Am 10. April findet die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich statt, ehe es zwei Wochen später in die Stichwahl geht. Laut jüngsten Umfragen steht Amtsinhaber Emmanuel Macron vor der Wiederwahl. Es zeichnet sich allerdings ab, dass die zwei aussichtsreichsten Kandidaten der Rechtsextremen, Marine Le Pen und Éric Zemmour, im ersten Wahlgang zusammen mehr als 30 Prozent holen werden. In der Stichwahl könnte Le Pen gar circa 44 Prozent der Stimmen auf sich vereinen – was ziemlich erschreckend wäre. Eine Entwicklung, die sich seit Jahren und Jahrzehnten abzeichnet. Weshalb haben in Frankreich die Rechtsextremen so viel Zuspruch?
Eine literarische Antwort mag uns der aus Lothringen stammende Laurent Petitmangin mit seinem Debütroman Was es braucht in der Nacht geben. Der 57-jährige Schriftsteller und Angestellte bei Air France schreibt seit seiner Jugend, sein spätes Debüt ist ein Überraschungserfolg. Was es braucht in der Nacht wurde mit etlichen Lese- und Literaturpreisen prämiert, in mehrere Sprachen übersetzt und soll verfilmt werden. Sein Zweitlingswerk erschien vergangenen Herbst in Frankreich: ein Berlin-Roman.
Doch zurück zum aktuellen Text: Der namenlose Ich-Erzähler, Vater und Bahnarbeiter aus Lothringen, schildert uns Leser:innen seine Geschichte mit den Söhnen Frédéric, genannt Fus, und Gillou. Als die Mutter nach einer Krebserkrankung stirbt, fühlt sich der Vater überfordert. Die Kommunikation mit den Söhnen findet an Wochenenden über den Fußball statt: Der Vater begleitet Fus bei seinen Spielen, und alle zwei Wochen gehen sie ins Stadion, um ihre Mannschaft FC Metz anzufeuern. Ansonsten herrscht erdrückende Sprachlosigkeit. Ein Parteigenosse – der Vater ist Mitglied bei der Sozialistischen Partei – sagt ihm, dass Fus mit Faschisten rumhänge.
Als der Vater seinen Sohn wütend zur Rede stellt, beruhigt der ihn, seine neuen Freunde seien keine Rassisten: „Glaub mir, meine Kumpels sind auf der Seite der Arbeiter. Sie pfeifen auf das, was die in Paris von sich geben, sie setzen sich für unsere Gegend ein.“ Daraufhin wechselt der Vater monatelang kein Wort mit ihm. Auf der lokalen Facebook-Seite der Jugendorganisation des Front National liest er, dass Fus und seine Kumpels alte Möbel wieder funktionstüchtig machen. Unter den Posts entdeckt er antisemitische, rassistische und homophobe Sprüche. Der Vater schämt sich. Eines Tages findet er Fus mit schweren Verletzungen daheim auf dem Sofa. Linksautonome haben ihn zusammengeschlagen. Der Vater bezweifelt, dass sein Sohn unschuldig in die Schlägerei hineingeraten ist. Es kommt schlimmer: Fus muss sich später wegen Mordes an einem Linksautonomen verantworten …
Leere Versprechen aus Paris
Petitmangin schildert eindrücklich, wie ein junger Mann Mitglied bei den Rechtsextremen wird – und zwar einer aus der Mitte der Gesellschaft, aus einer linken Arbeiterfamilie. Rechtsextreme vermitteln Jugendlichen und jungen Erwachsenen Halt, Anerkennung, Gemeinschafts- und Heimatgefühle. Zudem beschreibt der Autor, ähnlich wie Didier Eribon, wie die Infrastruktur auf dem Land allmählich wegbricht, wie kaum nachhaltige Jobs geschaffen werden, wie Versprechen aus Paris zerplatzen. Letzteres veranschaulicht Petitmangin zu Recht anhand der Sozialistischen Partei, die die Probleme ihrer Klientel verkennt und sich lieber mit Programmen anderer linker Parteien auseinandersetzt statt mit der Politik des aktuellen Präsidenten Macron oder der Rechtsextremen Le Pen. Eine politische Kapitulation der Linken.
Schade nur, dass die ausgezeichnete soziopolitische Analyse Petitmangins durch die zweite Hälfte des Buches relativiert wird. Denn Fus muss sich den juristischen Konsequenzen in zwei Prozessen stellen. Ergo: Zum Inhalt und zur Analyse kommt kaum noch etwas hinzu. Im Gegenteil: Fus’ Mord wird letztlich als Rachemord gewertet, dem Ermordeten eine Mitschuld gegeben. Folglich ist das Politische nicht mehr ausschlaggebend. Es zählen nicht mehr die menschenverachtenden Gedanken, die zu dieser Tat geführt haben. Der Vater, der zunächst wütend ist, erkennt plötzlich, dass Fus trotz allem sein Sohn ist – verständlich, aber welche Aussage möchte uns Petitmangin mit diesem (kitschigen) Ende geben?
Info
Was es braucht in der Nacht Laurent Petitmangin Holger Fock, Sabine Müller (Übers.), dtv 2022, 160 S., 20 €
Kommentare 8
Macron ist ein kluger Kopf und macht außenpolitisch einen guten Job.
Innenpolitisch, insbesondere im Kampf gegen den Islamo-Faschismus ist Le Pen überzeugender. Leider müsste man bei ihrer Niederlage davon ausgehen, dass Michel Houellebecq mit seinem vielfach ausgezeichnten Roman "Unterwerfung" Recht behält.
Bei einer Stichwahl pro Le Pen.
Die aktulle Situation beschreibt ein ausgezeichnetes FAZ-Interview mit Alice Schwarzer und der Philosophin Elisabeth Badinter sehr gut.
„In Cafés sitzen keine Frauen mehr“
https://www.faz.net/aktuell/politik/alice-schwarzer-im-interview-ueber-islam-und-antisemitismus-15333514.html
Zitat: "Petitmangin schildert eindrücklich, wie ein junger Mann Mitglied bei den Rechtsextremen wird – und zwar einer aus der Mitte der Gesellschaft, aus einer linken Arbeiterfamilie. Rechtsextreme vermitteln Jugendlichen und jungen Erwachsenen Halt, Anerkennung, Gemeinschafts- und Heimatgefühle. Zudem beschreibt der Autor ... wie die Infrastruktur auf dem Land allmählich wegbricht, wie kaum nachhaltige Jobs geschaffen werden, wie Versprechen aus Paris zerplatzen. Letzteres veranschaulicht Petitmangin zu Recht anhand der Sozialistischen Partei, die die Probleme ihrer Klientel verkennt und sich lieber mit Programmen anderer linker Parteien auseinandersetzt statt mit der Politik des aktuellen Präsidenten Macron oder der Rechtsextremen Le Pen. Eine politische Kapitulation der Linken."
Also, wenn man "Paris" durch Berlin, "Macron" durch Merkel bzw. Scholz und Marine "Le Pen" durch Alice Weidel ersetzt, dann kann man auf die Idee kommen, dass es im Roman nicht um Frankreich, sondern um Deutschland geht.
Neoliberal-Konservative, Pseudo-Linke und rechte Nationalisten, die dem Volk vorgaukeln, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten, gibt es schließlich auch in Deutschland en masse.
"En masse" ist französisch und heißt auf deutsch: in großer Zahl, haufenweise oder wie Sand am Meer.
Und was sagt unser amtierender konservativ-neoliberaler deutscher Bundeskanzler Olaf Scholz dazu? Kann der auch Französisch oder braucht er eine "Dollmätscherin" bzw. einen "Dollmätscher"?
Zitat: "Macron ist ein kluger Kopf ...
Wo Sie recht haben, haben Sie recht oder gibt es auch "dumme" Köpfe, die die Interessen der Großkonzerne, der Superreichen (aka Oligarchen), der Börsenzocker und der Immobilienspekulanten vertreten, aber den Bürgern vorgaukeln, sie würden sich für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung und die sogenannte "Mitte der Gesellschaft" einsetzen?
So ein Quark, Macron ist ein Neoliberales Sackgesicht.
Eine Politik, die die soziale Gerechtigkeit mit Füßen tritt, wird immer einen Zulauf bei rechten Parteien ernten. Die Islamistischen Tendenzen sind nur Ausdrucks der Verachtung der unterschichten durch Macron & Co. Islamo-Faschismus ist übrigens eine rassistisch gefärbte Begrifflichkeit die die sozoiale realität ignoriert.
>>„In Cafés sitzen keine Frauen mehr“<<
Ich sitze nicht im Cafe weil ich es mir nicht mehr leisten kann.
"Also, wenn man "Paris" durch Berlin, "Macron" durch Merkel bzw. Scholz und Marine "Le Pen" durch Alice Weidel ersetzt, dann kann man auf die Idee kommen, dass es im Roman nicht um Frankreich, sondern um Deutschland geht."
Das sehe ich anders. Macron hat sowohl Elemente der CDU als auch sozialpolitisch mit der AfD. Und Le Pen hat sowohl Ähnlichkeiten mit der AfD, unterscheidet sich allerdings sehr in sozialpolitischen Fragen und liegt da eher bei Mélenchon. Der RN von Le Pen ist im Gegensatz zu allen Parteien in Deutschland (Ausnahme DL) nicht neoliberal orientiert.
Zitat: "Macron hat sowohl Elemente der CDU als auch sozialpolitisch mit der AfD. Und Le Pen hat sowohl Ähnlichkeiten mit der AfD, unterscheidet sich allerdings sehr in sozialpolitischen Fragen und liegt da eher bei Mélenchon."
Ich bestreite keineswegs, dass es Überschneidungen bzw. Schnittpunkte zwischen den Parteien gibt. Das gilt sowohl für Deutschland als auch für Frankreich. Wie sonst käme in Deutschland eine Koalition der Großkopferten ("GroKo") oder eine rot-gelb-grüne Ampel-Koalition zustande?
Ich liebe Frankreich, vor allem den Wein, die Vielfalt an Käse und das beste (von der Eigentümerin des kleinen Hotels in limitierter Auflage selbstgebraute) Bier in meinem Leben habe ich auch in einem Hotel in Frankreich getrunken und nicht in Allemagne.
Ich gebe aber offen zu, ich bin kein ausgewiesener Kenner der aktuellen französischen Politik, wenn es um einzelne Fragen geht. Deshalb würde mich durchaus interessieren, in welchen sozialpolitischen Fragen Mélenchon und Le Pen übereinstimmen.
Mélenchon ist jedenfalls ein erklärter Gegner neoliberal-konservativer Politik und fordert m. W. zum Beispiel einen höheren gesetzlichen Mindestlohn, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bzw. der Progression bei der Einkommensteuer, eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit, eine Erhöhung der Vermögensteuer für französische "Superreiche" aka Oligarchen und die Überführung privater Großkonzerne, die der Daseinsvorsorge dienen, in Gemeineigentum.
Das sind in Deutschland jedenfalls keine Ziele der AfD, die bekanntlich von neoliberal-konservativen Wirtschaftsprofessoren als "Alternative" zur CDU/CSU, FDP und SPD mitgegründet wurde, weil ihnen bis dato die neoliberal-konservative Wirtschafts- und Sozialpolitik der CDU/CSU, der FDP und der SPD nicht weit genug ging.
Zitat von drummy-b:
"Islamo-Faschismus ist übrigens eine rassistisch gefärbte Begrifflichkeit die die sozoiale realität ignoriert."
Dazu ein interessanter taz-Artikel:
taz: "Islamismus und Gesellschaft:Der religiöse Faschismus"
Islamismus und Gesellschaft: Der religiöse Faschismus - taz.de
Sie könnten sich auch wiederfinden bei folgenden Artikeln, lieber drummy, wobei ich hoffe, dass Sie nicht aus irgendeiner Blasen-Befindlichkeit den FAZ-Artikel weiter oben rigide ignoriert haben.
Oder die taz mit einem Interview mit der französischen feministischen Journalistin Caroline Fourest:Islamismus, Charlie Hebdo und die Linke: Die beleidigte Generation - taz.dePopulismus und Islamismus: Sagten Sie „Islam-Linke“? - taz.de