Zum wiederholten Mal seit dem Ende des NS-Regimes in Deutschland mussten am gestrigen Mittag Jüdinnen und Juden hierzulande einen grausamen Höhepunkt dessen erleben, was vermeintlich der Vergangenheit angehört: Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hören laut Augenzeugenberichten etwa 70 Betende in einer Hallenser Synagoge einen Knall. Kurz darauf stürmt ein Sicherheitsmann in die religiöse Stätte und verkündet, ein bewaffneter Mann stehe vor der Tür. Die Betenden retten sich in die Küche, verstecken sich, bangen um ihr Leben. Der Attentäter, ausgerüstet mit Stahlhelm und Sturmgewehr, in diesem Moment bereits seine Taten ins Netz streamend, scheitert an der Tür. Eine Passantin wird daraufhin zu seinem ersten Opfer. Ein zweiter Passant überlebt laut aktuellen Berichten nur dank einer Ladehemmung der Waffe. Dann zieht er weiter: Sein Anschlag auf die von ihm verhassten Juden scheiterte, jetzt richtet er seine Mordlust gegen andere Minderheiten. Ein Gast in einem Schnellimbiss wird sein zweites Opfer. Ein mutmaßlicher Täter wurde vom SEK festgenommen. Stephan B., 27 Jahre alt, aus Sachsen-Anhalt.
Dass eine Hallenser Synagoge über eine halbwegs gut verschlossene Holztür verfügte, dass ein Sicherheitsmann schnell und besonnen reagierte und dass der Täter offenbar kein geübter Schütze war, hat deutlich mehr Mordopfer verhindern können. Nichts weiter. Jedes Großbauprojekt war an diesem Mittag besser geschützt als die religiöse Stätte von Jüdinnen und Juden an ihrem wichtigsten Feiertag.
Betroffenheitslyrik und Sprachmagie
Für „nicht mehr vorstellbar“ hielt Bundespräsident Steinmeier die Tat. Zu dieser Einschätzung kann man nur kommen, wenn man die vergangenen Wochen, Monate und Jahre in diesem Land kräftig die Augen verschlossen hat. Anlass für Todesangst haben Jüdinnen und Juden in Deutschland seit Wochen und Monaten genug. Erst zwei Tage zuvor stürmte ein mit einem Messer bewaffneter Mann in eine Berliner Synagoge.
Der Attentäter von Halle ist kein Einzeltäter. Er ist einer von Unzähligen, die sich bereits seit Jahren im Netz zunehmend radikalisieren, ihre Taten dort ankündigen und, wie gestern, auch offenlegen. Es ist kein Verwirrter, der wahllos Amok läuft. Das Video, was der Mörder hochlud, enthält konkret antisemitische, rassistische und antifeministische Äußerungen. Zuvor veröffentlichte er ein antisemitisches Manifest. Der Hass ist für jeden, der sich dem Grauen aussetzen möchte, nachprüfbar. Wer sich von seinen Konsequenzen überrascht zeigt, will ihn nicht sehen, hat ihn nicht sehen wollen. Der ging einer AfD-Rhetorik auf den Leim, die sich fast schon philosemitisch gibt, um dem Islam die Alleinschuld am Antisemitismus in Deutschland in die Schuhe zu schieben – und die doch gleichzeitig antisemitische Denkmuster stark macht, flankiert von den Identitären. Von der rechtsextremen Ideologie des „Großen Austauschs“ zu krudem Antisemitismus ist es nicht weit in der Denkwelt eines Verschwörungstheoretikers, und der Täter von Halle hat diesen Brückenschlag gemacht.
„Wann hört das auf?“, sagte Außenminister Heiko Maas nach den Anschlägen, ganz so, als Läge ein Vorgehen gegen Antisemitismus und Rechtsterrorismus nicht auch in seiner Hand. „Nie wieder!“, kommentierte der Betroffenheitschef von Bild wenige Stunden nach Bekanntwerden der Tat heldenhaft, und erinnert an die Verantwortung der Deutschen nach Auschwitz – „Verpflichtung“, „Schwur“ nennt es Julian Reichelt. In den folgenden Tagen werden wir viel weitere Betroffenheitslyrik und Sprachmagie lesen können, mit der ein antisemitischer Terrorakt zum „Angriff auf uns alle“ umgedeutet wird. Dieser Angriff ist kein Angriff auf uns alle, er stammt aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und richtete sich in erster Linie gegen Juden, in zweiter Linie gegen alles, was nicht deutsch erscheint.
„Nie wieder Verfolgung von Juden in Deutschland, nie wieder Ausländerhass“, schreibt Julian Reichelt auch. Eigentlich lautet die Verpflichtung: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“. Letzterer Schwur bröckelt seit Ende der 90er Jahre. Ersterer Schwur, man mag es kaum aussprechen – aber auch er wird schon länger angegriffen, nicht erst seit dem 9. Oktober in Halle, nicht erst seit 2015, nicht erst seit dem NSU. Erinnert sei etwa an den Brandanschlag auf ein Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde München am 13. Februar 1970, bei den sieben jüdische Bewohner starben (zwei von ihnen Überlebende aus dem Nationalsozialismus). Erinnert sei an 1.083 Vorfälle, die die Datenbank von RIAS, der Meldestelle für antisemitische Vorfälle, allein für das Jahr 2018 in Berlin verzeichnet – 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Nie wieder Faschismus, nie wieder Auschwitz, noch gilt dieses Versprechen, diese Verpflichtung, aber sie gilt nicht einfach so. Nicht als Lippenbekenntnis. Antifaschismus muss erkämpft werden, das ist vielleicht in Vergessenheit geraten.
Was aber bedeutet das? Antifaschismus zu erkämpfen? Was meint Heiko Maas, wenn er bekundet, „wegen Auschwitz in die Politik gegangen“ zu sein? Vielleicht heißt es als allererstes tatsächlich, dafür zu sorgen, dass jüdische Einrichtungen – zumal an Jom Kippur – polizeilich geschützt werden. Diese Forderung wirkt angesichts der dringenden Frage, warum jüdische Einrichtungen in Deutschland überhaupt geschützt werden müssen, warum Jüdinnen und Juden hierzulande nicht sicher leben, nicht ohne Todesangst ihre Religion praktizieren können, so hilflos.
Ein Augenzeuge, der gestern von Berlin nach Halle fuhr, um in der Synagoge zu beten, formulierte es so: „Heute habe ich wirklich erlebt, was es bedeutet, jüdisch zu sein im Jahre 2019.“ Er kann damit nur eines meinen, und dies ist vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland wohl seit langem klar: Dass sie hier nicht sicher sind.
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