Lionel Jospin beinhart

FRANKREICH Sakrosankte »35-Stunden-Woche« - die Linksregierung muß sich gegen die Blockade der Unternehmer und die Skepsis der Gewerkschaften behaupten

Die Meldung setzte Frankreichs Nachrichtenagentur mit einer Mischung aus sturer Chronistenpflicht und subtiler Ironie in die Welt: »Einigung über die 35-Stunden-Woche bei der Kassenvereinigung für Motorradfahrer - zwölf Arbeitsplätze geschaffen«. Mit kühler Routine gab Agence France Presse die frohe Botschaft mitleidlos der Lächerlichkeit preis. Die Einigung auf eine Verringerung der Arbeitszeit bei der Mutuelle des motards - einer Krankenkasse, die eine zusätzliche Risiko-Abdeckung für Motorradfahrer anbietet - sei nach einem halben Jahr Verhandlungen mit nicht weniger als drei Gewerkschaften erzielt worden. Ab 1. Juli würden die 190 Angestellten statt 38,5 Stunden 34,3 Wochenstunden arbeiten, bei gleichem Lohn, versteht sich. Ihre Geschäftszeiten verspreche die Krankenkasse zu verlängern, nicht zuletzt dank der Einstellung von zwölf neuen Mitarbeitern.

Die gesetzlich verordnete 35-Stunden-Woche ab 1. Januar 2000 - das Kernstück der aktiven Arbeitsmarktpolitik von Lionel Jospins Linksregierung - bleibt nach wie vor umstritten. Bei den Arbeitgebern natürlich, innerhalb der Pariser Regierung bei Wirtschafts- und Finanzminister Strauss-Kahn und nicht zuletzt auch bei den Gewerkschaften. Sie fürchten negative Folgen der Arbeitszeitverkürzung - weitere Rationalisierungen in den Betrieben und reale Kürzungen bei Mindestlohn-Empfängern, deren Stundenlohn gesetzlich festgelegt ist und deren Gehalt bei kürzerer Wochenarbeitszeit demzufolge sinkt. Vor allem aber sorgen sich die Gewerkschaften um ihre eigene Macht. Der Staat möge so wenig wie eben möglich eingreifen und nur die globalen Ziele der Arbeitszeitverkürzung festlegen, hat Marc Blondel, der Chef von Force Ouvrière (FO), verlangt - alles andere sollen die Tarifpartner aushandeln.

Genau zwei Jahre nach dem Antritt der Linksregierung zieht Arbeitsministerin Martine Aubry allerdings eine andere Bilanz und bereitet zudem einen zweiten, detaillierteren Gesetzentwurf zur 35-Stunden-Woche vor. Die Verkürzung der Arbeitszeit habe bereits 57.000 Arbeitsplätze geschaffen, sagt die Ministerin. Doch selbst der Regierung wohlgesonnene Ökonomen wie Jean-Paul Fitoussi korrigieren die Zahlen nun nach unten. Das Jobwunder komme nicht, zumindest nicht auf diesem Weg: Anstelle der insgesamt 480.000 Stellen, die innerhalb von drei Jahren durch die 35-Stunden-Woche entstehen sollen, könne man jetzt nur noch von der Hälfte ausgehen, also 240.000 Arbeitsplätzen. »Wenn man sich überlegt, daß ein Wachstum von drei Prozent etwa 350.000 Arbeitsplätze schafft, so ist das nicht enorm.«

Hintergrund der Zahlenkorrektur ist vor allem die Annahme, daß die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich die Kosten für einen Arbeitsplatz für die Unternehmer in die Höhe treibt und damit zu Umstrukturierungen und dem Verlust von vielleicht 200.000 Stellen führt. Hinzu käme noch: Von diversen staatlichen Begünstigungen bei Einführung der Arbeitszeitkappung profitieren eigentlich nur Unternehmen, denen innerhalb der EU gemeinhin keine Chancen mehr eingeräumt werden - etwa der arbeitsintensiven Textilindustrie.

Zweifelsfrei steht Frankreichs Ökonomie seit dem Regierungsantritt der Linken besser da als zur Zeit der konservativen Kabinette Balladur (1993-1995) und Juppé (1995-1997). Die Frage ist, inwieweit die heute freundlicheren Zahlen auf der Arbeitsmarktpolitik Jospins beruhen oder durch ein günstigeres Wirtschaftsklima befördert werden: ein, im EU-Maßstab noch überdurchschnittliches Wachstum, das reduzierte Haushaltsdefizit, ein spürbarer Rückgang der Beschäftigungslosigkeit, ein für französische Verhältnisse hoher privater Konsum und eine äußerst niedrige Inflation - mit 0,3 Prozent die niedrigste Teuerung seit 1957 - nicht eben ein Zeichen für eine voluntaristische Politik. Derzeit geht die Zahl der Arbeitslosen monatlich um rund 10.000 zurück, von 12,6 Prozent und weit über drei Millionen beim Antritt der Linksregierung Mitte 1997 auf heute 11,4 Prozent oder 2,84 Millionen. Damit liegt Frankreich aber immer noch über dem europäischen Durchschnitt.

Martine Aubry sieht hier den Erfolg ihrer nachfrageorientierten Politik, vor allem in der staatlichen Schaffung von Arbeitsplätzen für Jugendliche: 196.000 Stellen hat die rosa-rot-grüne Regierung vornehmlich im öffentlichen Dienst eingerichtet, was die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen unter 25 Jahren um 13 Prozent gedrückt hat. Die Maßnahmen des »Gesetzes gegen die soziale Ausgrenzung« haben auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen um etwa fünf Prozent sinken lassen. An den strukturellen Defiziten hat die aktive Arbeitsmarktpolitik indes wenig geändert. Die Jugendarbeitslosigkeit bleibt hoch - eine Folge des Schulsystems und der ungenügenden Möglichkeiten innerbetrieblicher Ausbildung. Die Privatwirtschaft hat bislang noch keinen nennenswertem Beitrag zu den emploi-jeunes, den staatlich geförderten Jugendarbeitsplätzen, geleistet. Zudem muß man sich vor Augen halten, wo der Großteil neuer Jobs entsteht. Seit 1993, also noch zu Beginn der konservativen Regierungsjahre, wächst im Grunde nur die Nachfrage nach geringer qualifizierter Arbeit im Dienstleistungssektor: Wartungs- und Reinigungspersonal (+33.000 Arbeitsplätze), Küchenpersonal (+14.000) oder Wachschutz (+29.000).

Doch wie auf anderen Politikfeldern auch glänzt Jospins Equipe durch ihre Kommunikationsfähigkeiten. Und sie geht sehr viel pragmatischer vor, als ihre Kritiker glauben machen. Keine Regierung hat in den vergangenen zehn Jahren mehr Unternehmen privatisiert - und dabei auch von den Einnahmen aus dem Verkauf profitiert - wie diese Linkskoalition. Télécom, Thomson, Air France, Aérospatiale, der Versicherungskonzern GAN, die Banken Crédit Foncier und Crédit Lyonnais - nicht einmal Jacques Chirac hat in seiner Zeit als Premier (1986-1988) mehr verkauft. Dem steht das Credo in der Arbeitsmarktpolitik gegenüber: keine Erleichterung für die Arbeitgeber ohne Gegenleistung. Die Parteigänger liberaler Marktorthodoxie lästern über die »bizarre Logik« der Regierung - gesetzliche Verordnung der 35-Stunden-Woche; Zuschüsse für Unternehmen, die unter diesen Umständen Bezieher von Niedrigeinkommen beschäftigen; dann wiederum Abgaben für Unternehmen mit mehr als 50 Millionen Francs Jahresumsatz und die geplante Ökosteuer. Die Mehrheit der Franzosen jedoch, die allergisch auf Allwissenheit in Fragen der Ökonomie reagiert, honoriert das Engagement von Jospin: Endlich eine Regierung, die sich mit der Wirtschaft anlegt.

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