Letzte Reise

Kehrseite I Der Schnee bedeckte unermüdlich den Beton und nahm das orange gedämpfte Licht der Straßenlampen in sich auf. Die Autos bewegten sich langsam und mit ...

Der Schnee bedeckte unermüdlich den Beton und nahm das orange gedämpfte Licht der Straßenlampen in sich auf. Die Autos bewegten sich langsam und mit selten gedrückten Geräuschen durch die unwirklich gewordene Stadt. Jede einzelne Flocke schien für ein Geräusch vorgesehen. Vereinzelt hörte man die Rufe der alltäglichen Morgenwelt in Form leise anspringender Autos und schläfriger Geräusche aufstehender Hausbewohner.

Die Beerdigung fand an einem frühen Morgen im Januar statt. Meine Mutter, die neben mir steht in ihrem schwarzen Kostüm, die Arme dicht an den Körper gepresst, hat getan, was man in diesem Fall von ihr erwartete. Mit betroffener Genugtuung ist sie bemüht, das Angemessene zu tun. Sie sieht mich an. Hinter der beherrschten Fassade ist ihre Ungeduld zu spüren. Ihr blasses, fragendes Gesicht und die dunklen Augen zucken zwischen den Anwesenden hin und her: Antilopenaugen.

Ich wandte mich wieder zum geschlossenen Sarg und dachte an seine wild wuchernden Brauen, deren weiße Haare bis in seine Augen hineinragten.

Ich war müde. Tief in meinen Knochen saß die lange angesammelte Müdigkeit vom Warten auf den Tod meines Vaters, die monatlichen Fahrten in die Kleinstadt, wenn ich ihn jedes Mal stummer und geschrumpfter vorfand, weil der Krebs die verdorrten Gänge der Prostata ausfüllte und seinen Unterleib in eine schmerzend weiche Masse verwandelte.

Die Familie hat die Kränze abgestellt. Große, spitz aus der Masse aufragende Mahnmale der Verwandtschaft bilden eine Mauer um das Grab. Ein paar Vögel stoßen winterliche Laute in die Luft, neben dem Zaun des Friedhofs liegt gestapeltes Holz. In meinem Gedächtnis spukt ein Gedicht:

Abends fragt er seine Mutter
heimlich nach dem Glockenläuten
wie er sich seine Tage deuten
und die Nacht bereiten soll.

Wie ein lästiger Ohrwurm weigert es sich, zu verschwinden. Das feuchte Taschentuch meiner Mutter ist fest zusammengeballt in der linken Hand.

In der Küche des Hauses liegt die Katze ausgestreckt auf den Fliesen. Ich öffne die Kühlschranktür. "Ich verstehe nicht, warum du die Jeans anziehen musstest", sagt meine Mutter, als sie in die Küche kommt.

Sie setzt sich auf das alte bezogene Sofa vor der Heizung, zieht ihre schwarzen hochhackigen Stiefel aus und stopft Zeitungen zwischen das durchnässte Leder.

"Es ist eine schwarze Jeans."

"Du hast doch jede Menge schwarzer Hosen im Schrank hängen. Ich hatte sie extra gebügelt."

Ich drehe mich genervt um. An den Abenden lag mein Vater oft auf dem Sofa, wertete den Sportteil der Zeitung aus und aß Minzschokolade.

Ich nehme ein Stück gefrorenes Fleisch in die Hand und drücke es, bis die Kälte tief eindringt - drücke, bis es brennt.

"Bloß nichts nach außen sickern lassen, nicht wahr?"

Meine Mutter erstarrt, hebt dann die Hand, um das Haar glatt zu streichen.

"Es ist nach drei, ich gehe den Kuchen holen." Sie steht auf, geht zur Tür und trägt die Katze in ihrem Arm. Ich gehe zu dem kleinen Gewächshaus und steige auf die Holzbohlen über dem warmen und feuchten Boden. Er liebte die Erde, den Mörtel, das Holz. In dem Werkzeugschuppen daneben riecht es nach altem Öl und Sägespänen. Im Laufe der Jahre war er mehr hier als drinnen, füllte ihn mit Gerätschaften und verbrachte die meiste Zeit in Distanz zu seinem selbstgebauten Haus. Wie ein Kind, das sich trotzig in einem Baumhaus versteckt.

Auf dem Tisch steht die Kreissäge, an der er zwei Finger verlor. Ich blase den Staub weg. Die Arbeitshose hängt an einem Haken an der Tür. Sie riecht nach verschimmeltem Holz und Gartenerde.

Wir standen damals an einem späten Nachmittag am Randes des Gartens, der in ein weites Feld mündet. Er hustete und antwortete wie beiläufig auf meine drängenden Fragen: "Drei Monate, vielleicht vier." Mein Vater ballte die Faust und hielt mit weißen Fingerknöcheln eine Zange in der Hand.

"Sieh mal, ich werde hier ein Stück anbauen, das Fensterglas steht schon dort drüben. Ich bräuchte nur noch einen guten Glaskleber."

Ich schwieg. Hinter seinem Kopf war der Himmel dunkel geworden wie das gebeizte Holz des Geräteschuppens.

Ein Luftzug nahe der Einbildung, ein kurzes Spüren der Fremdheit, die sich mühsam aus der Verschmelzung kämpft. Das Denken hört nicht auf. Und doch finde ich nicht mich darin. Dort, wo die Körper ineinander münden, hört die Erinnerung auf. Dein Blick zerschneidet die Wärme, die nur meine eigene ist. Die Unschuld der Wiederholung.

Meine Mutter schaut zu mir auf und fällt in sich zusammen. Meine Hände suchen ihre Schultern und streifen an ihren Armen entlang. Ich schiebe ihr das Haar hinter die Ohren und werde plötzlich wieder müde. Die Schollen auf dem kleinen Teich neben dem Haus verdichten sich und die Luft wird still und kalt. Wir hören das Eis knistern.

Jana Wuttke studierte Publizistik und Philosophie, arbeitet als freie Autorin sowie als redaktionelle Mitarbeiterin bei einer Rundfunkanstalt in Berlin.


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