Macht die Augen auf!

Gezi-Park Der Blick der Europäer auf die Türkei zeugt von Vorurteilen und Fehleinschätzungen. Das Schicksal des Landes sollte uns nicht kalt lassen. Sonst hat Europa keine Zukunft
Macht die Augen auf!

Foto: Aris Missinis/ AFP/ Getty Images

Das Model für den nahen Osten, die Fusion von Islam und Demokratie, die neue Führungsmacht im Nahen Osten – all das zerschellt an dem Konflikt um ein paar Bäume in Istanbul. 2002 ist die Türkei ins Jahrzehnt der Europäisierung aufgebrochen. Angekommen ist sie in einer polarisierten Tränengasdemokratie. Wie konnte es dazu kommen? Oder vielmehr: Haben wir uns jahrelang etwas vorgemacht?

Ein falsches Bild

Seit vielen Jahren dominieren in Deutschland Gegenüberstellungen und Kontrastierungen das Bild des Landes. Die Türkei sei gespalten zwischen religiös-konservativen und säkular-westlichen Gruppen, kemalistische Eliten und muslimischen Arbeitern, Europa trifft auf Anatolien, oben auf unten, Militär auf Polizei. Und über allem schwebt metaphorisch die Brücke über den Bosporus, die, je nach Lesart, verbindet oder trennt. Das Bild unten gegen oben stimmt jedoch schon lange nicht mehr. Genau das zeigen die Gezi-Proteste: Arbeiter nehmen daran ebenso teil wie Studenten und Menschen aus der Mittelschicht, revolutionäre Muslime und Homosexuellenverbände.

Die binären Unterscheidungen, in stiller Post weitergereicht von Meinungsartikel zu Meinungsartikel, sind Klischees. Und sie sind ein Zeichen von Denkfaulheit. Vor allem aber – und das macht sie so gefährlich – gehen diese Bilder der „Politik für die 50 Prozent auf den Leim, mit der die Teilung des Landes in Befürworter und Widersacher der Regierung bewusst vorangetrieben wird. Die andern 50 Prozent werden von der trürkischen Regierung derweil als Marionetten düsterer ausländischer Kräfte dargestellt, die versuchen das Land zu sabotieren. Eine mysteriöse Zins-Lobby, CNN, BBC und Reuters, das American Enterprise Institute, Twitter; sie alle müssen als Drahtzieher der Gezipark-Proteste herhalten. Zudem ist seit langem bekannt, dass die türkische Regierung ein eigenartiges Verständnis von Meinungsfreiheit hat. Exemplarisch dafür steht die sehr hohe Zahl inhaftierter Journalisten.

Keine Rücksicht mehr auf Liberale

Warum aber hat es so lange gedauert bis die westliche Öffentlichkeit und die Europäische Union aufhörten, an die Mär von der AKP als türkische CDU zu glauben? Zum einen sind es verständliche politische Reflexe, die allerdings auch von einem typisch deutschen Blick auf das Weltgeschehen zeugen. Das immer wieder putschende Militär und die Unterdrückung religiöser Freiheiten, die mit der türkischen Variante des Säkularismus einhergingen, widersprechen zu Recht unserem Freiheitsempfinden. Dass sich die AKP diesen Kräften entgegengestellte und zunächst auch viele liberale Unterstützer in ihren Kreisen hatte, mag erklären, warum sie als Hoffnungsträger gerade auch der EU galt. Doch mit jedem Jahr und jedem aus- beziehungsweise gleichgeschalteten innenpolitischen Gegner – Militär, Justiz, Presse – brauchte man die liberalen Mitglieder der ersten Stunde weniger. Anfang des Jahres sagte der AKP-Vorsitzende Istanbuls Aziz Babuşçu ganz offen, im zweiten Jahrzehnt ihrer Regierungszeit müsse man keine Rücksicht mehr auf die liberalen Unterstützer der ersten zehn Jahre nehmen.

Es gibt jedoch noch einen zweiten, aus deutscher und europäischer Perspektive weitaus unangenehmeren Grund. Die Türkei und die Türken dienen auch vierhundert Jahre nachdem sie Wien belagerten, noch als Bild des "Anderen“, von dem man sich abgrenzt. Das ist gerade in Deutschland so. Der offene Rassismus des Bestsellerautoren Thilo Sarrazin sticht nur durch seine explizite Ablehnung hervor.

Wie Putins Russland

Weitaus typischer und politisch korrekter ist da der nur wegen seiner Aktualität ausgewählte Kommentar Martin Winters in der Süddeutschen Zeitung. Winter tut die Eignung der Türkei für die EU unter anderem mit dem pauschalen Urteil ab, das Land sei autoritär geprägt. Hinter dieser Perspektive steht die Annahme, die Türkei sei grundsätzlich verschieden von uns – ob dieses "uns"nun Deutschland oder Europäische Union bedeutet – und die dortige Bevölkerung sei es gewohnt, von undemokratischen autokratischen Politikern beherrscht zu werden. Darin ähnelt der Blick auf die Türkei den Kommentaren, die Putin als den adäquaten Herrscher eines autoritätshörigen russischen Volkes darstellen oder gar den kaum drei Jahrzehnte alten Theorien der Unvereinbarkeit von südeuropäischem Katholizismus und Demokratie.

Wenn wir hingegen tatsächliche internationale Solidarität und eine nicht mehr auf das Nationale fixierte Politik wollen, dann kann uns das Schicksal der Türkei nicht kalt lassen. Mehr noch als im Umgang mit Regimes wie Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán entscheidet sich hier die künftige Gestalt des politischen Europa. Die außergewöhnlich scharfe Protestnote des Europaparlaments an Ankara ist da ein beeindruckender erster Schritt – auch wenn die türkische Regierung deswegen ihren Kurs nicht ändern wird. Am Ende hängt es von den mutigen Menschen ab, die in Istanbul und im ganzen Land auf die Straße gehen, sich nicht von der Staatsmacht einschüchtern zu lassen und weiterzumachen bis sich etwas zum Besseren ändert. Die offenen Foren, die sich seit der Zerschlagung der Gezipark-Proteste jeden Abend in allen Vierteln Istanbuls versammeln und Basisdemokratie üben, erinnern dabei an die Ursprünge und Grundsteine der europäischen Demokratie. Sie sind das ermutigendste Ergebnis der Proteste und der Schlüssel zu einer wirklich demokratischen Türkei.

Ole Frahm ist Politikwissenschaftler. Zur Zeit promoviert er an der Humboldt Universität Berlin. Er ist häufig in der Türkei, weil seine Frau aus Istanbul stammt

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