Kehrseite Koller liest die Schlagzeilen der Bildzeitung und fühlt sich von einer allgemeinen Abwärtsbewegung erfasst. Er ist schon froh, dass Herrn Belmontes ...
Koller liest die Schlagzeilen der Bildzeitung und fühlt sich von einer allgemeinen Abwärtsbewegung erfasst. Er ist schon froh, dass Herrn Belmontes kleine Wirtschaft noch besteht. In dem Wasserhäuschen daneben wurden die Preise erhöht. Die Frau, die mit ihrem Mann den Laden schmeißt, heißt Anke. Koller spricht sie mit ihrem Namen an. Sie kann mit Koller nichts anfangen, er ist ihr aus dem Sinn geraten. Koller geht wieder durch die Stadt. Sein Mut ist hoch gestimmt. Das Päckchen Camel ohne in seiner Jackentasche trägt dazu bei. In der Elf wird gedealt. Die Händler haben ein System zum Austausch von Ware und Geld entwickelt, das dem Fahrplan der Straßenbahn angepasst ist. Auch Penner nutzen das Verkehrsmittel, um von ihrem Tagesrevier am Bah
esrevier am Bahnhof zu den Schlafplätzen am Römer zu gelangen. Unverkennbar ist die Mannheimer Mundart der Frau, die Koller in der Bahn fragt, ob er mit einer Monatskarte unterwegs ist. Sie trägt den Trödel, den man aus erster Hand erwirbt, auch das ist eine Uniform. Ihre Figur hat bei Mc Donald´s gelitten. Die Frau kommt aus einer Unterwelt, die Heimat ist für so viele, dass sie dem Durchschnitt zufällt. Das sieht Koller mit einem Blick. Er mustert sie flüchtig, weil er auf keinen Fall Anlass geben möchte für die Vermutung, er könnte auch nur mit einem Satz kommunikativ werden. Koller will, dass die Frau ihn für unansprechbar hält und weitergeht. Sie geht nicht weiter. Sie baut vor Koller ihre Stellung aus, all ihre Aufmerksamkeit lastet auf ihm. Sie hat bestimmt schon viel abgekriegt, in den Ghettos, die ihren Stil prägten. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ein Mann die Chance, mit ihr ins Gespräch zu kommen, ausschlägt. Sie hält Koller für begriffsstutzig. Damit kann sie was anfangen, weil sie selbst auf Ausführlichkeit angewiesen ist. Also holt sie aus. Sie nennt sogar die Straße, in der sie wohnt. Ein Mann betrachtet das Schauspiel. Er hat vergessen, die roten Sonderangebotszeichen von den Sohlen seiner Schuhe zu kratzen. Adrette Asiatinnen verachten ihn unauffällig. Im Gedächtnis der Leute ist Bornheim in Frankfurt ein Quartier, in dem das bäurische Element wie durch eine Drainage in den proletarischen Acker rann. Heute muss man diese soziale Melange mit Wohlstand und Heimlichkeit zusammendenken. Der Einheimische hat sich zurückgezogen, in der zugezogenen Menge auf der Berger Straße geht er unter. Die von ihm behaupteten Provinzen verbergen sich hinter Schildern aus Unauffälligkeit. Touristen könnte er viel erzählen, nur wozu? Allein auf der Eulengasse, dem großen Kopf eine kritische Miene angehängt, der Schritt schwer von der Last über den unteren Extremitäten, hält man ihn für ungesellig. Trifft man ihn aber unter seinesgleichen, entsteht ein anderes Bild. In dieser Gegend lässt Kollers Wachsamkeit nach. Hier gehört er zum Spiel der schwankenden Verhältnisse. Er findet sich in der Sportgaststätte im Prüfling ein, wo Leute verkehren, deren Großeltern den Hut voreinander gezogen haben. Der Wirt betreibt sein Geschäft als Herzensangelegenheit. Er heißt Hans Bamberger. Koller wird zum Vorwurf gemacht, dass er sich so lang nicht gezeigt hat. "Ich war krank", sagt Koller. Er kann sich das gar nicht mehr vorstellen. Seine Auskunft zieht Häme nach sich, so einfach kann das Leben sein. Darauf hätte Koller auch früher kommen können. Er stellt die Ellenbogen auf die Theke, gibt das Kinn an die Hände, ewig könnte er so verweilen. Ihn interessiert nur noch, ob die kleine Kneipe in der Turmstraße noch existiert. Koller befleißigt sich völlig überflüssiger Ortsangaben. Er muss alles aufzählen, was zwischen der Sportgaststätte und der Turmstraße bemerkenswert ist. Hans Bamberger unterstützt ihn eifrig. Die Männer könnten so weit gehen, nachzusehen, wo der Asphalt auf der Rendeler Straße Schaden genommen hat, um später über die Ursachen zu spekulieren. Zurzeit heißt die Kneipe in der Turmstraße Turmstübchen. Sie hieß auch schon Turmbistro und sonst wie. Koller fallen die alten Namen nicht ein. Er kennt aber alle Gäste und die Bedienung. Ihn erkennt man nicht. Er bestellt Jubiläumsaquavit, drei Doppelte auf einmal. Weil nur zwei große Schnapsgläser im Eisfach sind, werden vor Koller vier Gläser aufgestellt. Er betrachtet die Reihe mit Wohlgefallen. "Das ist mein Comeback" sagt er, und wie immer, interessiert das keinen, nicht das schwule Rentnerpaar mit einem Faible für Cowboyfashion und gemeinsamen Erinnerungen bis in die Nachkriegszeit, nicht die Verrückte, die jeden wie einen Vormund anspricht, nicht den Briefträger, dessen kleinbürgerliche Fassade stündlich zusammenbrechen kann, und ganz bestimmt nicht die mit siebenundvierzig noch so unangetastet wie eine Abiturientin wirkende Frau hinter der Theke. Koller ist schwer zufrieden, dass auch an dieser Stelle alles beim Alten geblieben ist. Jedesmal, wenn er ein Glas hebt, bringt er einen beleidigenden Trinkspruch aus. Sein Publikum juckt das nicht. Noch ein Irrer mehr in der Stadt macht den Kohl auch nicht fett. Auf dem Messeplatz am Ratsweg steht ein Riesenrad. Koller möchte es mit bloßen Händen in Schwung bringen. Er könnte sich am Bornheimer Hang eingraben, einem modernen Menschen so unähnlich wie möglich. Koller kommt in den Ostpark. Die Wiesen beben einer freundlichen Jahreszeit entgegen. Die Schwäne machen Jagd auf kleine Hunde. Die alten Frauen aus dem Riederwald sind immer noch am Leben. Läufer aus aller Herren Länder überholen sie. Ihre Blicke verfolgen den Lauf von Bällen. Koller wird angespielt, sein verzogener Körper reagiert peinlich, ein Ball rollt unter Gelächter ins Gebüsch. Er erweitert den Kreis am Wasserhäuschen. "Du warst lange weg", sagt jemand. Koller empfängt einen freundlichen Blick und entspannt sich. "Ich hab versucht verrückt zu werden, aber das ist gar nicht so einfach".
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