Die Nacht ist das Großartigste, was es gibt. Gleich nach der Liebe wohnt sie ganz weit oben auf dem Olymp der Dichtung. Der Tag ist die Normalität schlechthin, also kaum der Rede wert. Oder kennt irgend jemand eine Hymne auf den Tag? Hymnen auf die Nacht hingegen, die gibt es im Überfluss, und jeder Dichter, der beweisen will, dass er sein Handwerk wirklich versteht, besingt die Nacht, die "heilige, unaussprechliche, geheimnisvolle", so wie Novalis.
Nachts zu arbeiten, das erscheint wahren Nachtschwärmern als etwas ganz Besonderes, ein Privileg oder Abenteuer, das nur wenigen vergönnt ist. Liest man die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Chronobiologie, die biologische Rhythmen des menschlichen Körpers untersucht, verblassen mit einem Mal die romantis
Mal die romantischen Farben der Nacht, und ihre Schattenseiten kommen zum Vorschein: Die schrecklichsten Katastrophen ereignen sich zwischen drei und fünf Uhr in der Nacht, wenn die "innere Uhr" des Menschen den Tiefpunkt der Konzentration anzeigt. Die Unfälle von Tschernobyl und Three Mile Islands oder der Untergang der Titanic werden von Schlafforschern auf das Versagen des Körpers um diese Uhrzeit zurückgeführt. Nie ist das Verletzungs- und Unfallrisiko so hoch wie nachts, Schlafstörungen, Magen-, Darm-, Herz- und Kreislauf-Beschwerden sind erwiesenermaßen die Folge von Schlafentzug.Die Nacht sollte also eigentlich zum Schlafen da sein. Unsere moderne 24-Stunden-Gesellschaft, in der absolute Flexibilität, größtmögliche Produktivität und Service non-stop oberste Gebote sind, lässt das aber nicht immer zu. Für immer mehr Menschen wird es normal, auch nachts zu arbeiten ...Warum ich nachts arbeite? Aus purer Notwendigkeit, sagt Nikolai Abrosimov mit einem jungenhaft-verschmitzten Lächeln, das alle wildwuchernden Schwärmereien Lügen straft. Er streicht sich kurz über seinen schon leicht ergrauten Schnurrbart und betritt seinen nächtlichen Wirkungsort durch eine schwere Tür mit Luke, die in eine große, moderne Halle mit Industrieflair führt. Es ist einer der Räume des wissenschaftlichen Zentrums in Berlin-Adlershof. Jeden Tag kommt Nikolai Abrosimov aus dem 15 Kilometer entfernten Marzahn hierher, manchmal morgens, manchmal auch abends. Nikolai Abrosimov ist Physiker, genauer: Kristallograph. Seit rund acht Jahren arbeitet der russische Forscher in Berlin-Adlershof am Institut für Kristallzüchtung. Dort hat er eine neuartige Methode der Kristallzüchtung entwickelt: Er züchtet Mischkristalle, die vor allem in modernen physikalischen Instrumenten eingesetzt werden können. Vor acht Jahren hat er einen dieser besonderen Kristalle zum ersten Mal wachsen lassen und seine besonderen Eigenschaften untersucht und beschrieben. Wem oder wozu die aber genau nutzen könnten, das war lange unklar. Eine Idee ohne Anwendung. Als das französische Wissenschaftszentrum CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) plante, ein Gammastrahlen-Teleskop zu entwickeln, um die Entstehung von Sternen im Krebsnebel der Supernova - der Explosion eines Sterns - beobachten zu können, gingen die französischen Wissenschaftler auf die Suche nach den passenden Kristallen für ihr hochkomplexes Gerät. Abrosimov erfuhr von dem Vorhaben und wusste: Er konnte diese Kristalle anbieten. Seither hat sich sein Lebensrhythmus verschoben und auf viele Nachtschichten eingestellt. Denn der Züchtungsprozess eines Kristalls dauert 30 Stunden, in denen das Wachstum genau kontrolliert und beobachtet werden muss. Die Kristalle müssen eine besondere Struktur aufweisen, um eingesetzt werden zu können.Unter einem künstlichen Kristall stellt man sich als Laie ein bizarres Gebilde vor, ähnlich einem Bergkristall vielleicht. Kristall klingt nach Ewigkeit, und die wiederum bewegt sich nicht schnell. Solch ein Gebilde wachsen zu sehen, das scheint ähnlich unwahrscheinlich wie Gras wachsen zu hören. Abrosimovs Kristalle sehen ganz anders aus, gar nicht wie Edelsteine, eher wie Metall. Nicht bizarr, sondern glatt und glänzend. Und sie wachsen so schnell, dass man ihnen dabei zusehen kann. Die Maschine, in der sie entstehen, mutet von außen an wie eine U-Boot-Kabine samt Bullauge, von innen wie ein Schmelzofen, in dem bei circa 950 Grad Celsius aus einem flüssigen Silicium-Germanium-Gemisch der Kristall gezogen wird, fast wie Glas. Der Kristall hängt an einer Wägezelle und dreht sich um seine eigene Achse, dreißig Stunden lang, bis er circa 150 Millimeter lang ist und sein Durchmesser 36 Millimeter beträgt.Ausgerechnet heute läuft es irgendwie nicht so glatt, wie es soll. Nikolai ist ein wenig unruhig und beobachtet seine beiden Monitore. Die Kurven auf den Bildschirmen zeigen, dass sich der Kristall nicht in der Form entwickelt, die er haben sollte. Perfektion ist angesagt. Eigentlich sollte das Computer-Steuerungsprogramm den Züchtungsprozess vollautomatisch durchführen. Dann wächst der Kristall von allein, und Abrosimov muss ihm nur dabei zusehen und darauf achten, dass alles nach Plan verläuft. Aber das Programm trifft eben manchmal auch die falschen Entscheidungen und dann muss der Physiker eingreifen, zum Beispiel die Wärmeleistung des Schmelzofens erhöhen. Das Computerprogramm hat er gemeinsam mit einem russischen Softwarespezialisten Mitte der neunziger Jahre entwickelt. Ohne dieses russische Know-how würden in Adlershof nicht solche Kristalle gezüchtet und verkauft werden, wie das zum Stolz des Instituts heute möglich ist. Interesse an diesen Produkten haben auch schon die Forscher von der Internationalen Raumfahrtstation ISS angemeldet.Nikolai steht vor seinen Monitoren. Heute Nacht hat er Unterstützung von Vladimir Kurlov, einem Physiker aus Russland, genauer, aus Chernogolovka, der Heimatstadt des weltberühmten Instituts für Festkörperphysik bei Moskau, an dem auch Nikolai nach seinem Studium in Nizhnij Novgorod gearbeitet hat. Es ist ihm gelungen, seinen Kollegen für einige Monate hierher einladen zu können, um an seinem Projekt mitzuarbeiten. Nikolai selbst ist vor acht Jahren nach Berlin gekommen. Er ist froh über den personellen Zuwachs, denn so kann er sich zwischendurch kurz auf seiner Couch im Arbeitsraum gegenüber ausruhen. Wenn er allein Nachtschicht machen würde, ist er die ganzen dreißig Stunden auf den Beinen, ohne ein Auge zumachen zu können. In seiner Abteilung gibt es niemanden außer ihm, der den Entstehungsprozess eines dieser Kristalle von Anfang bis Ende so durchführen kann, wie Nikolai. Er ist der eigentliche und einzige Vater dieser Kristalle, und das macht ihn auch ein klein wenig stolz.Adlershof wird zum Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort ausgebaut. Das Institut für Kristallzüchtung, eines der Institute der Wissenschaftsgemeinde Gottfried Wilhelm Leibniz, ist bereits fertig gestellt, während der Weg von der S-Bahn dorthin über mehrere Baustellen führt. Auf dem ehemals militärisch genutzten Gelände entstehen nun moderne Industriegebäude mit aufwändigen Glasfassaden, Gewerbeeinrichtungen kündigen sich auf großflächigen Plakaten an, der Medienstandort Adlershof hat seine Tore bereits geöffnet. Nachts wirkt das Gebiet hingegen sehr verlassen und ausgestorben, fast ein wenig unheimlich. Natürlich ist das Gebäude bewacht, und Abrosimov fühlt sich in der dunklen und stillen Umgebung nicht unsicher. Im Gegenteil, die Ruhe der Nacht schätzt er für die Arbeit. Konzentration ist wichtig. Früher hat er sich vorgestellt, während der Nachtschichten zum Beispiel an seinen Artikeln zu schreiben. Mittlerweile, nach Jahren der Arbeitsroutine, ist er schon zufrieden, wenn er ab und zu einen Blick in die Zeitung werfen kann. Zu mehr kommt er auch in ruhigen Nächten nicht, in denen es sogar ein bisschen langweilig werden kann. Aber das ist ihm lieber, als die arbeitsintensiven Nächte, die ihm vor allem die Kristalle bereiten, die nicht so wachsen wollen wie gewünscht.Die Entstehung eines Kristalls gleicht ein wenig einer Geburt. Sie ist kompliziert, auch wenn alles ganz einfach aussieht. Vor unerwarteten Überraschungen ist Nikolai nie gefeit. Ob der Kristall gelungen ist, kann der Physiker erst erkennen, wenn er ihn in den Händen hält, und das ist erst nach dem Abkühlen möglich. Wenn er seine Nachtschicht beendet und er den noch heißen Kristall zurücklässt, weiß er noch nicht, ob seine Arbeit erfolgreich war. Aber böse Überraschungen erlebt Nikolai zum Glück nur selten.In der Nacht zu arbeiten ist für Nikolai normal. Es macht auch keinen großen Unterschied für seine Tätigkeit, zu welcher Tageszeit er arbeitet. Tagsüber geht es zwar ein wenig lebhafter zu im Institut, aber wirklich hektisch ist es eigentlich nie. Und in der Halle, in der die Produktion stattfindet, arbeiten auch tagsüber nicht viel mehr Kollegen als nachts. Ein begeisterter Nachtarbeiter ist Nikolai nicht, er kann der Nacht kaum Vorzüge gegenüber dem Tag abgewinnen. Aber er weiß, dass es sein muss, und erledigt seine nächtliche Pflicht mit stoischer Ruhe. Die Notwendigkeit, in der Nacht zu arbeiten, hat Nikolai in sein Arbeitsleben integriert, auch in sein Privatleben. Seine Ehefrau hat sich genauso daran gewöhnt wie er. Schließlich ist sie auch Wissenschaftlerin, und Nikolai kann auf ihr Verständnis setzen.Aber obwohl die nächtliche Arbeit anstrengende Routine ist, ist sie auch Ausdruck absoluter Einzigartigkeit. Nikolais Herz hängt an diesen Kristallen, die er entwickelt hat und die nur er allein züchtet. Niemand anderer als er kann hier diese Arbeit tun. Hinter der Selbstverständlichkeit, mit der er sich die Nächte um die Ohren schlägt, stecken jahrelange Forschungsarbeiten, eine große Portion Idealismus und jede Menge Enthusiasmus. Wenn Nikolai nachts arbeitet, kann er sich darauf besinnen, dass seine Kristalle grandiose Dinge bewirken können, zum Beispiel helfen sie dabei, die Entstehungsweise der Sterne verstehen zu lernen. Das ist die durchwachten Nächte wert. Auch wenn Nikolai manchmal sogar in seinen Träumen mit den Kristallen kämpft.Nach einer ganz normalen Arbeitsnacht fährt Nikolai zurück nach Marzahn, um sich auszuschlafen. Die Müdigkeit kommt mit Verspätung, ein Jetlag, der Nikolai vertraut geworden ist. Am härtesten ist nicht der Tag nach der Nachtschicht, sondern der nächste. Die durchwachten Nächte stecken tief in den Knochen, die Nacht hinterlässt ihre Spuren am ganzen Körper.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.