Moment der Wahrheit

Wendemarke Nordafrika ist im Umbruch und Europa ­zittert: Wollen die etwa zu uns? Jetzt ist der Zeitpunkt, die Ära der Heuchelei zu beenden

Hoppala! Jetzt wird es aber eng für uns Europäer. Aufstand der Massen in den arabischen Staaten, allgemeines Despotensterben, unklare Perspektiven für die nähere Zukunft hüben wie drüben. Woher kriegen wir jetzt unser tägliches Öl? Und dann: Tausende verlassen ihre vom Freiheitskampf erschütterten Heimatländer. Wollen die jetzt etwa alle zu uns?

In der EU-Zentrale herrscht wochenlang Ratlosigkeit, in den Mitgliedsländern am Mittelmeer offene Panik. Während noch in Kairo, Tunis und Tripolis demonstriert und gestorben wird, beschwört der italienische Innenminister bereits die „humanitäre Katastrophe“, die seinem Land angeblich durch den bevorstehenden „Exodus biblischen Ausmaßes“ drohe. Klar, dass die Europäische Union vergleichsweise schnell nur eine Antwort findet: Sie setzt die Abwehr-Spezialisten der Frontex-Grenzpolizei in Marsch, um unsere gemeinsame Südgrenze „zu schützen“.

Die Opfer liegen auf dem Meeresgrund

Nun war eine solche Reaktion angesichts des Umsturzes bei unseren südlichen Nachbarn an peinlicher Kleinkrämerei kaum zu übertreffen, überraschen konnte sie jedoch nicht. Denn die Verhältnisse rund um die Wohlstands-Festung Europa haben sich seit geraumer Zeit zugespitzt. „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis“, wissen wir von Paul Tillich. Auch von den Verhältnissen an den EU-Außengrenzen lässt sich vieles lernen.

Dort ist über die vergangenen Jahre eine Praxis eingerissen, die den tausendfachen Tod von Flüchtlingen und Migranten zumindest in Kauf nahm, wenn nicht sogar aktiv betrieb. Etliche Dramen von wackligen Booten, deren Passagiere man sehenden Auges ertrinken oder verdursten ließ, einfach weil keine Behörde sich „zuständig“ fühlen wollte, sind dokumentiert. Zahlreiche andere haben sich im Dunkel der Nacht abgespielt. Die Opfer liegen auf dem Meeresgrund, und den Fischern in diesen Zonen des Todes bleibt nichts anderes, als die entsprechenden Stellen auf ihren Navigationscomputern mit Totenkopfsymbolen zu kennzeichnen, wollen sie nicht immer wieder auch menschliche Überreste in ihren Netzen finden.

Rings ums Mittelmeer, dem liebsten Badegewässer der Europäer, sind die Friedhöfe gewachsen, in denen die angespülten Leichen bestattet oder auch nur verscharrt werden. Die europäische Öffentlichkeit hat lange weggesehen. Und ausgerechnet der wahnsinnige Despot von Tripolis wurde zum Verbündeten der EU, die gewaltige Geldsummen zahlte, damit potenzielle Bootsflüchtlinge in libyschen Foltercamps verschwinden.

Auf welcher Seite stehen wir wirklich?

So ist nun eine Situation entstanden, in der im Kugelhagel der von uns ausgerüsteten Regimes Menschen sterben, die für jene „europäischen Werte“ auf die Straße gehen, die wir selbst weitgehend verraten haben. Ist es nicht so, dass wir traditionell brutale Despoten-Clans schmieren, um uns ungestört an den Ressourcen der von ihnen niedergehaltenen Länder bedienen zu können? Dass wir den bereits erwähnten Regimes noch einmal einen Extra-Bonus dafür zahlen, dass sie die verarmten Massen daran hindern, sich auf der Suche nach (Über-)Lebenschancen etwa auf den Weg in Richtung Norden zu machen?

In unserer Nachbarschaft erheben sich die Massen im Namen von Menschenrechten, Freiheit und Demokratie. Dieser mutige Kampf verlangt unsere Unterstützung. Es ist eine historisch einmalige Chance, gemeinsam an einer gerechteren und friedlicheren Welt zu bauen: mit Lebens- und Zukunftschancen für jeden Menschen, der „frei und gleich an Würde und Rechten“ geboren ist. So steht es in der UN-Deklaration der Menschenrechte.

Auch wenn es manche von uns immer noch nicht wahrhaben möchten: Wir driften – alle gemeinsam – unaufhaltsam auf eine epochale Wendemarke zu. Die Entwicklungen jenseits des Mittelmeeres läuten auch für Europa einen Moment der Wahrheit ein. Jetzt muss sich erweisen: Auf welcher Seite stehen wir wirklich? Werden wir die moralische und politische Kraft haben, den Wandel mitzugestalten, oder obsiegen (vorerst) noch einmal Trägheit, diffuse Ängste und jenes miese alte Spiel, von dem wir doch eigentlich alle wissen, dass es ausgespielt ist. Sollte uns tatsächlich nichts Besseres einfallen?

30 Millionen Zuwanderer gebraucht

Ob es ein „Marshallplan“ ist, wie ihn Ex-Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul fordert, oder ein anderes, aufrichtiges Angebot, die Handels- und Nachbarschaftverhältnisse auf eine neue, faire Basis zu stellen: Vergeuden wir keine Zeit, den neuen Demokratien zu beweisen, dass auch wir bereit sind, das Zeitalter von Gewalt, Kolonialismus und Heuchelei hinter uns zu lassen. Schließlich liegen große Aufgaben vor uns – beispielsweise die Folgen des Klimawandels, die wir nur in globaler Partnerschaft bewältigen können.

Wenn wir uns jetzt der Verantwortung stellen, sichern wir damit auch die eigene Zukunft. Das gilt gerade für die angstbesetzte Migrations-Frage. Nur zur Erinnerung: Das geburtenschwache Europa wird nach einhelliger Expertenmeinung in den nächsten drei Jahrzehnten mindestens 30 Millionen Zuwanderer brauchen.

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