Da ich Deutschland aus mehreren Gründen, die mit meiner Biographie zu tun haben, als zweite Heimat betrachte, finde ich es zunächst überraschend und empörend zugleich, wie der schnöde Materialismus der Finanzkrise die Unsicherheit der Menschen dahingehend manipuliert, dass die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges anhaltende Freundschaft zwischen zwei Völkern über Nacht in Frage gestellt wird. Wie konnte das passieren?
Zunächst fällt auf, dass es in Deutschland seit 2010 eine nie da gewesene Kanonade negativer Griechenland-Berichterstattung gibt. So haben deutsche Zeitungen, in denen Griechenland – immerhin ein europäisches Land – jahrelang null Erwähnung fand, über Wochen hinweg oft nicht nur einen, sondern gleich mehrere Artikel zu diesem bisher blinden Fleck auf der Landkarte veröffentlicht. Inzwischen muss man davon ausgehen, dass jeder Bundesbürger – vom Bild-Leser bis zum FAZ-Kunden – alles über Griechenland weiß. Nur was?
Offenbar, dass die Griechen – fern davon, ein liebenswürdiges und lebenslustiges Volk des exotischen Arkadiens zu sein – vielmehr der korrupteste und verdorbenste Menschenschlag auf Erden sind! Wohlgemerkt, nicht die politische Elite speziell – dem würde auch jeder Grieche sofort zustimmen – nein, die Griechen insgesamt müssen dafür herhalten, dass ihr mutmaßlicher Mangel an Tugend den Euro, Deutschland, ja, die ganze EU, mit in den Abgrund reißt. Wie ich las, hat es laut Institut für Sozialforschung in Frankfurt seit der Zeit der Judenhetze unter dem Nazi-Regime keinen vergleichbaren Rufmord an einem Volk gegeben.
Wer ist ohne Schuld?
Die anti-griechische Medien-Kampagne ist ein Anschlag auf eine befreundete Nation und damit die europäische Solidarität. Wie wenig Letztere wert ist, lässt sich der Bemerkung von IWF-Chefin Christine Lagarde entnehmen, sie interessiere die Armut in den Dörfern Nigerias mehr als Griechenland.
Kein Wunder, dass Griechen auf der Durchreise in Deutschland von Hoteliers aufgefordert werden, ihren Aufenthalt doch bitte im Voraus zu bezahlen. Oder dass ein deutscher Urlauber in Athen sein Getränk mit der Begründung nur zur Hälfte bezahlen wollte: „Das reicht schon, ihr habt von uns schon genug Geld abgezapft!“ Für die griechische Ökonomie ist es indessen gravierender, dass deutsche Lieferanten, mit denen man seit Jahren gute Handelsbeziehungen pflegt, plötzlich nur noch gegen Vorkasse liefern wollen, was die Versorgung mit wichtigen Import-Gütern gefährdet.
Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein: Man bildet sich doch in Deutschland nicht etwa ein, unangreifbar zu sein? Lässt sich dieses tugendhafte Land nicht gleichermaßen anschwärzen? Weshalb denn die reichen Griechen keine Steuern zahlen, wird in deutschen Medien ständig gefragt. Lassen Sie uns dazu einen Blick auf Deutschland werfen: „Die reichsten fünf Prozent erzielten zusammen ein Einkommen, das 95 Prozent aller Einkommensbezieher zusammengenommen nicht erreichten“, stellte der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung fest. „Diese Superreichen“ – hieß es weiter – „konnten jedoch, wie das Statistische Bundesamt beschämt zugab, nicht korrekt erfasst werden, da sich Vermögen, die größer als zwei Millionen Euro seien, sich dem Amt schlechterdings entzögen. Aus dieser Dunkelzone stammen vermutlich die 180 Milliarden der deutschen Steuerflüchtigen in der Schweiz, auch die hohen Summen in Luxemburg und neuerdings in Singapur“.
Tausend weitere pikante Fakten könnte man anführen. Selektive Wahrnehmung ist das Wesen der Propaganda. Wichtig ist für die Massenmedien weniger, was gesagt wird, sondern dass es gesagt wird. Wir erzählen nichts Böses über den Freund. Weil es nichts Böses zu erzählen gäbe? Nein, weil man nichts Böses über Freunde erzählen soll. Und ist es nicht zulässig, mit Propaganda das eigene Volk in die Irre zu führen?
Inzwischen hat die anti-griechische Kampagne der deutschen Medien nachgelassen, wahrscheinlich, weil angesichts der mögliche Pleite anderer EU-Staaten nicht länger die Figur des verruchten Griechen bemühen lässt. An denen bleibt trotzdem ein Teil des geschleuderten Drecks kleben, zumal sich der unwürdige und würdelose griechische Staat mitnichten gegen die Vorwürfe wehrt. Viel zu sehr ist er in der Angst gefangen, die nächsten Hilfsgelder könnten ausbleiben.
Was ist die EU noch wert?
Die Stigmatisierung der Griechen ebnet den Weg für einen Anschlag auf ihre Existenzgrundlage durch den exemplarischen Austeritätskurs, den die Troika (EZB, EU-Kommission, IWF) verordnet hat. So wurde 2012 von einem verängstigten Parlament in Athen ein Memorandum gebilligt, wodurch das gesamte öffentliche Vermögen – sogar historische Denkmäler – einem privaten Fonds zur Schuldentilgung zugeführt wird. Auch sind inzwischen alle staatlichen Einnahmen bis zu den Einkünften von Museen zur Schuldentilgung bestimmt. Auch noch gar nicht erschlossene Vorkommen an Erdöl, Gas und Mineralien sind dafür vorgesehen.
Genau genommen sind Griechenlands Schulden, die seit dem Beginn des „Sparkurses“ von 144 auf 176 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gestiegen sind, eben so wenig bezahlbar, wie einst nach dem Ersten Weltkrieg die der Weimarer Republik aufgebürdeten Reparationsleistungen. Der Unterschied besteht nur darin, dass Griechenland keinen Krieg gegen andere Nationen geführt hat, um dafür zu büßen. Vielmehr muss das Land den ganzen Preis für einen virtuellen Vernichtungskrieg zahlen, den korrupte Politiker und skrupellose Finanziers – wahrhafte „economical hit-men“ – gegen das Land zu führen wussten.
Es fragt sich, ob es vom Standpunkt des internationalen Rechts hinnehmbar ist, eine Nation wie ein in Konkurs gegangenes Unternehmen zu behandeln. Genau wie die Freiheit eines Menschen unveräußerlich ist, sind Würde und Selbstbestimmung einer Nation unantastbar. Diesen Grundsatz darf Europa nicht missachten. Verliert es seine moralischen und rechtlichen Fundamente, ist auch sein Zusammenhalt delegitimiert. Was ist ein Staatenbund wert, dessen Mitgliedern jederzeit der Status eines kolonialen Protektorates aufgezwungen werden kann?
Aber nicht allein das öffentliche, auch das private Eigentum Griechenlands gehört inzwischen zur Konkursmasse. Allein durch horrende Einkommens- und Grundsteuern verlieren Bauern ihr Land. Hausbesitzer werden zu Obdachlosen. Wie in tyrannischen Herrschaftsordnungen der Geschichte drohen dem Eigentümer Pfändung oder Gefängnis. An die 4.000 Suizide in nur zwei Jahren sind das Resultat der „Sparpolitik“. Schulen und Universitäten schließen, Krankenhäuser können nicht mehr operieren, weil kein Verbandsmaterial da ist.Waisenhäuser sind voll wie nie, weil Eltern ihre Kinder nicht mehr ernähren können. Rentner sterben, weil sie keine Medikamente erhalten, und junge Paare wagen es nicht, Kinder zu zeugen, da diese – so unglaublich es klingt – seit Neuestem indirekt besteuert werden! Wird es bald keine Griechen mehr geben?
In einem Arbeitspapier, das Anfang 2013 publiziert wurde, analysiert IWF-Chefökonom Oliver Blanchard den „fiskalen Multiplikator“, der das Verhältnis zwischen staatlicher Ausgabenkürzung und Steuererhöhung bezogen auf das Wirtschaftswachstum misst. Je höher der Multiplikator, desto stärker sinkt das Wachstum, wenn der Staat spart, und um so höher die Schulden, die der Staat macht. Blanchard räumt ein, dass der IWF bei Griechenland die Auswirkungen der Austeritätspolitik wieder einmal unterschätzt hat und die Schulden steigen. Eine Erkenntnis, über die der IWF eigentlich schon seit zehn Jahren verfügt. Damals untersuchte sein Evaluierungsbüro 133 Anpassungsprogramme, die der IWF begleitet hatte und kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Wider besseren Wissens werden Millionen Europäer durch diese Politik ins Unglück gestürzt
Wo ist die Elite?
Käme in Athen eine Regierung an die Macht, die ihren Namen verdient, würde sie nicht zögern, die Schulden als „odious public debt“ von der UN-Gerichtsbarkeit verwerfen oder stunden zu lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass man Schulden, deren Bezahlung Gesellschaft und Staat zerstört, und die auf korrupte Regierungen zurückgehen, für null und nichtig erklärt. Zuletzt passierte das, als die Bush-Administration befand, dass die neue irakische Regierung für die unter Saddam Hussein gemachten Staatsschulden nicht aufkommen müsse. Aber eine solche griechische Exekutive ist nicht in Sicht, da da es keine nationale Elite gibt, die sich dazu entschließt. Es kennzeichnet die Tiefe einer Krise, dass einem Volk die Ressourcen fehlen, wenn sie gerade am dringendsten gebraucht werden.
Die Krise in Europa ist gegen den Anschein nicht vorrangig eine Finanz-, sondern eine Wertekrise, wie das Beispiel Griechenland zeigt. Deshalb ist die Krise mit den Mitteln der Realpolitik, die – von ihren Verfechtern unbemerkt – schon längst an ihre Grenzen gestoßen ist, nicht zu meistern. Nur wenn der Mensch – nicht die Finanzpolitik – wieder in den Vordergrund gestellt wird, können auch die Nationen Europas in Verständnis zusammenwachsen. Nur so könnte Europa auch den Respekt und die Wertschätzung derjenigen Kulturen zurückgewinnen, die derzeit in der rein materialistischen Weltanschauung des Westens mit Recht kein Leitbild mehr sehen.
Konstantinos P. Romanós ist Professor für Philosophie an der Universität der Ägäis
Dieser Beitrag ist in der Printzeitung in gekürzter Form erschienen
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