Lotse über Bord

NATO Nach dem Rauswurf von General Stanley McChrystal und den erheblichen Verlusten im Juni dämmert der Allianz – der Abzugsbeginn 2011 könnte wackeln

NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen scheint nicht amüsiert, als er auf der Pressekonferenz im Brüsseler Hauptquartier erklären soll, weshalb es ein derart dürres Kommuniqué gab, als in Washington General McChrystal in den Ruhestand verlegt wurde. Doch was hätte man groß sagen sollen? Den Abgang des Oberkommandierenden in Afghanistan als großen Verlust würdigen? Durchhalteparolen verbreiten, wenn intern die Spekulation kursiert, der US-General habe seine skandalösen Äußerungen im Magazin Rolling Stone in der Absicht platziert, entlassen zu werden? Weil er den Krieg für verloren hält. Weil er als Militär dem politischen Druck nicht standhalten will, falls es Mitte 2011 den von Barack Obama versprochenen Auftakt zum Abzug nicht geben wird. Wollte der NATO-Generalsekretär der Wahrheit die Ehre geben, hätte das Kommuniqué noch spartanischer ausfallen und nur aus einem Satz bestehen sollen: Wir stellen mit Bedauern fest, dass trotz schwerer See der Loste von Bord gegangen ist.


Stanley McChrystal hatte Ende Oktober 2009 in Bratislava die NATO-Verteidigungsminister beschworen, es müsse eine neue Strategie geben, wofür er bürgen könne. Es müsse aber auch mehr Geld und mehr Personal geben, wofür sie sorgen müssten. Er zückte ein Argument, dem schwer zu entkommen war. Im Kosovo – und das dürfe man doch als Erfolgsgeschichte des Bündnisses abhaken – seien auf 1.000 Einwohner 24 ausländische Soldaten gekommen, in Afghanistan habe man eine Relation von 1.000 zu 2. Alle hatten verstanden und wollten sich dem Gebot nicht entziehen, 2010 die Truppen noch einmal um 40.000 Mann zu strecken – 30.000 Soldaten aus den USA, 10.000 aus Europa.

Was nach der Nötigung von Bratislava nie kolportiert wurde, da Verdrängung eine Königsdisziplin der westlichen Afghanistan-Krieger bleibt: McChrystal hatte im zweiten Teil seiner Lageskizze den unerlässlichen afghanischen Part eines möglichen NATO-Ausstieg ab 2011 benannt: eine Nationalarmee von 240.000 und ein Polizeikorps von 160.000 Mann. Von derartigen Margen waren diese Formationen Ende 2009 weit entfernt, doch wollten die NATO-Verteidigungsminister nicht übermäßig laut darüber reden. Das Manko einzuräumen, hätte bedeutet, noch mehr Personal schicken zu müssen, einige tausend Ausbilder nämlich, die sich um Hamid Karzais Armee und Polizei kümmern. Im September 2009 schätzte das NATO-Hauptquartier den Bedarf allein an zusätzlichen Polizei-Instrukteuren auf 2.300 bis 2.400. Die EU-Polizei-Mission in Afghanistan, die 2007 den Ausbildungsauftrag von Deutschland übernommen hatte, rekrutierte zu diesem Zeitpunkt lediglich 245 Mann.

Einschnürende Fristen

McChrystals Nachfolger David Petraeus kann Selbstbetrug nichts abgewinnen. Bei seinem ersten Briefing als Oberkommandierender in Kabul ließ er mehr als nur Zweifel am Abzugsbegehren durchschimmern. Erst nach diesem Sommer und nach den afghanischen Parlamentswahlen im September werde man über Exit-Szenarien reden können. Nur 30 bis 40 Prozent des Landes könnten als sicher eingestuft werden, nur auf einen Teil der afghanischen Sicherheitskräfte könne man sich verlassen, die Regierung Karzai sei weiterhin als „unproduktiv und verrufen“ bekannt, um so mehr könne es an der Strategie keine Abstriche geben.

Dieser Realo-Bellizismus dürfte der NATO kaum Mut zufächeln, nachdem sie gerade den verlustreichsten Monat seit Beginn ihrer Afghanistan-Präsenz im Januar 2002 verkraften musste. Im Juni 2010 kamen aus den verschiedenen Nationalkontingenten 99 Soldaten ums Leben, in den ersten sechs Monaten lag die Opferzahl bei 319 – im gesamten vergangenen Jahr waren 520 Tote zu beklagen. Der aus politischer Not geborene Schwur sowohl der US-Administration wie der europäischen NATO-Kombattanten, man werde 2010 alles tun, um 2011 gehen zu können, hat einer „Counterinsurgency“ den Boden entzogen, die nichts weniger verträgt als einschnürende Fristen. Jeder Gegner stellt sich darauf ein, erst recht die Aufstand erprobten Taliban. Da ihnen ein militärischer Triumph kaum möglich ist, wollen sie die politische Niederlage ihrer Gegner innerhalb und außerhalb Afghanistans beschleunigen. Und die wird sich nicht abwenden lassen, wenn die US-Strategie auch in einem Jahr noch einen flächendeckenden Befriedigungseffekt schuldig bleibt. Und damit ist wohl zu rechnen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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