My form is myself: Chris Kraus in Weimar

Gespräch Ihr Briefroman "I love Dick" ist ein internationaler Bestseller. Auf der Bühne wird er zum Sprach- und Leseereignis

Eine mit LKW-Plane überdachte Werkstatt im Süden Berlins, vier Männer stehen im Halbkreis um einen tiefergelegten VW herum, ein Junge auf Krücken beobachtet sie. Aus dem Hinterraum wird mir ein schmaler Buchumschlag gereicht. Natürlich habe ich I Love Dick im Internet bestellt, lasse mir Chris Kraus’ Briefe zuschicken. Dass ihr Roman den kleinen Umweg über diese Szene in der Autowerkstatt nehmen muss, scheint der Ironie des Romans folgen. Schon während sie geschrieben werden, legen Chris Briefe viele solcher Wege zurück, und haben es schließlich gar nicht mehr nötig, ihren Empfänger zu erreichen.

So wandert das Buch durch Posts, Blogs und Interviews und hat zuletzt als Amazon-Serie ein beachtliches Publikum erreicht. Auf Instagram zirkulieren Selfies, auf denen sich hauptsächlich junge Mädchen mit dem Buch inszenieren und identifizieren. Die deutsche Übersetzung von I Love Dick ist im Frühjahr bei Mattes & Seitz erschienen und wird bereits als Schlüsseltext feministischer Literatur diskutiert. Dass die Autorin Chris Kraus trotz dieses Sprungs in die breitere Bekanntheit auch den peripheren Plattformen treu bleibt, hat sich letzten Montag in Weimar gezeigt. Dort sprach sie mit dem amerikanischen Science-Fiction Autor und Kulturkritiker Mark von Schlegell, sowie der Medienwissenschaftlerin Isabel Mehl und dem Literaturwissenschaftler Christian Steinau über die hybride Form ihres Romans I love Dick. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Literaturfestivals wucherungen.txt 2017 und in Zusammenarbeit mit der DFG-Forschergruppe Medien und Mimesis der Bauhaus-Universität Weimar statt.

I Love Dick ist eine Sammlung unzähliger Briefe, die die erfolglose Filmemacherin Chris Kraus an den Autoren und Intellektuellen Dick Hebdige gerichtet hat. Nach einem Abend, den Chris und ihr Ehemann Sylvère Lotringer, seines Zeichens Herausgeber von Semiotext(e), einer Buchreihe, die französisches Denken mit amerikanischer Avantgarde vereint, mit Dick verbringen, entwickelt sie eine leidenschaftliche Obsession für den stilisierten Kultur-Cowboy. Sie beginnt, noch gemeinsam mit Sylvère, an Dick gerichtete Liebesbriefe zu verfassen. Dieses Schreiben verdichtet sich im Prozess zu einem emanzipativen Schreibakt und löst sich immer mehr von der Bindung an ihren Adressaten. Vielmehr reflektiert sie in ihren Briefen, was es bedeutet als Frau im Kunstbetrieb zu sprechen und zu schreiben, Filme zu machen, sich ein Medium für weibliches Begehren zu erarbeiten. Denn was jenseits der Obsession – zwischen den Zeilen – aufflammt, ist nichts Geringeres als eine Schreibinszenierung feministischer Kunstkritik, mit dem Ziel, festgeschriebene Geschlechts- und Genrekategorien zugunsten einer offenen poetischen Form zu überschreiten.

Zum ersten Mal von einem Mann verkörpert


Doch I love Dick präsentiert sich in an diesem Abend in Weimar nicht nur als ein Schreibereignis, sondern auch als ein Leseereignis. Zum einen beschreibt Chris Kraus wie sie als Leserin imaginierter Bücher Dicks einen Weg gefunden hat, sich eine entgleitende Figur anzueignen und dessen Hoheit über das geschriebene Wort zur Disposition zu stellen. Dazu werden drei Passagen von dem Sprecher und Schauspieler Denis Abrahams vorgetragen, die jeweils für eine unterschiedliche Phase in Chris’ Schreibbewegung stehen, so dass sich Lesung und Podium abwechseln. Die drei Szenen setzen ein, als Chris eine Reise von Kalifornien nach New York antritt. Unterwegs entwickeln sich ihre Texte immer mehr zu einem tagebuchartigen Projekt anstatt die tatsächliche Reise zu ihrem Empfänger anzutreten. Die Schilderungen ihrer Sehnsucht verlieren ihr Gewicht und weichen kritischen und theoretischen Passagen zu Künstler*innen Ausstellungen und zur Schizophrenie, je weiter Chris sich von ihrem Ausgangsort und ihrer Ausdruckslosigkeit entfernt. Die Dynamiken des Reisens und des Schreibens verbinden sich zu einem immer kraftvolleren Ausdruck. Sobald Chris unterwegs ist, gelingt es ihr, ein geschriebenes „Ich“ zu entwickeln, das mit dem Inhalt des Geschriebenen zusammenfließt. Ihr Schreiben sei eine Kartographie der Bewegung des Selbst, ist in einem der Briefe zu lesen. Diese Mobilität spricht aus den Texten heraus, denn Chris Kraus verfasst die Briefpassagen unterwegs auf amerikanischen Highways, im Auto, in Motels und noch Jahre später hat sie die Briefe wie Beweisstücke mit sich herumgetragen, erzählt sie.

Diese Beweise, die für Chris Kraus Elemente einer Fallstudie, eines Phänomens darstellen, werden an diesem Abend mit auf das Podium gestellt. Denn Denis Abrahams entlarvend selbstbewusste Aneignung der schreibenden Protagonistin führt die teils hilflose Ironie vor, in die sich Chris Kraus in ihren Briefen stürzt: „Ich will nach Guatemala-Stadt fliegen. Dick, Guatemala und du, für mich verkörpert ihr zwei Fluchtmöglichkeiten. Weil ihr beide historische Katastrophen seid?“ Dass Chris an diesem Abend zum ersten Mal öffentlich von einer Männerstimme präsentiert wird, wirft natürlich einige Fragen des Buches erneut auf. „Wer darf sprechen und warum?“, ist eine der Schlüsselfragen, die Chris in einem ihrer Briefe notiert. Ebensosehr ließe sich fragen: Wer wird gelesen und von wem? Diese Frage hallt heute, 20 Jahren nach dem Erscheinen des Buches und seiner wachsenden Verbreitung laut in dem Raum hinein, wenn die emanzipatorische Kraft einer weiblichen Ironie vielleicht besonders in Momenten der männlichen Interpretation ihren Sog entfaltet.



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