Lauschangriff 10/03

Der Zeit entwischen. Vielleicht, weil alles so still war. Nur noch der Atem, das Herz, kein Hauch, nicht einmal ein Vogel, das gab es. Dazu Geruch ...

Der Zeit entwischen. Vielleicht, weil alles so still war. Nur noch der Atem, das Herz, kein Hauch, nicht einmal ein Vogel, das gab es. Dazu Geruch von Birkenholzfeuer, Fensterblicke in Schnee und Berge, Morgenlicht und Abendstern - so unzeitgemäß, kostbar, dass selbst die Musik, selbst Zartestes und Feinstes, zu schweigen hatte. Bis etwas der Lautlosigkeit ähnelte, Kompositionen, durch die, wie fahles Licht, Schweigen schimmerte. Anders indes als in der Tonkunst des 19. Jahrhunderts verweisen die Räume, die Klänge und Farben im Kammerkonzert (1969-70) des ungarischen Komponisten György Ligeti nicht auf Landschaften, auf Seelenwild- oder -ödnisse, sie verdanken sich ihnen nicht; sondern erklingen an und für sich, wie Gang und Gäbe in Neuer Musik - a rose is a rose und ein Ton ein Ton. Der Klang zu Beginn des Kammerkonzerts verändert sich auf fast gleicher Höhe, farblich, räumlich, dynamisch, ohne sich im klassischen Sinn zu entwickeln. Durch feine und feinste Strukturveränderungen bildet er sich um, verblasst, lädt sich auf und entlädt sich wieder; er schichtet und multipliziert sich - chromatisch, mikoropolyphon -, und weil das Ohr anders summiert als das Auge, tritt etwas ein, das kein Paul Klee und kein Max Ernst zustande bringen könnten, das, seit Ligeti, zeitgenössischen Komponisten aber selbstverständlich ist: Aus Linien werden Farben. Dabei gelingt es Ligeti, auf einer quasi "inhaltlichen" Ebene, in jedem Kammerkonzert-Satz überdies Momente wie Bedrohung, Beruhigung und Trost entstehen zu lassen.

In Melodies von 1971 verwandelt er Melodielinien, indem er sie, mal dichter, mal sehr dünn, verwirbelt, so dass Klangflächen und -räume auftauchen, über die und in denen gelegentlich zarte kleine Melodien schweben. Mit dem Klavierkonzert (1985-88) markierte der in Siebenbürgen geborene und seit langem in Deutschland lebende Ungar den Beginn seiner bisher letzten Stiletappe. Er komponiert seitdem distinktere, wie kristalline musikalische Ereignisse, die sich auf neuartige Weise auch betont rhythmisch verhalten, wobei der Komponist selbst verblüfft feststellte, dass er, ohne je Folklore beabsichtigt zu haben, in eine ihm nicht unsympathische Nähe zu polyrhythmischer afrikanischer Musik geriet (Mysteries of the Macabre; Warner Classics/Teldec 8573-83953-2).

Am 28. Mai wird der Sucher, Tüftler und Finder György Ligeti achtzig. Drei der Platten-Majors haben ihm discografische Denkmale gesetzt oder sind dabei. Das Monument von Sony Classical kam freilich über den Sockel nicht hinaus. Die Deutsche Grammophon ist mit Ligeti-CDs im Rahmen ihrer Avantgarde-Reihe 20/21 noch am Denkmalbau; unter den Meilensteinen ein weiteres Epochenwerk, Aventures von 1962-63, mit dem Ligeti, jenseits der Semantik von Alltagsrede und Schriftsprache, aus Wortfetzen, Sprachklängen und -gesten ein faszinierendes Stück neuzeitlicher Ensemblemusik schuf (Deutsche Grammophon/ Universal Music 471608-2). Zum Programm des noch in diesem Jahr vollendeten Ligeti Project von Warner Classics/Teldec (5 CDs) gehört Athmosphères von 1961, Ligetis durch Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey wohl bekanntestes Stück, Reife- und Schlusspunkt und produktive Sackgasse der reinen Klangfarbenmusik-Etappe (Warner Classics/ Teldec 8573-88261-2).

Ligetis Arbeiten mindestens ab Anfang der siebziger Jahre sind, zur Enttäuschung des puristisch-avantgardeseligen Flügels seiner Anhänger, bei aller Neuheit und Intellektualität immer auch delikat gewesen, auch von Nichteingeweihten nachvollziehbar. Sie bekennen sich, wie alles große Neue, zur Tradition, in der Ligeti unendlich bewandert ist. So verraten etwa die Satzzahl - fünf - und der Schnell-Langsam-Schnell-Wechsel der Satzfolge im 1992 komponierten Violinkonzert einen bis ins Barock reichenden Rückblick. Das Verhältnis von Soloinstrument und Tutti ist das althergebrachte von Melodie und Begleitung. Besonders die zwei langsamen Sätze verweben Neuestes mit Ältestem, wobei dem Hörer im Choral des zweiten und in der Passacaglia des vierten Satzes auf entzückend altertümliche Art das Herz aufgeht (Warner Classics/Teldec 8573-87631-2).

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