Mit der Demokratie an die Börse

Carlos Monsiváis und Sergio Pitol Notizen vom Zócalo in Mexiko-City

Carlos Monsiváis, einer der brillantesten Intellektuellen Mexikos, und Sergio Pitol, einer der wichtigsten Schriftsteller des Landes und diesjähriger Cervantes-Preisträger, sind die Verfasser der Rede Notizen vom Zócalo. Gehalten wurde sie auf der Kundgebung vor anderthalb Millionen Mexikanern, die mit dem linken Präsidentschaftskandidaten López Obrador am 16. Juli in Mexiko-City stattfand, um der Forderung nach einer Neuauszählung der Stimmen nach den Wahlen vom 2. Juli Nachdruck zu verleihen. Es handelte sich um die größte Mobilisierung in der Geschichte Mexikos. Wir dokumentieren Auszüge der Rede, die von Carlos Monsiváis auf dem Zócalo vorgetragen wurde.

Der Kampf um Demokratie ist ein andauernder Prozess. In diesem Fall gilt es, die Wählerstimmen und Wähler zu verteidigen - alle und ohne Ausnahme. Unsere Sache ist es, kurz-, mittel- und langfristig die Demokratie aufzubauen. Diese Demonstration ist ein Teil davon.

Die Schirmherren des Wahlbetrugs im "Ameisen-Stil" (die Computer gesteuerte Nachzählung der Stimmen, bei der ein stetiges Ansteigen der Wähler für Calderón und kein Stillstand oder Rückgang der Kurve zu beobachten war, hat zu diesem ironischen Begriff für die Nachzählung geführt - die Red.), von denen die Kampagne "López Obrador - eine Gefahr für Mexiko" im Namen der freien Meinungsäußerung losgetreten wurde, stellen auch ihre Klassenmentalität zur Schau. Wenn ein Präsidentschaftskandidat eine Gefahr für Mexiko darstellt, gilt das auch für die, die ihn in großer Zahl gewählt haben. Man setzt auf Verachtung, und man teilt das Land. Wenn ein großer Teil der Wähler zur "Gefahr für Mexiko" erklärt wird, fördert man nicht nur die Polarisierung - man führt sie überhaupt erst ein. Davon abgesehen, sollte man weniger über ein geteiltes Land als über das Umfeld einer extremen Einkommenskonzentration sprechen. Die Rechte würde feiern, könnte man Demokratie an der Börse handeln. Das ist der große Streitpunkt: Demokratie, zu der alle Zugang haben, oder Demokratie zum Goldpreis mit einem unerschöpflichen Arbeitsreservoir als Zugabe. Dazu haben wir einen utopischen Vorschlag: einen künftigen Mindestlohn für jeden Arbeiter in Mexiko, der dem Gehalt des Präsidenten des Bundeswahlamtes (IFE), Juan Carlos Ugalde, entspricht.

In der Politik ist das Gegenteil von Hass nicht Liebe, das edelste Gefühl außerhalb der heiligen Konsumwelt, das keinen Platz hat auf dem Markt. Das Gegenteil von Hass in der Politik ist vielmehr die systematische Ausübung von Vernunft.

Wenn wir also die Rechte sagen, meinen wir damit in keiner Weise alle Wähler Felipe Calderóns. Doch wir sagen auch, der Wahlkampf-Club bildet eine Rechte, die verstärkt als Kriegsfürst auftrat. Es ist nicht an uns, die Gründe für die Wahlentscheidung der Gegenseite zu ermitteln, aber wir respektieren sie, und dieselbe Haltung sehen wir bei den Wählern López Obradors und seiner Allianz zum Wohl aller. Um so mehr überrascht die enorme Aggressivität aus dem Kreis um Calderón - etwa, wenn im Internet daran festgehalten wird, unseren Kandidaten lynchen zu wollen. Glauben Sie wirklich, dass sich mit Verleumdungen die Zweifel um die Nachzählung der Stimmen einfach zerstreuen lassen?

Wir wollen und brauchen keine Gewalt, wir räumen ihr keinen Platz ein. Mit dem Ruf, López Obrador bezwingen zu wollen, wurde Gewalt zur Haltung und zum Instrument der Rechten, in Form von ideologischer Gewalt, von Lügen, von Verleumdungen, Diffamierungen und von Wahlbetrug im "Ameisenstil". Von unserer Seite gibt es dazu kritische Antworten, die manchmal übertrieben ideologisch oder ganz offen dumm sind. Doch als Ganzes sind sie in ihrer Giftigkeit nicht annähernd mit dem vergleichbar, was man in den Radio- und TV-Spots der Partei der Nationalen Aktion (PAN) Calderóns und des Unternehmertums hören oder sehen kann. Hunderte oder Tausende Millionen Pesos werden investiert, um schmachvoll die Macht zu behalten. Darin zeigt sich die Gewaltausübung des Großkapitals über die Bürgerrechte.

Wenn die Geldströme darüber entscheiden, wer regiert, dann gehorcht diese Regierung den Geldströmen. Wer so gewinnen will, wird ohne Zweifel auch so regieren wollen.

Die Vorkommnisse dieser Tage zwingen dazu, das Recht der Wähler zu verteidigen. Von da aus treiben weite Kreise der mexikanischen Gesellschaft - und das ist keine Prophezeiung, sondern tägliche Bestätigung - eine kritische Mobilisierung voran, weil sie wollen, dass ihr Handeln auf Dauer Resonanz findet. Die Wahlkampagne 2006 erlaubte es nicht, eine Debatte über die ökologische Tragödie zu führen - über die Bildungskatastrophe, die Arbeitsplatzbeschaffung, soziale Unsicherheit, über den anti-indianischen Rassismus, über Sexismus, die Lohnbedingungen, religiöse Intoleranz, Homophobie, über die Praxis, dass die politische Klasse und das Großkapital straflos ausgehen. Das lässt sich nicht unendlich hinten anstellen. Heute steht eines an: "Stimme für Stimme, Urne für Urne!"


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