahlkampf09.de und so weiter. Aber inhaltlich oder strukturell ändert sich kaum etwas. Unter „Content“ versteht man in der Internet-Branche nicht nur Text, sondern auch Fotos, Videos oder Links. Es handelt sich sozusagen um einen mechanistischen Inhaltsbegriff, der auch den Umgang der SPD mit dem Internet im Wahlkampf zu prägen scheint: Das Netz ist etwas zum Reintun. Ein Container. Ein Briefrohr. Mit klarer Sender-Empfänger-Hierarchie: Der Inhalt rutscht von oben nach unten. Dieser „Content“ wird nun gegen Ende ein bisschen anders angeordnet und auch technisch zum Teil aufgepeppt, etwa durch eine wegklickbare Vorschaltseite auf spd.de, die alle wichtigen Angebote zur Bundestagswahl bündelt – Wahlkampftour, Video, Unterstützer, Die „8 Ziele, für die wir kämpfen“, „Am 27. September SPD wählen“ – und zur Übersichtsseite Bundestagswahlen führt. Das sieht alles ziemlich gut aus, ist auch technisch anspruchsvoll, führt aber nicht zum erwünschten Effekt einer großen Beteiligung.
Ein junger Blogger outet sich im Netz als fragender Wähler-Zuschauer in der ARD-Wahlarena und gibt Einblick in eine Be- und Entfremdung in Sachen Politik. Er schreibt: „Weil ich ein ,junger Mann im karierten Hemd‘ bin, darf ich auch eine Frage stellen, aber ich merke schon, als das Fragezeichen durch den Raum schwebt, dass das keine gute Idee war. Ich will wissen, ob Steinmeier manchmal von Murat Kurnaz träume, aber der Kanzlerkandidat antwortet mit dem Verweis auf irgendwelche Dokumentationen über sich und darauf, dass ein Untersuchungsausschuss seine Unschuld bewiesen habe. Man müsse jetzt auch mal mit diesen Anschuldigungen aufhören, sagt er, während wir irgendwie haarscharf aneinander vorbei gucken, und ich das Gefühl habe, unter den Blicken der anderen Zuschauer und der Hitze der Scheinwerfer langsam zu zerfließen.“
Zum Casting via Facebook
Mit Politikern zu sprechen, sei „eine der unbefriedigendsten Beschäftigungen überhaupt, weil einem immer erst hinterher klar wird, dass das gar kein Gespräch war, sondern eine Phrasen-Routine, die man schon im Informatikunterricht der siebten Klasse schreiben kann.“ Da mache es „fast mehr Spaß, im Herbst Laub zusammenzukehren und die Wiese kurz nach dem Wegpacken des Rechens schon wieder mit Blättern übersät zu sehen. Das Thema Außenpolitik kommt in der Befragung des Außenministers nicht vor.“
Vielleicht kann die SPD den „jungen Mann im karierten Hemd“ wiedergewinnen, indem sie ihm „exklusiv“ den neuen Kinospot der SPD anbietet? Noch vor dem Kinostart am 17.September! „Wir wünschen viel Spaß bei der Premiere!“, heißt es auf Facebook eine Woche vorher. Die Exklusivität besteht darin, dass man sich via spd.de ein „Ticket“ für den Wahlwerbespot bestellen kann. Per Mail erhält man prompt einen Link zum Zugangscode zum Spot. Der Inhalt: ein comicstilisierter Kinosaal in Rottönen, Zuschauerhinterköpfe, der Vorhang geht auf… gibt den Blick frei auf ein Foto des jungen Steinmeier, da sieht er wie ein Folksänger aus, Untertitel: „Wenn man jung ist, hat man große Ziele“ (Arbeitslosigkeit und Spekulanten bekämpfen, Umweltschutz, Bildung für alle), Rockmusik, Wiederholung des Satzes „Wenn man jung ist“. Pointe: „Wenn man Kanzler ist, kann man sie durchsetzen.“
Oder vielleicht hätte der junge Mann im karierten Hemd Lust, seine Stimme und sein Gesicht zu leihen und selbst in einem Video zu erscheinen? Zum Casting wird auf Facebook eingeladen: „Gib der SPD deine Stimme und dein Gesicht! Casting und Videodreh für SPD-Unterstützerfilm. Wir wollen gemeinsam mit dir einen Unterstützerfilm für die SPD drehen und dafür brauchen wir dich!“ Auf den vorletzten Metern sendet wahlkampf09.de den zweiten TV-Spot und stellt am 22. September einen Kampagnenblog ein, der den „Onlinekandidaten“ Steinmeier beschwört (1 Kommentar). Der Text wirkt so, als wolle man sich noch vor der Wahl selbst gute Noten fürs Online-Campaigning verteilen, wird jedoch rasch durch einen anderen Blog ersetzt.
Und „das On-Offline-Organizing“? In der heißen Phase funktioniere es, behauptet „Der Onlinekandidat“, ohne dafür einen Beleg zu bringen und fährt wacker fort: „Auch sonst geht die Onlinestrategie der SPD auf.“ Wo? Bei über 50.000 Klicks auf den eher kopflastigen Webspot „Dafür kämpfen wir: Deutschland-Plan“: „Es ist ein klares Votum für eine inhaltliche Auseinandersetzung und belegt die On-Offline-Vernetzung im Netz.“ Auseinandersetzung durch Gucken? Der Spot erhält rund 250 Kommentare.
Arbeitsmaterial für große Kinder
Noch 3 Tage bis zur Bundestagswahl“, bloggt Steinmeier. „Bei herrlichem Wetter fahre ich in Berlin los. Erst nach Rheinland-Pfalz. Dort, in Trier, ist es wolkenverhangen. Aber trocken.“ Das Internetangebot der SPD bleibt auch gegen Ende dieses immer wieder verschobenen Wahl- kampf09 demjenigen der CDU zumindest in einer Sache ähnlich: Es handelt sich um eine Indoor-Veranstaltung, ein Schönwetterprogramm, das keine Rücksicht darauf nimmt, wie sehr es draußen schüttet. Es wird genutzt als Medium zur virtuellen Selbstvergewisserung der ohnehin Überzeugten, das die Wirklichkeit da draußen weitgehend ausspart. Echte Debatten fehlen, das SPD-Angebot im Netz und alle Flugblätter des Tages, Unterstützer-Mails und Leitfäden wirken wie Arbeitsmaterial für große Kinder, denen man nicht recht über den Weg traut, die man an die Hand nimmt, denen man sagen muss, was sie zu tun (und zu lassen) haben, damit sie keinen Unsinn machen und den richtigen Weg nach Hause finden. Zur SPD.
Das sozialdemokratische Netz reduziert sich im Superwahljahr weitgehend auf ein Top-Down-Sprachrohr, ist ein technisch ausgefeilter Materialverteiler, ein TV-Kanalverstärker, der die Stärken des Dezentralen, des Netzspezifischen noch nicht nutzt. Wieder zeigt sich: Das Internet ist keine andere Welt und auch keine bessere Welt, sondern ein Raum, in dem es sich zu bewegen gilt. Das Internet macht keine bessere Partei und keine bessere Politik, ermöglicht aber eine Partizipation, mit der die SPD bei den wichtigen Fragen auch offline geizt. Ihren „Onlinekandidaten“ Steinmeier hat sie von oben zum Kanzleranwärter gemacht, anstatt die Basis suchen, kämpfen und entscheiden zu lassen. Bei der Parteiführung wurde dasselbe Verfahren angewendet: Sie hat ihren alten als neuen Parteichef von oben nach unten durchgereicht, konnte offenbar den basisdemokratischen Segen nach diesen fast autokratischen Akten wie selbstverständlich voraussetzen, denn immer gilt es, irgendeinen Burgfrieden zu halten. Immer gilt es, still zu halten in der SPD. Bloß nicht an das rühren, was im Argen liegt. Diese neue Parteiführung hat dann den Kampagnenmanager Kajo Wasserhövel im Willy-Brandt-Haus (wieder)eingesetzt, der den gesamten Wahlkampf von oben nach unten durchkommuniziert. Anstatt nun im Netz mit geschützten Foren zumindest den Anschein eines Dialogs auf Augenhöhe zu erwecken, hat man sich hier nach – bewährtem? – Muster verhalten: Die Partei verharrt auch im Netz bei zaghaften dezentralen Versuchen, schränkt sich nicht nur offline, sondern auch online selbst ein – und sperrt so potenzielle Interessenten aus, verweigert sich einer Öffnung und Transparenz, ohne die Internetkommunikation nicht funktioniert, und die ihr und dem Wahlkampf gut bekommen wären.
Die Kunst des Polit-Recyclings
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, recycelt man im Netz die Offline-Linie der SPD, übernimmt auch deren Polit-Sprache, gibt lauter kleine virtuelle Kundgebungen, bei denen dann ab und zu einer aus dem Publikum ans Mikro (also im Netz: einen Kommentar schreiben, ein Foto einschicken) darf. Das zwei Wochen vor der Wahl neu hinzukommende, fast tägliche Audioblog „scharfgestellt“ von Kajo Wasserhövel ist da nur ein weiteres Instrument, das Politik und Wahlkampf mit einem Megaphon verwechselt, Kommentare: Null bis Drei, bei 62 Millionen Wahlberechtigten, von denen 22 Millionen täglich im Netz sind, einer halben Million SPD-Mitgliedern und noch viel mehr Sympathisanten, kann man zwei mögliche Begründungen finden: Entweder niemand weiß davon und hört Kajos Audioblog deshalb nicht – oder es interessiert niemanden. Beides wäre kein Hinweis auf gelingendes Online-Campaigning, kein Zeichen für erfolgreichen Dialog im Netz. Auch wenn der Außenminister sich die Finger wund bloggt.
Ernüchtert stellt denn auch der Polit-Web-Beobachter Robin Meyer-Lucht seinem Blog fest: „Sind die Erwartungen auf Obama-Niveau (die „digitale Blase“) erst einmal eingeholt, stellt man fest, dass Online-Wahlkampf inzwischen ein wichtiges, aber noch kein entscheidendes Instrument der Parteipolitikwerbung für die klassischen Parteien geworden ist. (…) Online-Wahlkampf verändert das grundsätzliche Verhältnis von Parteien und Wählern vorerst nicht. (…) auch im Jahre 2009 wird im Internet vor allem klassischer Wahlkampf mit Mitteln des Internets gemacht. Man muss nicht von ,Online-Plakatierung‘ sprechen, aber es bleibt der Nachgeschmack, dass häufig die klassischen Mechanismen auf neue Medium lediglich übertragen werden. (…) Beiträge, wie sich angesichts neuer Medientechniken das Verhältnis von Parteien und Wahlbürgern grundsätzlich verändern könnte, liefert dieser Online-Bundestagswahlkampf bislang nur bedingt. Er scheint auf dem Weg zu sich selbst erst noch am Anfang zu stehen.“
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