So berechtigt die Forderung nach Heiratsrecht für Lesben und Schwule auch ist, so lebensfremd im wahrsten Sinne des Wortes ist sie zugleich. Die Realität lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgender und sonstigen Lebens war schon immer sehr viel vielfältiger, als dass sie sich in das Korsett des Rechtsinstituts Ehe pressen ließe. Die Entwicklungen in jüngerer Zeit lassen immer deutlicher erkennen, dass auch diejenigen, die heterosexuelle Beziehungen bevorzugen, zunehmend weniger bereit sind, sich den Rahmenbedingungen, Folgewirkungen und nicht zuletzt auch den Eigendynamiken der Ehe zu unterwerfen.
Die Ehe ist heute schon längst nicht mehr die lebenslange und unkündbare Verbindung zwischen Mann und Frau; in den Großstädten ist sie seit geraumer
t geraumer Zeit nicht einmal mehr das dominierende Lebensmodell. Stattdessen ist eine Vielzahl neuer Familienformen entstanden. Es wächst die Zahl der sogenannten Patchwork-Familien, in denen es "meine", "deine" und "unsere" Kinder gibt. Man ist viel selbstverständlicher als je zuvor ganz bewusst auch ohne Trauschein zusammen. Man lebt hetero-, homo- oder bisexuell als Paar oder zu mehreren oder allein - entweder mit Kindern oder ohne. In der Regel hat man nicht mehr nur die eine Beziehung im Leben, sondern es folgen mehrere nacheinander. Oftmals sind die besten Freundinnen oder Freunde eine wichtigere Konstante im Leben als die Liebesbeziehung. Für all diese Konstellationen stehen bislang rechtlichen Regelungsmöglichkeiten zur Verfügung. Privatrechtliche Vereinbarungen finden ihre Grenze am geltenden Bundesrecht und sind daher keine Lösung.Die meisten Lesben und Schwule haben die überkommenen Rollenerwartungen und Leitbilder des Zusammenlebens für sich nie als passend empfunden. Da sie mit ihrer sexuellen Orientierung im Widerspruch zu den geltenden Normen stehen, ist deren kritische Hinterfragung und auch eine Distanzierung von diesen Normen für homosexuell Lebende einfacher als für Heterosexuelle. Für Lesben und Schwule war es immer eine offene Frage, wie ein Rechtssystem aussehen könnte, dass ihrer Lebenswirklichkeit adäquat ist.In heutiger Zeit ist es nicht mehr akzeptabel, dass die Gesetzgebung die verschiedenen, a priori jedoch gleichwertigen Lebensformen moralisierend bewertet. Die Art und Weise, wie Erwachsene selbstverantwortlich ihre Beziehungen leben, geht den Staat nichts an. Alle Formen des Zusammenlebens, die das Selbstbestimmungsrecht anderer nicht verletzen, haben Anspruch auf gleiche Möglichkeiten der rechtlichen Ausgestaltung. Dabei muss das Leben mit Kindern und/oder Pflegebedürftigen selbstverständlich in besonderer Weise - materiell und ideell - unterstützt werden.Bislang ist die Vielfalt der Lebensformen vom Gesetzgeber fast völlig ignoriert worden. Allein die Ehe wird als zwischenmenschliche Bindung anerkannt, positiv bewertet und materiell gefördert - unabhängig davon, ob Kinder betreut werden oder nicht. Demgegenüber werden andere Beziehungs- und Wohnformen durch diverse rechtliche Stolpersteine behindert.Der erste Schritt zur Gleichstellung aller Lebensweisen ist die Aufhebung der finanziellen Abhängigkeitsverhältnisse unter Erwachsenen, denn nur dann ist eine selbstbestimmte Wahl der Beziehungszusammenhänge möglich. So sind insbesondere die Unterhaltsverpflichtungen Erwachsener gegeneinander abzuschaffen. Dies erfordert einen Paradigmenwechsel im Sozial- und Steuerrecht. Jeder Mensch hat - unabhängig von den Beziehungen, in denen er lebt - Anspruch auf eine eigenständige Existenzsicherung. Ihm stehen Ansprüche auf Sozialhilfe (die perspektivisch durch eine soziale Grundsicherung abzulösen ist), Arbeitslosenhilfe und andere sozialrechtliche Leistungen eigenständig zu.In einem zweiten Schritt ist sicherzustellen, dass keines der denkbaren Beziehungsmuster zu Vorteilen oder zu Benachteiligungen gegenüber anderen führt. Hierzu müssen zum einen die ungerechtfertigten Privilegien der Ehe, wie z. B. das Ehegattensplitting, abgeschafft werden. Zum anderen müssen die Regelungen, die auch in heutiger Zeit sinnvoll sind, wie z. B. das Mitentscheidungsrecht im Krankheitsfall, das gemeinsame Sorgerecht und das Recht zur gemeinsamen Adoption, das Nachzugsrecht für PartnerInnen aus Nicht-EU-Staaten und das Zeugnisverweigerungsrecht allen Menschen unabhängig von ihrer Lebensform zugänglich gemacht werden. Jede und jeder soll selbst bestimmen können, welchen Menschen die einzelnen Rechte und Pflichten, die in Bezug auf die eigene Person wichtig sind, zuerkannt werden sollen. Dies kann innerhalb der Wahlfamilie durchaus auch unsymmetrisch verteilt sein. So kann jemand als Erbe benannt werden, der aber nicht zugleich auch das Mitentscheidungsrecht im Krankheitsfall bekommt.Damit gibt es kein rechtlich und finanziell vorgegebenes Muster des Zusammenlebens mehr, sondern jede und jeder kann sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Beziehungsnetzwerk, in dem sie oder er lebt, selbst gestalten.All dies ist im übrigen durchaus keine Utopie. So werden die schon lange geforderte Abschaffung des Ehegattensplittings oder die Mietrechtsreform sicher in absehbarer Zeit stattfinden.Christina Schenk, 48 Jahre, Diplom-Physikerin, offen lesbisch lebend, parteilos, Mitbegründerin des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV); Mitglied des Deutschen Bundestages: von 1990 bis 1994 für den UFV (in der Gruppe Bündnis90/Die Grünen), ab 1994 für die PDS.Siehe zu diesem Thema auch: