A–Z Viel Zeit bleibt nicht mehr! Weil eine böse Macht den Superhelden an den Abgrund zwingt oder der Klimawandel der Erde den Garaus macht. Das Last-Minute-Lexikon der Woche
Alternativlosigkeit Im politischen Diskurs herrscht allzu oft eine – angebliche – Alternativlosigkeit. Mit gutem Grund wurde der Begriff alternativlos daher 2010 zum Unwort des Jahres erklärt. Er gaukele vor, dass es keine Notwendigkeit zu einer Diskussion gebe, begründete die Jury. Flankiert wird das umstrittene Schlagwort oft von der vermeintlich letzten Chance, die man rasch, also ohne weitere Debatte, ergreifen müsse. Wie die Bauernfänger (➝ Verkaufen) wenden also auch Politiker gern rhetorische Druckmittel an, die einen Zeitmangel behaupten. Dabei greifen sie auf die religiös-philosophische Idee des altgriechischen Kairos zurück, dem günstigen Zeitpunkt der Entscheidung. Die Alles-oder-nichts-Rhetorik suggeriert Endgültigkeit
suggeriert Endgültigkeit und Ultima Ratio. Aktuelles Beispiel: Ministerpräsident Matteo Renzi bezeichnete sein Reformprogramm vergangene Woche als „die letzte Chance Italiens“. Tobias PrüwerBBewährung Die Rechtsprechung hat mit der Bewährungsstrafe die letzte Chance gewissermaßen institutionalisiert. Der verurteilte Täter muss nicht ins Gefängnis, sondern bekommt ein letztes Mal Gelegenheit, das Vertrauen, das die Gesellschaft in Gestalt des Richters in ihn setzt, zu rechtfertigen. Ein durchaus geschickter Zug, rückt es das Rechtssystem doch in ein gnädiges Licht. Die Voraussetzung für das Bewährungsprinzip ist freilich, dass eine Strafe nicht als Schutz der Gesellschaft verstanden wird, sondern in erster Linie als Maßregel und Abschreckungsmittel gegenüber dem Täter selbst.Ein besonders ausgefeiltes Bewährungsmodell gibt es in den USA, in Form des „Three-strikes law“. Nachdem ein Vergehen zweimal eher gering bestraft wurde, folgt beim dritten Mal, nachdem man also seine letzte Chance vertan hat, eine äußerst harte Sanktion. Benjamin KnödlerGGesetze Auch wenn Uli Hoeneß damit gewaltig scheiterte: Lange Zeit galt in Deutschland die Selbstanzeige für Steuerhinterzieher als letzte Chance, straffrei davonzukommen, bevor die Steuerfahndung aktiv wurde. Bei korrekter Selbstanzeige mussten lediglich die Steuern zuzüglich nicht allzu hoher Zinsen nachgezahlt werden. Viele wollten das dann als späte Läuterung verstanden wissen, meist waren es aber wohl eher kalte Füße, die zur Selbstbezichtigung führten.Nun haben Hinterzieher eine letzte Chance, dieses Schlupfloch noch so bequem zu nutzen. Denn ab 2015 wird die Regelung der strafbefreienden Selbstanzeige deutlich verschärft. Der Zinssatz auf hinterzogene Steuern steigt auf bis zu 20 Prozent, und die Verjährungsfrist wird von fünf auf zehn Jahre erhöht. Düstere Aussichten für all jene, die ihr Geld in diverse Steueroasen gebracht haben. Und das ist erst der Anfang. Denn ab 2016 wollen rund 60 Nationen – darunter fast alle bekannten Steuerfluchtländer – Informationen über Finanzkonten austauschen. Schwarzgeldkonten in der Schweiz oder auf den Cayman Islands blieben dem deutschen Staat so nicht länger verborgen, Steuerhinterziehung würde enorm erschwert. Benjamin KnödlerIInsolvenz Kann ein Schuldner seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen, muss er Insolvenz anmelden. Das kann die letzte Chance sein – oder das Endspiel. Knapp 26.000 Unternehmensinsolvenzen führt das Statistische Bundesamt für das Jahr 2013 auf. Die derzeit bekannteste Insolvenzanmelderin ist die AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry. Die Staatsanwaltschaft ermittelt im Zusammenhang mit Petrys Firma Purinvent, die Kunststoff zur Reifenverfüllung herstellt, wegen des Verdachts auf Insolvenzverschleppung. Einen Totalbankrott erlebte die Drogeriekette Schlecker, die 2012 aufgelöst wurde, während das Kaufhausunternehmen Karstadt noch auf einen neuen Investor hofft. Seit 1999 kann auch der Privatmensch eine Verbraucherinsolvenz anmelden. Nach einer entsprechenden Wohlverhaltensphase wird er von den Restschulden befreit. Jährlich greifen rund 100.000 Bundesbürger auf diese Möglichkeit zurück. Tobias PrüwerKKlima Die Erwartungen waren hoch beim Gipfel in Kopenhagen, die Ergebnisse unterirdisch. Das war vor fünf Jahren. Ist das Klima jetzt noch zu retten? In dieser Woche haben sich die Staats- und Regierungschefs der meisten Länder in New York getroffen, im kommenden Jahr soll in Paris ein internationales Abkommen beschlossen werden. Die letzte Chance ist das zwar hoffentlich noch nicht – aber ein weiteres Aussitzen kann sich die Politik trotzdem nicht leisten, denn die Situation ist dramatisch. Dass der Temperaturanstieg auf zwei Grad gegenüber vorindustriellem Niveau begrenzt wird, kann ohnehin niemand mehr ernsthaft glauben. Es läuft wohl auf drei bis fünf Grad hinaus, und das heißt: mehr Dürren, mehr Überschwemmungen. Davon besonders betroffen sind die Ärmsten der Armen. In den wohlhabenden Ländern lassen sich mit dem Klimaschutz nur wenig Wähler gewinnen. Felix WerdermannPPärchenstress „Gib mir eine letzte Chance, Schatz!“, lautet das in einen Satz gegossene Scheitern einer Beziehung. Oft kommt der Spruch im Verein mit dem Versprechen „Ich werde mich ändern!“ daher, besonders wenn es um Seitensprünge geht. Schade, dass es keine Statistik gibt, wie häufig eine solche letzte Chance dann auch gewährt wird. Auf Gedichtseiten im Netz wird die letzte Liebeschance in vielen leidenschaftlichen Zeilen beschworen, und Roger Sanchez landete 2001 mit dem Song Another Chance einen bis heute oft zitierten Hit. Zahlreiche Filme nehmen den Schwur als Aufhänger, und in der Reihe Letzte Chance für unsere Ehe schickte RTL sogar eine Nanny zu Paaren in der Krise. Auch die SAT1-Talkshow Britt machte den Pärchenstress zum Thema: „Liebes-Stopp: Gib mir noch eine letzte Chance!“ Britt half das jedoch nicht. Die Sendung ist inzwischen eingestellt. Tobias PrüwerSSartre Die letzte Chance heißt Jean-Paul Sartres letztes Buch aus seinem vierteiligen Romanzyklus Wege der Freiheit. Darin thematisiert er den Existenzialismus am Beispiel des persönlichen Engagements vor und während des französischen Vichy-Regimes. Verschiedene Formen der Freiheit probiert er durch, auch mit dem Kommunismus setzt er sich auseinander. Protagonisten sind der sozialistische Philosophielehrer Mathieu und eine Gruppe seiner Freunde. Deren verschiedene Lebenswege werden nachgezeichnet, ihr Handeln, die Frage nach Verantwortung und die Verstrickung in die Geschichte. Das Werk gilt als beispielhafte Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte um den Zweiten Weltkrieg. Sartre begann mit dem Zyklus 1939. Der Band „Die letzte Chance“ wurde 1949 angekündigt, die Fertigstellung gelang aber nicht. Posthum erschien er als Fragment. Tobias PrüwerSpätsommer Jedes Jahr aufs Neue befällt mich irgendwann dieses Gefühl, das mich mit leichter Melancholie erfüllt: Heute ist der letzte Sommertag. Am Badesee knistern schon die ersten herabgefallenen Blätter unter den Sandalen, abends ist es das letzte Mal so warm, dass man in der Dunkelheit noch im T-Shirt draußen sitzen kann. Ich nehme Abschied vom Sommer, versuche an schöne Winterdinge zu denken wie im Warmen Tee trinken und Spaziergänge in Schneelandschaften unternehmen.Doch bis es so weit ist, erfreue ich mich an der unvergleichlichen Schönheit des Spätsommers, der sich in den vergangenen Jahren oft bis Ende Oktober zog. Er beschert den noch nicht ganz gereiften Tomaten auf meinem Balkon noch ein paar wertvolle Sonnenstrahlen und lässt mich die Sommerkleider noch einmal aus der hinteren Ecke des Kleiderschranks hervorkramen, auch wenn ich abends eine Strickjacke überstreife. Der Spätsommer bringt die herrlichsten Früchte hervor, im Erntedankglanz leuchten Kürbisse, Mangold, Möhren und Zucchini von den Marktständen und schreien: „Iss uns, es ist deine letzte Chance vorm langen Winter!“ Ich erhöre sie. Sophia HoffmannSpannung Was geschieht, wenn man die letzte Chance ungenutzt lässt, will man sich lieber nicht vorstellen. Mit dem Gedanken an die letzte Chance geht immer auch eine gewisse Spannung einher, die durchaus nutzbar ist – etwa für Film und Fernsehen. So leben ganze Genres und Sendeformate von der Spannung. Nicht nur im Actionkino, sondern auch in Reality-Soaps, wenn es etwa darum geht, ob untreue Menschen vom betrogenen Partner eine zweite Chance erhalten (➝ Pärchenstress). Etliche Filmstoffe drehen sich um ausgefeilte Versuchsanordnungen der letzten Chance. Da gibt es die klassischen Superhelden, die über die gesamte Spielfilmlänge an nichts Geringerem arbeiten, als die letzte Chance zur Rettung der Welt zu nutzen. Noch dramatischer wird es, wenn im Zentrum ein Antiheld steht, einer, der es nicht gerade leicht hat. Die dramatische Höhe, die es zu überwinden gilt, ist dann logischerweise noch viel größer und das Publikum zittert mit, ob es ihm (oder ihr) wohl gelingen mag, die letzte Chance zu nutzen. Benjamin KnödlerVVerkaufen Manchmal scheint man als Konsument gar keine andere Wahl zu haben, als zuzuschlagen. Etwa wenn einem temporäre Schnäppchen angeboten werden. Ob nach dem Prinzip „4 für 3“, ob mit 80 Prozent Rabatt oder mit dem Versprechen auf ein geschenktes Startguthaben: Sonderangebote sind kurzlebig, da ist Impulsivität gefragt, nach dem Prinzip: „Jetzt oder nie!“ Auch im Fernsehen: Jede Dauerwerbesendung erreicht irgendwann den Punkt, an dem man durch sofortiges Anrufen irgendetwas gratis dazubekommt. So schlecht kann das offerierte Pfannenset gar nicht sein, als dass man sich das entgehen ließe. Räsonieren wird eiskalt bestraft. Kunden, die sich informieren, Preise vergleichen und Produktrezensionen lesen, müssen allzu oft ohne kostenlose Rezeptheftchen und Kartoffelschäler auskommen. Bei Call-in-Shows versinnbildlichen riesige, blinkende Countdowns das schmale Zeitfenster zum möglichen Glück. Damit es wirklich jeder versteht: Nur noch eine Minute! Die letzte Chance auf den Super-Jackpot! Ich werd verrückt! Jetzt müsste einem nur noch schnell ein verflixtes Tier mit drei Buchstaben einfallen. Florian BuchmayrZZeit Die Uhr tickt. Ja, heutzutage wird uns dauernd erzählt, dass es für alles eine bestimmte Zeit im Leben gebe. Wenn wir dieses oder jenes bis da – und dahin nicht erlebt haben, war’s das dann. Das ist freilich totaler Quatsch. Klar gibt es diese Listen, die „10 Dinge, die man getan haben sollte, bevor man 30 / 50 / 100 ist“ heißen. Aber die sollten höchstens als Motivation gegen festgefahrene Gewohnheiten und als Inspiration dienen statt als Dogmen.„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist zwar ein bekanntes Sprichwort, aber für jeden Beweis gibt es einen Gegenbeweis. Wenn Freunde um die 30 so tun, als wäre bereits alles gelaufen, macht mich das irrsinnig wütend. Tina Turner war über 40 und hatte eine beschissene Zeit hinter sich, als sie eine zweite internationale Karriere startete. In den USA heiratete kürzlich ein lesbisches Paar nach 72 Jahren Beziehung, beide Damen sitzen mittlerweile im Rollstuhl, und auch wenn sie lange auf diese Zeremonie warten mussten, zeigt sich: Für manche Dinge ist es eben nie zu spät.Wer geistig jung bleibt, dem steht jederzeit alles offen – oder wie es die sagenhafte New Yorker Moderedakteurin Diana Vreeland (1903 – 1989) formulierte: „I shall die very young. How young? Maybe 70, maybe 80, maybe 90. But I shall be very young!“ Sophia Hoffmann
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