Jahrestage - so hat einmal jemand klug behauptet - seien die Herzschrittmacher des Kulturbetriebes. Aber braucht der das denn? Nun, in manchen Jahren kommt es immerhin besonders dicke, dann setzt es Extraschichten für die Hochkulturindustrie. 1956 muss so ein Jahr gewesen sein. Da beging man Freuds 100. Geburtstag, Mozarts 200., Rembrandts 350., Cäsar war 2.000 Jahre zuvor von den Messern seiner Mitstreiter zerfleischt worden, viel aktuellere Verletzungen rief aber der 100. Todestag Heinrich Heines wach. Von der "Wunde Heine" schrieb Adorno aus diesem Anlass. Vor allem dessen Lyrik schmerzte ihn, sei sie doch schnell "herabgezogen in die Sprache von Zeitung und Kommerz", in die Kulturindustrie also. Wäre weniger mehr gewesen?
Wolfgang Hildesheimer hingegen brach seine Lanze für einen sonst Vergessenen: "1956 - ein Pilzjahr" hieß ein Beitrag im Rahmen der Lieblosen Legenden. Am 12. September 1856 starb Gottlieb Theodor (sic!) Pilz, der bedeutendste - nicht Schöpfer, sondern Dämpfer der abendländischen Kultur. Sein Schaffen kommt in der "Nichtexistenz von Werken zum Ausdruck, Werken, die durch sein mutiges, opferbereites Dazwischentreten niemals entstanden sind" (Hildesheimer). Pilz, von dem selbst nur sieben Briefe zeugen, kannte fast alle großen Dichter und Musiker seiner Zeit und verhinderte durch geduldiges Zureden manches Drama, manche Sinfonie. Ihm ist es zu verdanken, wenn der Nachwelt viel erspart blieb. Dass er keine Schüler hinterlassen hat, bedauerte er selbst am meisten.
Dennoch gab es so manchen Laien-Pilz. Zu nennen ist da etwa Hegels Familie, die seinen Nachlass in einer Papiermühle entsorgte, oder Freud, der diese Aufgabe selbst übernahm, indem er in regelmäßigen Abständen seine alten Aufzeichnungen vernichtete. Adorno war in dieser Hinsicht ein fast völliger Fehlschlag. Die Archive sind voll von seinen Produktionen, jetzt zum 100. Geburtstag drängen sie ans Licht.
Mancher zweifelt: Will man wirklich wissen, dass die Wiesengrund-Adornos sich in der Familie mit Kosenamen aus dem Tierreich anredeten, wie die jetzt erschienen Briefe an die Eltern zeigen? Vom Radikalen zum Ridikülen scheint es da oft nicht weit. Wie viel Lebenszeit und Energie will man aufwenden, um im Einzelnen nachzuvollziehen, wie genau Adorno seine Wirkung und seinen literarischen Nachruhm plante: Auf über 750 Seiten Briefwechsel mit seinen Verlegern Suhrkamp und Unseld ist das jetzt immerhin möglich. Bezeichnend ist, dass im Zentrum der Hundertjahrseditionen nun das Persönliche steht, nicht das Werk im engeren Sinn. Das ist übrigens keine Kritik, weil die eigentlichen Editionen ja mit vorbildlicher Geschwindigkeit und Genauigkeit voranschreiten und man auch in Zukunft sich darum nicht sorgen muss. Eine Kritik ist das ohnehin nur für den, der glaubt, die Sache müsse im Vordergrund stehen, die Biographie sei für die Wahrheit, die sich im Werk ausdrücken soll, nebensächlich, vielleicht sogar diskriminierend.
Weil übrigens Adorno selbst zu denen gehörte, haben seine drei Biographen ein Problem: ein Leben nachzuzeichnen und doch so zu tun, als handele es sich um etwas ganz anderes. Stefan Müller-Doohm schreibt dann auch in seiner beeindruckend materialreichen 1000-Seiten-Arbeit Adorno. Eine Biographie, ihm sei es darum gegangen, die Interdependenz zwischen dem objektiven Gehalt des Werks und seinem geschichtlichen Ort herauszuarbeiten. Diese Selbstbeschreibung passt aber eher auf den Band von Detlev Claussen, der seinen Gegenstand immer wieder umkreist und dabei das Milieu, in das Adorno, der Mensch und Autor, gehörte, erfahrbar machen will. Seine Selbsteinschätzung aber lautet, er wolle mit seinem Buch die Texte von der sie überlagernden Schicht der Sekundärliteratur befreien und Adorno wieder selbst zum Sprechen bringen: Sekundärliteratur gegen die Sekundärliteratur, eine biographische Negation der Negation - zum Glück ein Selbstmissverständnis. Lorenz Jäger schließlich nennt seine Untersuchung der Adornoschen Lebensbezüge eine politische Biographie, wobei das Attribut "politisch" allenfalls passt, wenn man es direkt im Sinne der altgriechischen polis versteht, denn Adorno wird hier dargestellt als fest in die République des Lettres eingefügtes Mitglied der linken Intellektuellengesellschaft seiner Zeit. Auch wenn Jäger im Gegensatz zu den beiden anderen eher an der Demontage eines Heldenstandbilds arbeitet, zeigt sein Band doch, wie sehr Denken ein soziales Geschäft ist, etwas, das sich immer in Konstellationen mit anderen Zeitgenossen abspielt.
Claussen möchte seinen Autor gern ein Genie nennen. Weil er aber weiß, dass Adorno auch diesem Begriff skeptisch gegenüber gestanden hat, versucht er ihn gleichfalls im Zustand der Aufhebung zu benutzen - und nennt den Untertitel seines Buchs "Ein letztes Genie". Selbst das hat bei seinen Rezensenten einiges an Irritationen hervorgerufen, vor allem weil dann schnell der Name jenes anderen großen Frankfurters fallen muss, jenes Genies des Geniekults par excellence: der Goethes. Aber trennt man sich vom Klischee jenes Begriffs, der im Genie nur einen gottgleichen, unnachahmlichen Schöpfer atemberaubender Dinge sieht, ist der Vergleich gar nicht so abwegig. Genie, so definierte es Kant, sei die angeborne Gemütsanlage, durch die die Natur der Kunst die Regel gibt. Das Genie also ein Medium, durch das die Natur wirkt. Ersetzen wir, als sozialphilosophisch modernisierte Kinder des 20. (und 21.) Jahrhunderts "Natur" durch "Gesellschaft", dann wird das Genie zum Fokus, in dem sich eine Zeit selbst reflektiert. Für das 19. Jahrhundert war das Goethe, wie es sich in den Goethestraßen und -plätzen, den Goethebüsten und -biographien, den Bänden mit ausgewählter Korrespondenz und den Sentenzensammlungen zeigte. Ganz Ähnliches geschieht heute Adorno. Wie kein zweiter Denker des 20. Jahrhunderts wird er zum Gegenstand eines Kults; allein dass zu seinem 100. überhaupt drei Biographien erschienen sind, ist wohl rekordverdächtig, nicht gerechnet die zahlreichen Bildmonographien, Tagungen, Zeitungsartikel, Fernsehdokumentationen, Festveranstaltungen. In Frankfurt wird endlich ein Platz nach ihm benannt. Der Berliner Tagesspiegel druckte bis zum offiziellen Jahrestag wochenlang in jedem Feuilleton eine Adorno-Sentenz, aber da zeigt sich dann auch der Unterschied: Anders als die Goethe-Zitate eignen sich Adorno-Sätze selten für ein geflügeltes Wort. Schon ihre Syntax funktioniert nur durch den Anlauf, den der Leser in einem längeren Text nehmen kann. Und Goethe war natürlich der Olympier, der für ein gelungenes Leben stehen sollte. Adorno hingegen kommt aus Ithaca, das für die Heimat steht, in die der Emigrant Odysseus zurückkehrt. Er lebt die Brüche vor, wenn auch am Ende auf komfortable Weise. Adorno ist also zur zentralen Figur geworden, an dessen Biographie unsere Zeit ihre eigenen Biographien abarbeitet, die der Verehrer ebenso wie die, die unter ihm litten. Und dabei geht es manchem mit ihm, wie es Adorno mit Heine ging: Man nimmt es der Instanz übel, dass sie selbst nicht makellos ist.
Deshalb ist es auch gut so, dass nun alles gedruckt wird: Denn nur so werden Mythen verhindert. Adorno war eitel und inszenierte sich selbst? Eitelkeit ist eine Produktivkraft. Er rempelte Konkurrenten oft rücksichtslos zur Seite? Nun ja. Der Kritiker der Verdinglichung notiert seine sadomasochistischen Sexualerfahrungen? Sei´s drum. Wenn wir das nun ohne Häme zur Kenntnis nehmen können, ist es nicht nur heilsam, sondern sagt uns vielleicht auch etwas über die komplizierten Untergründe von Kreativität. Und auch wenn wir seine Entfremdungs- und Versöhnungsthesen nicht mehr teilen, kann man doch nach wie vor die subtilsten Beobachtungen und luzidesten Reflexionen bei ihm lesen. Das soll ihm erst mal einer nachmachen, dem Genie.
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