Sind Polen unsichtbar? Obwohl mehr als hunderttausend polnischsprachige Menschen in Berlin leben, fällt polnische Lebenskultur im Stadtbild wenig auf. Erst auf den zweiten Blick enthüllen sich die polnischen Enklaven. Es ist ein trostlos grauer Sonntag, trotzdem versammeln sich um Punkt elf in Tempelhof ein paar hundert Menschen zum polnischen Gottesdienst, die meisten feierlich heraus geputzt. Sogar das polnische Fernsehen aus Warschau ist vor Ort und holt empörte O-Töne ein. Die Kirche soll verkauft werden. Die Wut ist groß. Seit 20 Jahren ist sie ein zentraler Treffpunkt der polnischen Gemeinde in Berlin. Genaues über die Schließung weiß aber keiner. Auch die ältere Dame nicht, die gerade ihrem Ärger Luft macht und vor der Kamera mit ihren Fäusten fuchtelt. Falls es wirklich zur Schließung kommt, dann wäre auch Maciek seinen Nebenverdienst los. Er verkauft vor der Kirche Zeitungen und Groschenromane. Auf seinem Tapeziertisch findet sich fast das gesamte polnische Print-Repertoire; neben der Gazeta Wyborcza liegen die polnischen Bild und Brigitte. Nach dem Gottesdienst belagert eine Menschentraube seinen Stand. Nirgendwo sonst kann Maciek sich so gut mit seinen Landsleuten austauschen wie sonntags hier, die Kirche stiftet Zusammenhalt. Die EU- Erweiterung ist für die meisten hier kein großes Thema, auch für Maciek nicht. Dass sich groß was ändern wird an seiner Situation und der der anderen Berliner Polen, glaubt er nicht. Er zuckt mit den Schultern. In den ersten sieben Jahren bleibe die restriktive Einwanderungspolitik gegenüber polnischen Arbeitern ja sowieso bestehen. Und einen paradiesischen Status habe Deutschland für viele Polen auch nicht mehr. Heute buhlen ja schon polnische Betriebe um ostdeutsche Arbeitskräfte. Die ganzen aufgeregten Diskussionen hält er angesichts der mickrigen Veränderungen auf jeden Fall für übertrieben. Eine ältere Dame, die gerade einen ganzen Packen Liebesromane kauft, hofft trotzdem auf ein paar Erleichterungen, auch für die Berliner Polen. Sie gibt sich schon mit Kleinigkeiten zufrieden. Zum Beispiel, dass der polnische Führerschein in Deutschland endlich anerkannt wird.
Piotr wird man im polnischen Gottesdienst wohl nicht antreffen. Aber die polnische Kultur in Berlin ganz hinter sich lassen, wollte auch er nicht. Deshalb gründete er vor einigen Jahren mit Freunden den "Club der polnischen Versager". Ihr Vereinsheim liegt direkt neben Kaminers Russendisko, in Berlins Ausgehviertel mit Abbruchcharme. Die "Versager" wollten mit der polnischen Unauffälligkeit im Berliner Stadtleben Schluss machen. Denn darin spiegelt sich, nach Piotr, ein Stück polnischer Mentalität, das er verabscheut. Für ihn ist das "Duckmäusertum" eine regelrechte polnische Unsitte.
Schon der provokative Name ihres Projekts hat Aufsehen erregt. Bis auf die Couch von Alfred Biolek haben die "Polnischen Versager" es geschafft, um ihre Philosophie des fröhlichen Scheiterns in die Welt zu tragen. Eine Weltsicht, die ihren eigenen Biographien Rechnung trägt. "Wir waren Außenseiter im kommunistischen Polen und haben damals vom Westen geträumt", sagt Piotr. "In Berlin mussten wir dann aber schnell feststellen, dass wir als Künstler auch hier nicht zu den Gewinnern zählen." Beim Thema EU gerät der Mittdreißiger regelrecht in Rage. Er hat das ganze Gerede darüber satt. "Es wird nur über Handelsabkommen, Wechselkurse und Grenzsicherungen geredet." sagt er. "Aber nicht über Menschen."
Obwohl es Piotr als "Versager" sichtlich schwer fällt über die Erfolgsgeschichte des Projektes zu reden, können wir ihm entlocken, dass der Club in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Orte der polnisch-deutschen Kulturszene in Berlin aufgestiegen ist. Regelmäßig finden in dem kleinen Raum, der mit Klavier, Bücherregal und roten Plüschsofas an die Bohèmesalons in den zwanziger Jahren erinnert, Lesungen und Vorträge statt. Im Theaterraum nebenan, der etwa dreißig Plätze fasst, treten wöchentlich Off-Theatergruppen auf, egal ob aus Polen oder Deutschland.
Für die vielen polnischen Künstler, die es nach Berlin zieht, ist die Torstraße erste Anlaufstation. Auch in Warschau hat sich das schon herumgesprochen. Es fehlt aber oft an Geld, um polnische Kunst oder Theaterprojekte nach Berlin einzuladen. Die Liste der Zukunftspläne ist lang. Die nächsten sind eine Verlagsgründung für polnische Literaten und ein regerer Künstleraustausch zwischen Berlin und Warschau.
Eben ist der Film Ostseeerweiterung fertig geworden. Darin kommentieren die "Polnischen Versager" den EU-Beitritt auf ihre eigene Art und Weise. Er ist eine Mischung aus einer Dokumentation des Cluballtags und einer fantasierten Überschwemmungsapokalypse Polonia. "Ein dilettantischer Film", wiegelt Piotr ab und formt ein wenig verschämt kleine Wachskügelchen aus der Kerze auf dem Tisch.
Frau Klon, unsere nächste Gewährsfrau in Sachen polnischer Lebenskultur, hat mit Gombrowicz, Milosz und der jungen Theaterszene in Warschau nichts am Hut. Als eine Vorkämpferin für die polnische Kultur fühlt sich die Fünfzigjährige aber dennoch. Im Angebot hat sie Krakauer-Knacker, Piroggen und frischen Karottensaft. Den drückt sie uns zur Begrüßung als erstes in die Hand. "Probieren sie mal", sagt Frau Klon und stimmt eine improvisierte Produktwerbung an. "Wird täglich frisch aus der Grenzregion angeliefert."
Frau Klon schließt die Ladentür ab und bittet ins Hinterzimmer. Vor vier Jahren hat sie den polnischen Tante-Emma-Laden in der Pestalozzistraße eröffnet. Es gab damals Hunderte von türkischen Lädchen, aber fast keinen polnischen. Und das, obwohl rund 100.000 Polen in der Hauptstadt leben. Ihre Entscheidung war goldrichtig. Der Laden hat sich etabliert. "Fast 50 Prozent meiner Kundschaft sind Deutsche.", sagt Frau Klon und lächelt stolz. Das liegt bestimmt nicht nur daran, dass ihr Geschäftsraum die Ordnung von Butter-Lindner atmet. "Glauben Sie etwa in Polen sieht alles anders aus? Womöglich noch schmutziger?", sie ist empört über diesen Vergleich Frau Klon geht es nämlich nicht nur um die polnische Esskultur, sondern um Polens Image im Allgemeinen. Überall im Laden hat sie Hochglanzposter aufgehängt, die die Kundschaft mit den Reizen der polnischen Landschaft vertraut machen sollen. Sie ist zu einer Ansprechpartnerin in Sachen Urlaubsplanung geworden. Natürlich ehrenamtlich. "Macht mich froh, wenn die Leute Interesse an meiner Heimat zeigen", sagt sie und schaut wieder freundlicher. Der Butter-Lindner Ausrutscher scheint vergeben. Aus Frau Klon ist mit den Jahren eine Allround-Aktivistin in Sachen polnischer Lebenskultur geworden. Seit kurzem gibt sie das erste polnischsprachige Anzeigenblatt heraus: Kontakty ist bunt, unübersichtlich und eine Art Gelbe Seiten der polnischen Community in Berlin. Hier findet man polnischsprachige Zahnärzte, Putzfrauen und Ehegatten. Die Pionierin des deutsch-polnischen Handels weiß über die EU erstaunlich wenig. Sie hofft, dass die ganzen Arbeitsbeschränkungen endlich wegfallen. Sie hat Mitleid mit den Schwarzabeitern und Illegalen, die ab und zu in den Laden kommen, um polnische Zeitungen zu kaufen. "Die Esswaren sind denen aber zu teuer. "Ich habe deutsche Preise."
Versteckt in einem Hinterhof der Oranienstraße befindet sich der Polnische Sozialrat. Hier wird unbürokratische Hilfe und Beratung für alle geleistet, die sie benötigen. Nicht nur für Polen, wiewohl die freiwilligen Berater natürlich auf deren Probleme spezialisiert sind. Der Sozialrat funktioniert als ein Gegenentwurf zur Ellenbogengesellschaft. Menschen helfen hier ganz einfach anderen Menschen, die Probleme haben, sagt Izabella. Sie sitzt positiv gestresst im hellen Großraumbüro des Vereins, Anfang dreißig ist sie, beruflich erfolgreich und opfert ihren Jahresurlaub, um einmal in der Woche vor Ort mitzuhelfen. Heute wird ein Seniorenprojekt aus der Taufe gehoben für ältere Polen, die ohne Familie in Berlin leben und einsam sind. Über ein Jahr lang dauerte die Tour de Force durch den Bürokratendschungel, bis die Finanzierung gesichert war. Izabella wehrt sich gegen das Polen-Klischee - Autoknacker und Schwarzarbeiter - , das immer noch fest in den deutschen Köpfen stecke. Dabei sei das Leben der Polen in Berlin sehr vielschichtig. Folglich auch ihre Probleme. Zum Sozialrat kommen Senioren, Lebenskünstler und natürlich auch Schwarzarbeiter, die von ihren Arbeitgebern betrogen wurden oder Ärger mit Polizei und Zoll haben. Man organisiert Rechtsberatungen, leistet psychologische Ersthilfe und organisiert Projekte und Gruppentreffen. "In der polnischen Community kennt jeder den Sozialrat", sagt Izabella. Sie versteht ihn auch als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins der polnischen Migranten, die die Opferrolle satt haben.
Bleibt Jan, der sich ebenfalls um den deutsch-polnischen Austausch bemüht. Im leibhaftigen Sinn. Jan betreibt einen privaten Bus-Shuttle zwischen Berlin und Stettin. Er wartet ungeduldig am Alexanderplatz auf ein paar verspätete Fahrgäste. Es ist eisig kalt und der Wind fegt über den verlassenen Parkplatz. In einiger Entfernung warten noch ein paar andere Minibusse auf Kundschaft. Ein richtiger Busbahnhof hat sich hier etabliert. Natürlich nicht ganz offiziell. 50 Zloty oder 12 Euro kostet eine Tour in Jans Bus. Das ist bedeutend billiger als mit der Bahn. Neben dem Bus steht eine Gruppe polnischer Fahrgäste und wartet ebenfalls auf die Nachzügler. Die unterschiedlichsten Leute nutzen seinen Reisebus. "Manche kommen nur zum einkaufen oder Bekannte besuchen. Viele kommen aber auch, um einen Job in Berlin zu finden.", sagt Jan. Er ist überzeugter Europäer Jan spricht nicht gerne von Deutschen und Polen "Meine Fahrgäste sind ausschließlich Europäer", sagt er und lacht dabei aber so, als sei ihm der Ausdruck selbst noch nicht ganz geheuer. Denn bis jetzt chauffiert er fast ausschließlich Polen, weil sein Geschäft nur von Mundpropaganda lebt. Aber irgendwann wird sich das ändern. Vielleicht schafft er es ja, sein Busgewerbe richtig zu professionalisieren. Jan glaubt fest daran. Dafür müssen aber die leidigen Wartereien an der Grenze wegfallen. Und mehr Berliner in seinen Bus einsteigen und nach Polen fahren.
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