Die Provinz, die westliche zumindest, gilt derzeit als Hort allen Übels. Sie wird verantwortlich gemacht für den Brexit, für Trump und für das Erstarken der AfD. Die Dörfer, so scheint es, sind voll von Pegida-Sympathisanten und Front-National-Wählern. Wobei: Voll sind sie eigentlich nicht, denn viele sind weggezogen. Wer geblieben ist, ist alt. Und wer nicht weggezogen und nicht alt ist, muss zumindest ungebildet sein. Kurz: Die Provinz gilt als reaktionär, gewalttätig, kleinkariert und kulturfern. Sie ist, wenn man so will, ein leises, alltägliches, beharrliches Sodom und Gomorra.
Enno Stahl, 1962 geboren, Romancier und Literaturwissenschaftler, ist als einer der wenigen wirklich politischen Köpfe im deutschsprachigen Literaturbetrieb beka
trieb bekannt. Er hat nun einen Roman geschrieben, der in den kleinstädtischen Schmelztiegel hinabsteigt, die Spätkirmes nämlich, die dem Roman auch den Titel leiht. Die Kirmes, von der Stahl erzählt, feiert das 175-jährige Jubiläum des örtlichen Schützenvereins im (fiktiven) Kirchweiler, braucht aber eigentlich keinen Anlass und könnte überall sein: Sie ist Tummelplatz besoffener Schützen, sie schmeckt nach Altbier und Bratwurst, sie klingt nach Stammtischgesprächen und „Schatzi, schenk mir ein Fotooo“-Musik. Und sie ist vor allem das große Ereignis im Ort.Mobbing gegen „Spasti“Deswegen, auch deswegen, betrifft die Kirmes natürlich auch die Hauptfigurenschar des Buches. Als da wären: Hannes, der als Zugezogener buchstäblich ortsfremd ist, Juniorprofessor für Literaturwissenschaft in Düsseldorf, vom Karriereknick und dem Abstieg ins akademische Prekariat bedroht. Mit seiner Frau Meta, studierte Ernährungswissenschaftlerin und schlechtbezahlte Projektjobberin, befindet er sich in einer ständigen Auseinandersetzung, in der es weniger um Gefühle als um Leistung geht. Dass sie noch zusammen sind, hängt mit ihrer Tochter zusammen, der fünfjährigen Cora, und vielleicht auch mit der Kreditlast, die sie drückt. Erzählerisch begleitet wird außerdem noch Bob, ein 14-jähriger „Scheiß-Spasti“, der regelmäßig von den anderen Jugendlichen durchs Dorf geprügelt wird. Als Mobbing Queen tut sich dabei die zwölfjährige Jeanette hervor, eine, so Bob, „Scheißdrecks-Fick-Nutte“, die pöbelnd und gelangweilt mit ihrer Komparsin Mandy durch Kirchweiler zieht.Für einen Roman von gut 200 Seiten sind das ziemlich viele Protagonisten, zumal sich Enno Stahl bemüht, seine Figuren reichlich zu Wort kommen zu lassen. Eine klassische Erzählerstimme hört man in Spätkirmes deswegen eher selten – und wenn, dann wird sie schnell abgelöst von den langen inneren Monologen oder den vielen Gesprächen. Die Vielfalt von Stimmen und Perspektiven sorgt für die Atmosphäre des Buchs, eine erdrückende Atmosphäre voller erdrückter Figuren. Sie alle sind irgendwo gefangen: In ihrer Stimmung, in ihren Sorgen, in ihren Konsumansprüchen, in ihren Lebensmustern, in ihrer Herkunft.Aus all dem, den Stimmen, den Perspektiven, den Hintergründen, entwickelt sich ein kleinstädtisch-kleinbürgerliches Panorama. Enno Stahl setzt zudem noch ein paar lexikonartige Mosaiksteine mit Ortskunde in den Text, in denen es um die Geschichte Kirchweilers geht, um die Bodenverhältnisse oder den Dialekt. Denn die Vergangenheit gehört zum Gegenwartspanorama dazu – und genau das ist es, was Stahl in seinen, so der Waschzettel, „analytisch-realistischen Romanen“ zeichnen will.Weil er in Spätkirmes den (wenig reflektierten) Figuren so viel Redezeit gewährt, mischen sich einige brutal simple Bilder ins Panorama. Während der behinderte Bob durchs Dorf radelt, sitzen seine Eltern selbstverständlich auf der Couch vor dem Fernseher. Meta erklärt den Lesern in einem inneren Monolog, dass Jeanettes Mutter alleinerziehend und arbeitslos sei, sie kenne das eben nicht, „geregelten Ablauf oder so“. Ihre Tochter Cora wiederum, fünfjährig wohlgemerkt, denkt so Sachen wie: „Bestimmt habe ich irgendwas falsch gemacht und sie streiten wegen mir. Ich bin ja froh, dass ich Mama und Papa habe. Nico hat nur seine Mama, deshalb rennt er immer zu ihr hin, wenn wir eine Weile gespielt haben.“ Und auf der Kirmes fällt natürlich auch der Satz: „Ich happ nix jejen Ausländer, aber …“Raumgreifende LethargieVielleicht so ließe sich nun zur Verteidigung des Buches und seines Autoren sagen, ist die Realität tatsächlich so phrasenhaft, wie sie hier erscheint. Die Figuren, die Themen und den Plot hätte man allerdings auch mit etwas weniger Strichen zeichnen können. Denn in Kirchweiler, das steht schnell fest, gibt es keinerlei Aussicht auf Veränderung. Das Städtchen befindet sich in einer fortlaufenden, kleinkarierten Schleife.Wie verkommen dieser Ort tatsächlich ist, zeigt sich übrigens ausgerechnet an der einzigen Figur, die sich dort fremd fühlt, nämlich am zugezogenen Akademiker Hannes. Dessen Lethargie ist so raumgreifend, dass er nicht einmal reagiert, wenn seine eigene Tochter von einem Besoffenen angetanzt wird. Oder wenn ein Kampfköter sich in seinen Hund verbeißt. Oder wenn im Nachbarhaus laute Nazilieder gegrölt werden.Als Jeanette ihn dann auf der Kirmes (berechtigterweise) beschuldigt, sie „angefasst“ zu haben, spielt er, der akademisch Gebildete und Ortsfremde, seine Überlegenheit aus, bis ihr niemand mehr glauben will. Alles wird weiter seinen Gang gehen. Sodom und Gomorra? Sie sind, zumindest in Kirchweiler, schwer aus dem alltäglichen Tritt zu bringen.Placeholder infobox-1
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