Lauschangriff 7/02

Musikkolumne Erstaunlich, was in der Musikgeschichte unterm Stichwort "Barock" so alles zusammen kommt. Zwischen Monteverdis Aufstieg um die Wende zum 17. ...

Erstaunlich, was in der Musikgeschichte unterm Stichwort "Barock" so alles zusammen kommt. Zwischen Monteverdis Aufstieg um die Wende zum 17. Jahrhundert und Bachs Tod 1750, um nur die gebräuchlichsten Anfangs- und Endpunkte zu nennen, liegen Welten, nicht nur die Alpen. Und was von der Musik dieser Spanne und wie es zu hören war bis ans Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts - das grenzte an Fälschung, ließ vieles vom Besten weg und war vor allem grottenlangweilig.

Herbert von Karajan etwa, dem der arme Haydn schon immer und Mozart und Beethoven zumindest am Ende seines Lebens nur die Fortsetzung von Strauss und Bruckner mit denselben Mitteln waren, verfuhr mit Meistern wie Sebastian Bach oder Antonio Vivaldi wie der Blinde mit der Farbe.

Musiker wie - allen voran - Nikolaus Harnoncourt indes spielten die Musik des Generalbasszeitalters schon in den 1960er Jahren auf darmbespannnten Geigen, ventillosen Trompeten und auf per Holzschlegel zu traktierenden, mit Kalbfell statt Kunststoff bespannten Pauken; sie hielten Sänger und Streicher, statt zu glamourösem Dauervibrato, zu klug dosiertem Umgang mit der Kunst der Schwingung an. Es ging ihnen dabei nie um "Authentizität", die im Auge zu haben sie gleichwohl bis heute verdächtigt werden. Was sie allerdings erreichten, war eine neue, heute allgemein gültige Stilkonvention.

Anders als auf Harnoncourts erster Adaption der monumental dramatischen Matthäuspassion Bachs von vor dreißig Jahren, vermeidet dieser Pionier der "historischen Aufführungspraxis" in seiner Neuaufnahme gewisse Härten und Sprödigkeiten, wie sie die Prinzipien eines einst umkämpften Neuerertums offenbar verlangt hatten. Die Farbe und Flause, Transparenz und federnde Klarheit der alten Instrumente verbindet sich heute, zum Vorteil des Publikums, mit Neigung zu Geschmeidigkeit, Wohlklang und viel Virtuosität (Teldec/Warner 8573-81036-2). Wenn Thomas Hengelbrock, einer von Harnoncourts umtriebigsten "Schülern", tief in die Archive und Bibliotheken abtaucht und beispielsweise Antonio Lottis (1667-1748) Requiem zutage fördert, um es mit dem grandiosen Balthasar Neumann Ensemble und Chor aufzuführen, praktiziert er damit nur eine weitere Tugend der Historisierer: Sie verzichten auf im Laden gekaufte Noten, gehen von Autographen oder Erstaufführungsmaterial aus - und heben auf diese Weise Schätze. Lottis vergessene, sensationelle Totenmesse jedenfalls sprüht geradezu von Leben und musikalischer Lust, auch da, wo sie sich der Trauer widmet (DHM/BMG 05472 22507 2).

Nicht nur Lotti war zu seiner Zeit berühmter als Sebastian Bach, der barocke Megastar der Gegenwart. Auch die Konzertmeister des Dresdner Hofs waren es. So müssen etwa die Concerti Johann Pisendels (1687-1755), präsentiert vom Freiburger Barockorchester mit viel Sinn für Koloristik und konzertante Individualität, einen Vergleich mit den Brandenburgischen Konzerten nicht zu scheuen (Carus/NOTE 183.301). So wenig wie die elegant-spritzigen Dresden Concerti Johann David Heinichens (1683-1729), an den Reinhard Goebel und die Kölner Musica Antiqua brillant und mitreißend erinnern (Archiv Produktion/ Universal 437 549-2).

Vergessen wie die zwischen 1678 und 1738 florierende Barockoper am Hamburger Gänsemarkt ist auch Reinhard Keiser (1674-1739), in Deutschland zu seiner Zeit erfolgreicher als Händel und Bach zusammen. Keisers Croesus, von einem gesegneten Sängerset (Dorothea Röschmann, Roman Trekel, Wener Güra u.a.) und der Akademie für alte Musik Berlin unter René Jacobs zum Besten gegeben, beweist, wie witzig, kunstreich und zugleich kurzweilig Barockoper sein kann (hmf/Helikon HMC 901714.16). Sind Musiker findig, fetzig und kompetent wie das Freiburger Barockorchester, reichen Kraft und Frische des historischen Ansatzes sogar hin, einem ausgereizten Dauerseller wie Vivaldis (1678-1741) Vier Jahreseiten eine ans Fremde grenzende Neuartigkeit zurückzugeben. Einer alten Tradition folgend, leitet der Geiger Gottfried von der Golz vom ersten Pult aus - eigenwillig virtuos und mit Instrumentalfarben, die Vivaldis barocke Naturmalerei in die Nähe eines klanglichen Expressionismus entrücken (DHM/BMG 05472 77384 2).

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